Viveka Chudamani – Vers 138

Deutsche Übersetzung:

138. Der aus Unwissenheit getäuschte/verblendete Mensch hält ein Ding/eine Sache/ ein Phänomen für etwas, was es nicht ist. Aus fehlendem/mangelndem Unterscheidungsvermögen (viveka) verwechselt er eine Schlange mit einem Seil. Durch diese falsche Vorstellung/Wahrnehmung entstehen Sackgassen/ nicht gewollte Geschichten/irrtümliche Wege (anarthavrata). Höre zu mein Freund, Verhaftung/Anhaftung/ Bindung entsteht, wenn man an dem Nichtselbst festhält (sich damit identifiziert).

Sanskrit Text:

atasmiṃs tad-buddhiḥ prabhavati vimūḍhasya tamasā
vivekābhāvād vai sphurati bhujage rajju-dhiṣaṇā |
tato’nartha-vrāto nipatati samādātur adhikaḥ
tato yo’sad-grāhaḥ sa hi bhavati bandhaḥ śṛṇu sakhe || 138 ||

अतस्मिंस्तद्-बुद्धिः प्रभवति विमूढस्य तमसा
विवेकाभावाद्वै स्फुरति भुजगे रज्जुधिषणा |
ततो ऽनर्थव्रातो निपतति समादातुरधिकः
ततो यो ऽसद्ग्राहः स हि भवति बन्धः शृणु सखे || १३८ ||

atasmins tad-buddhih prabhavati vimudhasya tamasa
vivekabhavad vai sphurati bhujage rajju-dhishana |
tato’nartha-vrato nipatati samadatur adhikah
tato yo’sad-grahah sa hi bhavati bandhah shrinu sakhe || 138 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • atasmin : in Bezug auf etwas, das nicht dieses (Selbst ist, Atad)
  • tad-buddhiḥ : die Überzeugung (Buddhi) es sei dieses (Selbst, Tad)
  • prabhavati : entsteht (pra + bhū )
  • vimūḍhasya : einem verwirrten Menschen (Vimudha)
  • tamasā : durch die (Qualität) Trägheit („Finsternis“, Tamas)
  • vivekābhāvāt : aufgrund des Fehlens (Abhava) von Unterscheidungsfähigkeit (Viveka)
  • vai : freilich (Vai)
  • sphurati : erscheint (sphur)
  • bhujage : in Bezug auf eine Schlange (Bhujaga)
  • rajju-dhiṣaṇā : die Vorstellung (Dhishana) eines Seils (Rajju)
  • tataḥ : davon (Tatas)
  • anartha-vrātaḥ : Menge (Vrata) Unheil (Anartha)
  • nipatati : kommt über (ni + pat)
  • samādātuḥ : den, der sie ergreift (Samadatri)
  • adhikaḥ : ein große (Adhika)
  • tataḥ : deshalb (Tatas)
  • yaḥ : dieses („was“, Yad)
  • asad-grāhaḥ : Festhalten am Unwirklichen (Asadgraha)
  • saḥ : das (Tad)
  • hi : genau (Hi)
  • bhavati : ist (bhū)
  • bandhaḥ : die Gefangenschaft („Bindung“, Bandha)
  • śṛṇu : höre (śru)
  • sakhe : (mein) Freund (Sakhi)     || 138 ||

Kommentar

Wir sind einerseits das unsterbliche Selbst und andererseits haben wir einen Körper. Die Frage ist, warum identifizieren wir uns damit? Das wäre doch gar nicht notwendig.

Angenommen du mietest ein Auto, dann identifizierst du dich nicht damit. Du gibst es später wieder zurück und hast auch kein Problem, das Auto wieder loszulassen. Aber angenommen du kaufst ein Auto, dann kommt langsam Verhaftung daran. Und wenn nach ein paar Jahren dem Auto etwas passiert, dann hast du Probleme. Oder wenn jemand sich lustig macht über dein Auto, dann trifft dich das irgendwie. So ähnlich ist es mit deinem Körper. Du hast ihn so lange du denken kannst. Yogis würden sagen du hast schon viele Körper gehabt, aber du kannst dich nur an diesen einen Körper erinnern. Aber so wenig wie du dein Auto bist – selbst wenn dein Großvater es dir zu deiner Geburt geschenkt hätte und du es gar nicht anders wüsstest als dass es das Auto gibt, trotzdem wärst du nicht das Auto – sowenig bist du auch dieser Körper. Aber du denkst: dies ist mein Körper, und daraus entsteht Identifikation. Daraus entsteht Bindung, daraus entsteht Verhaftung, und aus Verhaftung entsteht Leid.

Und so geht es mit vielem. Du identifizierst dich mit etwas, daraus entsteht Bindung, daraus entstehen mögen und nichtmögen, daraus entsteht Leid. So sagt es Patanjali auch im Yoga Sutra im 2. Kapitel, wo er über die Kleshas spricht. Kleshas sind die Ursachen des Leidens. Und er sagt es beginnt mit AvidyaUnwissenheit. Es geht weiter mit Asmita – Identifikation. Aus Identifikation kommt dann Raga – das bedeutet mögen oder auch Bindung, und Dvesha – das bedeutet Ablehnung bzw. Abneigung. Und daraus entsteht dann AbhiniveshaAngst, im engeren Sinne die Angst vor dem Vergehen, im weiteren Sinn alle Ängste und in noch weiterem Sinn alle möglichen Emotionen.

