Viveka Chudamani – Vers 186

Deutsche Übersetzung:

186. Hinter dem „Ich“ steht die verkörperte individuelle Seele (jiva). Sie ist ohne Anfang, vollbringt alle Taten auf der relativen Ebene. Gemäß früherer Eindrücke und Neigungen (vasana) führt sie gute oder schlechte Handlungen durch, und trägt deren Folgen.

Sanskrit Text:

anādi-kālo’yam ahaṃ-sva-bhāvo
jīvaḥ samasta-vyavahāra-voḍhā |
karoti karmāṇy api pūrva-vāsanaḥ
puṇyāny apuṇyāni ca tat-phalāni || 186 ||

अनादिकालो ऽयमहंस्वभावो
जीवः समस्तव्यवहारवोढा |
करोति कर्माण्यपि पूर्ववासनः
पुण्यान्यपुण्यानि च तत्फलानि || १८६ ||

anadi-kalo’yam aham-sva-bhavo
jivah samasta-vyavahara-vodha |
karoti karmany api purva-vasanah
punyany apunyani cha tat-phalani || 186 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • anādi-kālaḥ : (ist) ohne Anfang (Anadi) und Ende (Kala)
  • ayam : diese (Erkenntnishülle, Ayam)
  • ahaṃ-sva-bhāvaḥ : die natürliche Grundlage  („Natur“, Svabhava) des Ichbewusstseins (Aham)
  • jīvaḥ : die Individualseele (Jiva)
  • samasta-vyavahāra-voḍhā : die sämtliche (Samasta) Aktivitäten (Vyavahara) erfährt („erträgt“, Vodhri)
  • karoti : führt aus (kṛ)
  • karmāṇi : die Handlungen (Karman)
  • api : auch (Api)
  • pūrva-vāsanaḥ : entsprechend ihrer früheren (Purva) Wünsche (Vasana)
  • puṇyāni : gute (Punya)
  • apuṇyāni : schlechte (Apunya)
  • ca : und (Cha)
  • tat-phalāni : (und erfährt*) deren (Tad) Resultate („Früchte“, Phala)     || 186 ||

*Anmerkung: Das Wort „erfährt“ (bhuṅkte) steht am Anfang des nachfolgenden Verses (187).

Kommentar

Die individuelle Seele entsteht durch Identifikation. Sie ist eine Widerspiegelung der ursprünglichen Seele. Man könnte sagen, es verhält sich ähnlich, wie es eine Sonne gibt und die Sonne spiegelt sich in Wellen wieder. Jede Welle ist dann wie die Sonne, eine kleine Sonne. Und das Licht von jeder einzelnen Welle ist zum einen geprägt von der Sonne und zum anderen von der Welle. In einem Teich oder im Meer oder in einem Fluss gibt es jede Menge Wellen.
Genauso wie die Widerspiegelung der Sonne in den Wellen ist auch die individuelle Seele eine Widerspiegelung des Selbst in den Upadhis (in Körper und Psyche). Und so wie die Widerspiegelung der Sonne in einer Welle die Charakteristika der Sonne hat, nämlich Licht und Strahlen, so hat auch die Widerspiegelung des kosmischen Selbst in Körper und Psyche bestimmte Aspekte der Seele des Atman, eben sat, chid und ananda. Atman, das Selbst, ist unbeschränkt (sat) und reines Bewusstsein (chid), und unendliche Freude (ananda). Dieses wird widergespiegelt in einer Welle, also in Körper und Psyche. Es ist weiter sat – Sein, aber kein unendliches Sein mehr, sondern identifiziertes Sein. Nicht mehr „ich bin das unendliche Sein“ sondern „ich bin Körper und Psyche“. Chid – unendliches Bewusstsein, widergespiegelt in Körper und Psyche, ergibt ein begrenztes Bewusstsein, ein begrenztes Erkenntnisvermögen, „Ich als kleines Ich sehe und erkenne“. Ananda – unendliche Freude, widergespiegelt in Körper und Psyche wird dann zu kleinen Sinnesbefriedigungen, kleinen Sinnesfreuden usw.
Also aus dem großen sat chid ananda entsteht eine kleine individuelle Seele. Und das Verrückte dabei: Diese individuelle Seele hat eine solche Eigendynamik, dass sie auch weiter besteht, selbst wenn der Körper wegfällt. Der Astralkörper existiert weiter, die individuelle Seele bleibt weiter in diesem Astralkörper und inkarniert sich wieder in einem nächsten Körper. Und so geht es weiter. Wenn schon eine individuelle Seele da ist, dann ist sie ohne Anfang. Man kann also nicht sagen, wann das universelle Selbst zum individuellen Selbst geworden ist. In dem Moment, wo du als Individuum da bist, scheint es so, als ob du immer schon Individuum warst. Deshalb anadi – ohne Anfang, anadi-kalah – und auch ohne Ende, also ohne eine Zeit die zu Ende geht. Ayam – das ist diese Erkenntnishülle. Ahaṃ-sva-bhāvaḥ – diese Erkenntnishülle ist dann die natürliche Grundlage des Ich-Bewusstseins, und damit der individuellen Seele (jiva).
Und diese scheint jetzt sämtliche (samasta) Aktivitäten (vyavahāra) zu erfahren (vodha). Das Individuum scheint so, als ob es alles erfährt. Und es scheint auch (api) so, als ob es alle Handlungen (karmani) ausführt (karoti) oder auch erfährt. Man könnte auch sagen es erfährt alle früheren Handlungen, also das Karma. Die individuelle Seele erträgt die ganzen Aktivitäten, erfährt das ganze Karma, scheint die verschiedenen Handlungen auch zu tun. Und es erfährt das, was aus früheren Wünschen kommt, pūrva-vāsanaḥ, und auch was aus punyani und apunyani tat-phalani kommt, das heißt die Resultate/Früchte, die aus guten und schlechten Handlungen kommen.
Das Individuum scheint zu existieren. Es scheint Dinge wahrzunehmen, es scheint Dinge zu tun. Und es erfährt zum einen das, was aus Wünschen kommt und zum anderen, was aus Karma kommt. Manches kommt deshalb, weil du es dir gewünscht hast und manches kommt, weil du gehandelt hast, du hast danach gestrebt. Und manches kommt, weil du früher gutes und schlechtes getan hast.
Shankara fasst hier den gesamten Karma-Gedanken zusammen:
Zunächst braucht es ein Individuum. Und das, was du erntest

• ist zum einen das, was du gewünscht hast
• zum zweiten was du durch deine Handlungen direkt erzeugt hast
• zum dritten was die Früchte von gutem und schlechtem Karma sind.

All das erfährst du. Und dann bist du ein kleines Individuum.
Aber bist du wirklich ein kleines Individuum? Nein, bist du nicht. Du bist das unsterbliche Selbst. Durch Identifikation entsteht eine scheinbare individuelle Seele. Aber du bist das nicht. Du bist das unsterbliche Selbst.

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