Viveka Chudamani – Vers 145

Deutsche Übersetzung:

145. Samsara, der Kreislauf der Wiedergeburt, das Rad des wiederholten Erdenlebens ist wie ein Baum: die Unwissenheit ist dessen Same, die Vorstellung, der Körper sei das Selbst entspricht dem Keimling, Begierden sind die Knospen, Taten das Wasser, der Körper ist der Stamm, die Lebenskräfte bilden die Äste, die Sinne die Zweige und die Sinnesobjekte die Blüten. Vielfaches Leid – entstanden aus karmischen Taten – ist die Frucht. Jiva, die (individuelle) Seele ist wie der Vogel auf dem Baum, der die Frucht isst.

Sanskrit Text:

bījaṃ saṃsṛti-bhūmijasya tu tamo dehātma-dhīr aṅkuro
rāgaḥ pallavam ambu karma tu vapuḥ skandho’savaḥ śākhikāḥ |
agrāṇīndriya-saṃhatiś ca viṣayāḥ puṣpāṇi duḥkhaṃ phalaṃ
nānā-karma-samudbhavaṃ bahu-vidhaṃ bhoktātra jīvaḥ khagaḥ || 145 ||

बीजं संसृतिभूमिजस्य तु तमो देहात्मधीरंकुरो
रागः पल्लवमम्बु कर्म तु वपुः स्कन्धोऽसवः शाखिकाः |
अग्राणीन्द्रियसंहतिश्च विषयाः पुष्पाणि दुःखं फलं
नानाकर्मसमुद्भवं बहुविधं भोक्तात्र जीवः खगः || १४५ ||

bijam samsriti-bhumijasya tu tamo dehatma-dhir ankuro
ragah pallavam ambu karma tu vapuh skandho’savah shakhikah |
agranindriya-samhatish cha vishayah pushpani duhkham phalam
nana-karma-samudbhavam bahuvidham bhoktatra jivah khagah || 145 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bījam : (ist) der Same (Bija)
  • saṃsṛti-bhūmijasya : des Daseinswandel-Baumes (SamsritiBhumija)
  • tu : aber (Tu)
  • tamaḥ : die Unwissenheit („Finsternis“, Tamas)
  • dehātma-dhīḥ : die Überzeugung (Dhi), der Körper (Deha) sei das Selbst (Atman)
  • aṅkuraḥ : (ist) der Keimling, Schößling (Ankura)
  • rāgaḥ : die Leidenschaften („Leidenschaft“, Raga)
  • pallavam : (sind) die ersten) zarten Blätter (Trieb, Pallava)
  • ambu : (sind) das Wasser (Ambu)
  • karma : die Handlungen („Handlung“, Karman)
  • tu : wiederum (Tu)
  • vapuḥ : der Körper (Vapus)
  • skandhaḥ : (ist) der Stamm (Skandha)
  • asavaḥ : die Lebenskräfte (Asu)
  • śākhikāḥ : (sind) die Äste („Ästchen“, Shakhika)
  • agrāṇi : (sind) die Zweige („Spitzen“, Agra)
  • indriya-saṃhatiḥ : die Gesamtheit („Menge“, Samhati) der Sinne (Indriya)
  • ca : und (Cha)
  • viṣayāḥ : die Sinnesobjekte (Vishaya)
  • puṣpāṇi : (sind) die Blüten (Pushpa)
  • duḥkham : Leid (Duhkha)
  • phalam : (ist) die Frucht (Phala)
  • nānā-karma-samudbhavam : dessen Ursprung (Samudbhava) in mannichfachen (Nana) Handlungen (Karman) liegt
  • bahu-vidham : vielfältiges (Bahuvidha)
  • bhoktā : der Genießer (der Früchte, Bhoktri)
  • atra : auf diesem (Baum, Atra)
  • jīvaḥ : die Individualseele (Jiva)
  • khagaḥ : (ist) ein Vogel (Khaga)     || 145 ||

