3. Kapitel, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Dieses Mahamudra wurde wahrlich von den vervollkomneten Meistern (Siddhas) aufgezeigt. | Es zerstört die großen Bürden (Klesha) und so weiter, Imbalancen (Dosha), der Tod und so weiter. | – Und aus diesem Grund nennen es die besten der vervollkomneten Meister wahrlich das großartige Siegel, Maha Mudra.

Sanskrit Text:

  • mahā-kleśādayo doṣāḥ kṣīyante maraṇādayaḥ |
    mahā-mudrāṁ ca tenaiva vadanti vibudhottamāḥ ||14||
  • महाक्लेशादयो दोषाः क्षीयन्ते मरणादयः ।
    महामुद्रां च तेनैव वदन्ति विबुधोत्तमाः ॥१४॥
  • maha kleshadayo doshah kshiyante maranadayah |
    maha mudram cha tenaiva vadanti vibudhottamah ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • mahā-kleśa* : (wie die fünf) großen (Maha) Leiden (Klesha)
  • ādayaḥ : und andere, usw. (Adi)
  • doṣāḥ : Übelstände (Dosha)
  • kṣīyante : hören auf, werden Zunichte (kṣi)
  • maraṇa : (der) Tod (Marana)
  • ādayaḥ : und andere, usw.
  • mahā-mudrāṁ : Maha Mudra  (das “große Siegel”, da es alle Leiden „besiegelt“)
  • ca : und (Cha)
  • tena : aus diesem (Grunde, Tad)
  • eva : genau (Eva)
  • vadanti : nennen (es, vad)
  • vibudha : (der) Weisen (Vibudha)
  • uttamāḥ : (die) Besten (Uttama)         ||14||

*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda zählt die fünf Kleshas auf (vgl. Yogasutra 2.3): Avidya, Asmita, Raga, Dvesha und Abhinivesha.

Kommentare – Audio – Video

Brahmananda

14. Dieses Maha Mudra besiegt den Tod und so schmerzvolle Faktoren wie die großen Kleshas. Wie es schon von den großen Siddhas überliefert wurde, wird es wegen seiner großartigen Wirkung Maha Mudra oder das große Mudra genannt.

Die Kleshas sind fünf an der Zahl, nämlich Avidya (Unwissenheit), Asmita (Egoismus), Raga (Anziehung), Dvesha (Abstoßung) und Abhinivesa (Anklammern an das Leben). Das Maha Mudra wird deshalb so genannt, weil es alle Schmerzen besiegelt (Mudra).

Vishnu-devananda

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Sukadev

14. Dieses Maha Mudra besiegt den Tod und so schmerzvolle Faktoren wie die großen Kleshas. Wie es schon von den großen Siddhas überliefert wurde, wird es wegen seiner großartigen Wirkung Maha Mudra oder das große Mudra genannt.

Kleshas, die Ursachen des Leidens, die Patanjali im zwoten Kapitel des Yoga-Sutra erklärt. Das sind Avidya – Unwissenheit, Asmita – Ego, Raga heißt Mögen, Dvesha heißt Nichtmögen, Abinivesha heißt Furcht. Das heißt im engeren Sinne Furcht vor dem Tod, im weiteren Sinne Furcht vor egal was. Und das Mahamudra will also alle Schmerzen beseitigen. Man kann den Erfolg der Hatha-Yoga-Praxis daran messen, wie sehr man von den Kleshas befreit ist. Wenn jemand sehr viele Ängste und Fürchte hat, dann ist das ein Zeichen, dass man noch viel weiter üben muss. Wenn man viel Raga und Dvesha hat, ist das ein Zeichen, man muss noch viel üben. Raga heißt Mögen, Dvesha heißt Nichtmögen. Und Menschen mögen Einiges und mögen Einiges nicht. Mache mögen, dass die Sonne scheint und mögen nicht, dass es regnet. Und wenn die Sonne eine Weile scheint, mag man nicht mehr, dass die Sonne scheint, sondern will Regen. So ist der menschliche Geist: Er mag meistens das, was er nicht hat. Denn das Gras auf Nachbars Weide ist immer grüner. Das ist auch schon bei den Pferden so, nicht nur bei den Menschen. Das ist tatsächlich so: Wenn’s eine Weide gibt, vor der Erfindung des Elektrozauns, die Pferde haben zuerst versucht, die Köpfe durch den Weidenzaun hindurch zu winden, um auf der Weide nebendran zu grasen. Heute geht das nimmer, weil der Elektrozaun, das ist den Pferden ungeheuerlich, das wollen sie nicht, aber bei Holzzäunen wird als erstes neben dem Holzzaun gegrast. Das ist also eine uralte Sache. Gut. Und mache mögen viel Pranayama, und manche mögen etwas weniger Pranayama. Die Einen finden, dass der Yogalehrer immer nur eine ruhige Stimme haben soll, die anderen finden, der soll ’n bisschen fordernd sein. Die einen finden, dass das Essen so sein soll, die anderen finden, das Essen soll so sein. Und wenn das Essen immer so ist, wie man’s gern hätte, dann wird’s langweilig. So ist der Mensch. Und Raga / Dvesha heißt, die kleinen Wechselfälle des Lebens sind uns eigentlich relativ egal. Das heißt, von Raga / Dvesha frei zu werden. Das ist ein Zeichen, dass wir auf dem spirituellen Weg Fortschritte machen.