Es fängt z.B. mit deinem Körper an. Du denkst ich bin das unsterbliche Selbst, aber irgendwann vergisst du es – Avidya. Du identifizierst dich mit dem Körper und denkst `das bin ich`. Daraus entsteht mögen: es möge dem Körper gut gehen, möge der Körper schöne Kleidung haben, mögen andere positiv über meinen Körper sprechen (schöne Haut, schöne Haare, schöne Nase, schöne Körperhaltung usw.). Und dann geht es weiter, dann willst du bestimmte Dinge nicht – Dvesha. Du willst nicht, dass der Körper schmerzt, du willst nicht, dass Krankheiten kommen, du willst nicht, dass andere sagen du bist zu dick, du bist zu dünn, deine Nase ist zu klein, zu groß. Und du hast Abhinivesha – im engeren Sinne Angst vor dem Tod. Der Körper vergeht irgendwann. Und wenn du dich mit dem Körper identifizierst, dann weißt du der Körper vergeht. Aus der Angst vor dem Tod entstehen alle möglichen weiteren Dinge.

Es gibt auch noch andere Identifikationen.

Du kannst dich z.B. mit deiner Arbeitsstelle identifizieren. Du hast einen tollen Posten, denkst ich bin jetzt der Projektleiter, der beste Projektleiter in der Firma. Du hast also erstmal vergessen, dass du das unsterbliche Selbst bist. Und das du einfach einen Job hast. Du identifizierst dich damit. Die Arbeitgeber lieben es, wenn die Arbeitnehmer sich mit dem Job identifizieren. Du magst, dass andere dich für deine Arbeit loben: „wow was du alles leistest, wie großartig du bist“. Und du magst natürlich nicht nur Anerkennung sondern auch eine gewisse Belohnung – Raga.

Du hast aber auch Abneigungen. Wehe wenn jemand anders diesen Job bekäme. Wehe du merkst jemand anders ist besser als du. Oder der Chef lobt jemand anderen mehr als dich – Dvesha. Und dann kommt auch Abhinivesha – Furcht vor dem Vergehen. Das Projekt kann zu Ende gehen, jemand anders kann deinen Job bekommen, die Firma kann Pleite gehen. Es kann dir ein Unfall passieren und du kannst die Arbeit nicht mehr machen. Du könntest psychisch erkranken. Deine Frau könnte schwer erkranken, so dass du nicht mehr genügend Zeit hättest. Dein Mann mag vielleicht umziehen wollen… Angst vor dem Vergehen.

Du kannst dich auch identifizieren mit deiner Klugheit. Zuerst vergisst du,  dass du das unsterbliche Selbst bist (Avidya). Dann folgt Asmita – du identifizierst dich als jemand klugen, mit einem großen Intellekt, einem klaren Geist – Identifikation. Du magst natürlich, dass du deinen Intellekt auch einsetzen kannst, dass du brillieren kannst. Dass du einen Job hast, mit dem tatsächlich zeigen kannst, wie klug du bist. Und willst natürlich auch dafür gelobt werden. Du willst natürlich auch nicht etwas oder zu viel tun, was banal und stupide ist. Du willst deinen Intellekt zeigen und beweisen. Daraus folgt Dvesha – du magst es nicht, stupide Arbeit zu machen. Du magst auch keine stupide Konversation oder Smalltalk. Du möchtest intelligente Gespräche führen. Du magst auch nicht mit Menschen umgehen, die vielleicht zu emotional sind, oder die Dinge nicht einsehen können, die lange brauchen um etwas zu verstehen. Im Lauf des Lebens kann es aber sein, dass deine intellektuellen Fähigkeiten abnehmen. Du spürst Abhinivesha – die Furcht vor dem Vergehen. Du merkst, es gibt andere die klüger sind als du. Vielleicht entdeckst du plötzlich, dass du etwas vergisst, dass dein Gedächtnis nicht mehr so klar ist, dass du Dinge nicht mehr so klar verstehst, dass es jüngere Menschen gibt, die schneller denken als du. Und dann siehst du jemanden, deinen Vater oder deine Mutter oder einen Onkel vielleicht, die Demenz haben. Was wirst du sein, wenn du deine Fähigkeiten verlierst?

Und so kommt alles Leiden, Patanjali nennt es Klesha, aus

  • Avidya – Nichtwissen
  • Asmita – Identifikation
  • Raga und Dvesha – Mögen/ Verhaftung und Nichtmögen /Ablehnung, und schließlich
  • Abhinivesha – die Angst /Furcht vor dem Vergehen.

Jetzt überlege selbst: Womit identifizierst du dich? Was sind deine Verhaftungen? Wo kommt daraus Mögen und Nichtmögen? Und wo ist Angst vor dem Vergehen. Im Grunde genommen, wann immer du leidest, ist auch eine Identifikation. Ohne Identifikation gibt es nicht wirklich Leiden. Daher werde dir bewusst, wo sind deine Identifikationen. Wenn du an irgendetwas leidest überlege woher kommt das Leiden – nicht im Sinne wer hat es mir zugefügt und was ist mit Mutter und Vater und Kindheit – sonders wo ist die Identifikation? Wo ist das Nichtwissen? Welche Wünsche habe ich? Welche Ablehnungen habe ich? Welche Ängste entstehen daraus? Und dann gehe zu deinem wahren Selbst. Schaue alles mitfühlend an und sei dir bewusst: Sat chit ananda svarupaham. Was auch immer geschieht, in der Tiefe meines Wesens bin ich reines Selbst – Sein Wissen und Glückseligkeit.

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