Kommentar

Hier greift Shankara ein Beispiel von Krishna auf. In der Bhagavad Gita hat Krishna über den Ashvattha-Baum, dem kosmischen Feigenbaum, gesprochen, und er hat gesagt: Die ganze Welt ist wie dieser Baum.
Und so ähnlich baut es jetzt hier Shankara aus, nur noch erheblich weiter. Wo fängt das Ganze an – Samsara, Kreislauf von Geburt und Tod?
Shankara sagt in einem anderen Lehrgedicht: Wieder wurdest du geboren, wieder wirst du älter, wieder wirst du sterben. Wieder wirst du geboren, wieder wächst du auf, wieder wirst du älter, wieder wirst du sterben. Jeder Mensch, den du siehst, war schon mal dein Vater, war schon mal deine Mutter. Jeder Mensch, den du siehst, war schon mal dein Kind, dein Bruder, deine Schwester, dein Nachbar. Genug, genug. Wann hast du genug davon, dich immer wieder neu zu inkarnieren, mit den gleichen Menschen in unterschiedlichen Kontexten? Wache auf, wache auf – erkenne dein wahres Selbst.
Das ist ein interessanter Gedanke. Du könntest vielleicht, wenn du heute oder morgen mit Menschen zusammen bist, innerlich sagen: Ja, Mami, Papi – nicht laut sagen, sondern innerlich. Du kannst dir bewusst machen, wenn wir von Millionen von Inkarnationen sprechen, dann gibt es auch die gleichen Menschen, mit denen du wieder und wieder geboren wirst. Du magst dich jetzt identifizieren mit deinen Kindern, mit deinem Partner, deiner Partnerin, mit deinen Eltern. Du wirst sagen: mein Kind. Meine Mutter – die leidet so sehr. Mein Vater – unglaublich. Oder: meine Geschwister, mein Bruder, meine Schwester… usw. Du kannst dich identifizieren, du kannst dich darüber ärgern, du kannst dich freuen, du kannst leiden, usw.
Aber mache dir bewusst: Wer heute deine Mutter ist, war vielleicht in deinem früheren Leben deine Tante. Wer heute dein Kind ist, war vielleicht im früheren Leben dein Nachbar. Oder ihr wart zusammen irgendwo bei einem Guru in der Lehre, und ihr wart Gurubhais, die Schüler desselben Lehrers. Die sozialen Konstellationen dieses Mal sind das nächste Mal anders.
Heute gibt es natürlich das Ideal der romantischen Liebe, und viele sprechen von Dualseelen, Zwillingsseelen – man inkarniert sich immer wieder gemeinsam, bis man dann gemeinsam die Gottverwirklichung erreicht. Vereinzelt mag es vielleicht so etwas auch geben, aber die indischen Schriften gehen eher davon aus, dass sich der gleiche Mensch mit ähnlichen anderen Jivas inkarniert, aber in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Und so, wenn du diesen Gedanken fortführst, hast du vielleicht weniger Identifikation mit deinen Kindern, mit deinen Eltern, mit deinem Partner.
Natürlich ist die Liebe zu einem Partner, zu einem Kind und zu deinen Eltern immer etwas Spezielles. Das gilt auch in diesem Leben. Aber dein Partner, deine Partnerin, deine Eltern, dein Kind, deine Geschwister, deine Yogaschüler, dein Guru – all diese haben ihr eigenes Karma. Sie sind wiedergeboren und wiedergeboren und wiedergeboren…
In diesem Leben seid ihr in diesem Kontext. Im vorigen Leben wart ihr in einem anderen. Oder vielleicht wart ihr im vorigen Leben auch gar nicht zusammen – vielleicht war deine Frau mit einem Eskimo in Grönland verheiratet. Und vielleicht warst du irgendwo anders ein Mönch. So viele Möglichkeiten. Identifiziere dich nicht so sehr damit.
Der Kreislauf von Geburt geht immer weiter. Es sei denn, du steigst aus, so wie Krishna sagt: Fälle diesen Ashvattha-Baum. Das klingt jetzt brutal, aber es heißt im Wesentlichen: Geh weg von diesem ganzen Baum von Geburt und Tod.
Wie Shankara hier sagt: Unwissenheit ist der Same. Die Vorstellung, der Körper sei das Selbst, ist der Keimling. So wird der Baum langsam größer. Dann gibt es die Begierden, die Knospen. Dann das Karma und die Taten, das ist das Wasser. Und dann kommt dieser Körper, und das ist dann der Stamm. Und dann kommt die Identifikation mit den Lebenskräften, und das sind die Äste. Und dann kommen die ganzen Sinne, und das sind die Zweige, und die Sinnesobjekte sind die Blüten.
Und dann sagt er: Vielfältiges Leid entsteht in dieser Welt, so viel Leid. Sei dir bewusst: Alles, was einen Anfang hat, hat ein Ende – und immer wieder gibt es Leid.
Es gibt einen Weg aus dem Leid heraus. Überwinde die Identifikation, überwinde die Wünsche. Überwinde die Unwissenheit. Dann hast du den gesamten Baum mit all seinen Auswirkungen überwunden. Du erkennst: Aham Brahmasmi. Ich bin das unsterbliche Selbst.

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