Es gibt, wie ich gerne erwähne, bei vielen Menschen, und wahrscheinlich insbesondere bei Frauen, so ein bestimmtes Phänomen: Sie haben sich Jahre um die Familie gekümmert, alles zurückgestellt. Jetzt machen sie Yoga und plötzlich fangen sie an, jede Menge von Raga und Dvesha zu haben. Vorher haben sie sich um Mögen und Nichtmögen gar nicht gekümmert, waren immer freundlich und liebevoll zu allen. Mindestens waren sie der Meinung, dass sie das waren. Und dann kommt Yoga. Ich kann nur davon sprechen, was Frauen mir erzählen. Ich bin, ich geh ja nicht in die Familien, um dann festzustellen: War das so? Sondern die sagen’s mir. Und dann sagen sie: „Jetzt bin ich dran.“ Jetzt machen sie Yoga, kriegen mehr Selbstbewusstsein, erfahren mehr ihre Wünsche, und das ist ein natürlicher Entwicklungsschritt. Dass man aus dem reinen Aufopfern für die Familie erst mal mehr lernt, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, und das ist ein Zwischenschritt. Und dann kommt der nächste Schritt. Dann lernt man, was die tieferen Bedürfnisse sind, die der Swarupa entsprechen, und hört auf, auf seine eigenen, kleinen Mögen und Nichtmögen zu hören. Aber es gibt oft den Zwischenschritt, dass man erst die eigenen Bedürfnisse kennenlernt, um sie überhaupt dann transzendieren zu können. Oder es gibt Menschen, die haben sich überhaupt nie getraut, ihre Bedürfnisse zu leben, und dann ertränken sie sie mit Alkohol oder betäuben sie mit Marihuana und Haschisch und so weiter, oder mit Schokolade, oder mit was auch immer es sein mag. So ist es durchaus ein gewisser Schritt, dass man erstmal sein Raga / Dvesha kennenlernt. Für manche Menschen, nicht für alle. Es gibt Menschen, die haben von Geburt an wenig Mögen / Nichtmögen: Ob’s jetzt warm oder kalt ist, ob die Kleidung grün oder rot ist, ob das Bett weich oder hart ist, ob das Zimmer kleiner oder größer ist, ob die Menschen einen beachten oder weniger beachten, ist reichlich witzlos. Also wenn ihr schon diese Erfahrung habt – manche denken dann, sie müssten mal zum Psychologen gehen, weil sie denken, dass das unnormal ist – dann freut euch. Raga / Dvesha habt ihr dann schon überwunden. Jetzt müsst ihr nur noch aufpassen, dass ihr euch nichts drauf einbildet. Denn dann kommt das Ego und sagt: „Ich bin jenseits von Raga / Dvesha, deshalb ich bin besser als alle anderen. Mindestens zwei Bhumikas weiter.“ Und dann stellt man fest: Plötzlich gibt’s doch irgendwelches Raga / Dvesha. Gut.

Also wir können parallel daran arbeiten, frei zu werden von Raga / Dvesha. Dafür gibt’s ja den wunderschönen Ausdruck Tapas, jetzt im Sinne von Askese: Bewusst Dinge tun, die man nicht mag, und Santhosha, Zufriedenheit: Nicht Dingen nachzulaufen, die man mag. Dann lernt man, kein Sklave mehr zu sein von Raga / Dvesha, und dann kann man spielerisch damit umgehen. Ein gewisses Raga / Dvesha haben dann doch die meisten Menschen. Fast jeder Meister, den ich kannte, hat irgend eine Lieblingsspeise gehabt. Aber die hängen dann auch nicht so dran. Ich kann mich an einmal erinnern, der Swami Vishnu kam nach Paris, und seine Sekretärin hat uns eine, hat uns angerufen und hat gesagt: „Swamiji would like to have Vadas, Idlis and Samba.“ Gut, der Mitarbeiter am Telefon hat das auch aufgeschrieben, und dann kam er dann zu mir und sagte: „Swamiji wants like to have Vadas, Idlis and Samba.“ Was würdet ihr sagen, wenn jemand kommt und will Vadas, Idlis and Samba? Mir ging’s genauso. Ich wusste weder was Vada ist, noch was Idli ist noch was Samba ist, ich hatte nicht die geringste Ahnung. Also habe ich jemand angerufen, der sich mit indischer Küche auskennt, und der hat gesagt: Hab ich noch nie gehört. Der hat nämlich nordindische Küche gelernt, Bengali. Aus der Hare-Krishna-Bewegung war der gewesen. Der hatte davon nichts gehört. Dann hab ich die indischen Restaurants durchtelefoniert. Und irgendwie ist es uns gelungen, Idlis und Samba aufzutreiben – ist kaum zu erklären. Idlis bestehen aus Reismehl, dann irgendwie über Nacht eingeweicht, dann in kochendem Wasser gekocht, und das Vada ist irgendwie frittiert, und Samba ist irgendwie so wie Dal, nur flüssiger, nur schärfer. Und da jetzt keiner wusste, wie man dass macht, und sie hat gesagt: Das kann man auch nicht einfach so machen, dazu braucht man spezielle Gerätschaften.“ Da haben wir es im Restaurant bestellt, und dann kam es an und da hatte es Zwiebeln gehabt. Gut, jedenfalls haben wir den Swami Vishnu abgeholt. Wir haben noch nicht gewusst, dass da Zwiebeln dran sind. W sind also dorthin gegangen, haben ihm das stolz gezeigt, und haben nicht so genau hingeschaut. Und dann hat Swami Vishnu das angeguckt und hat gesagt: „I think, there is onions.“ Und dann hat er gesagt: “Never mind, just give me anything to eat.” Er sagte: „Spielt keine Rolle, gebt mir irgendwas zu essen.“ Dann haben wir ihm halt ein Käse-Sandwich gekauft, und es hat dann auch sehr gut geschmeckt. Also er hat anscheinend den Wunsch geäußert, dass er das will, aber ob er ’s jetzt kriegt, war ihm ziemlich egal. Und es galt nicht nur bei diesen Dingen.

Also, wir müssen lernen, über unsere Raga / Dvesha hinauszugehen. Und unsere Asanapraxis wird uns zunächst mal unsere Bedürfnisse klarer zeigen, wird uns sensibler machen gegenüber unseren eigenen Bedürfnissen, wird uns auch Mut geben, sie durchzusetzen. Aber dann der nächste Schritt muss dahin gehen, dass wir von oberflächlichem Mögen / Nichtmögen frei werden, vom Ego frei werden und von Avidya. Und das ist auch so was wie der Lakmus-Test. Wisst ihr, was Lakmus ist? Lakmus-Papier, das legt man in eine Flüssigkeit, und wenn sie sich rot färbt, ist es eine Säure, und wenn sie sich blau färbt, ist es basisch. Und so ähnlich ist es, wenn wir mal was nicht bekommen, was wir wollen, und unser Gesicht sich rot färbt, dann ist das ein Zeichen, dass wir sauer sind, und wenn unser Gesicht sich blau färbt und wir deprimiert bleiben, ist es auch nicht richtig. Raga- / Dvesha – frei ist es, wenn’s neutral bleibt. Wenn man ärgerlich wird, weil man nicht bekommen hat, was man so will, weil seine kleinen Wünschlein nicht erfüllt worden sind, ist das ein Zeichen für geistige Schwäche. Manchmal wird man rot, wenn man kriegt, was man will. Gut.

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