Kapitel 3, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Dharana ist das Fixieren des Geistes auf eine Stelle.

Sanskrit Text:

deśa-bandhaḥ cittasya dhāra.ā ||1||

देशबन्धः चित्तस्य धार.आ ॥१॥

desha bandhah chittasya dhara‘ ||1||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • deśa = Ort, Stelle, Objekt, Thema
  • bandha = Bindung, Verschluss, Fixieren
  • cittasya = alles Wandelbare / Vergängliche des Menschen, Verstand, Geist
  • dhāraṇā = Konzentration

Kapitel 3, Vers 2

Deutsche Übersetzung:

Bilden die Bewußtseinsinhalte einen ununterbrochenen Strom, so ist dies dhyana (Meditation).

Sanskrit Text:

tatra pratyaya-ikatānatā dhyānam ||2||

तत्र प्रत्ययैकतानता ध्यानम् ॥२॥

tatra pratyaya ikatanata dhyanam ||2||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tatra = dort, dann
  • pratyaya = Bewusstseinsinhalt, Vorstellung, Gedanke
  • eka = eins
  • tāna = wandern, fließen
  • ekatānata = als Eines fließend
  • dhyāna = Meditation, Kontemplation

Kommentar

Wenn die Konzentration ungebrochen wird, dann ist es dhyana. Dhyana ist volle Konzentration auf ein Objekt, vollständige Absorption, so daß man ganz in dieser Konzentration aufgeht.

Es ist schwierig, das Wort dhyana zu übersetzen. Meist wird es als Meditation übersetzt. Nur – Meditation ist ja in der ursprünglichen Bedeutung etwas anderes. Es kommt vom Lateinischen und bedeutet Nachdenken. Als Descartes im 17. Jahrhundert seine „Meditationes“ schrieb, hat er keine Meditationstechniken beschrieben, sondern tiefes Nachdenken über bestimmte Themen. Wenn wir dagegen heute sagen, ich meditiere jetzt eine halbe Stunde, dann ist damit gemeint, wir setzen uns hin (asana), regulieren den Atem (pranayama), ziehen die Sinne nach innen zurück (pratyahara) und konzentrieren uns auf etwas (dharana). Ob wir wirklich den dhyana-Zustand erreichen oder nicht, können wir im voraus nie genau sagen. Dhyana ist, wenn die Konzentration anstrengungslos ist. Wenn man zum Beispiel in der Meditation das mantra „Om Namah Shivaya“ wiederholt und sich dabei bemühen muß, die Konzentration bei der Mantrawiederholung zu halten, weil der Geist wegwandert und man ihn immer wieder zurückholen muß, dann ist das dharana. Ist der Geist vollkommen konzentriert, und ist man total absorbiert in der Meditation und wiederholt „Om Namah Shivaya“, nicht mit absichtlicher Konzentration, sondern es wiederholt sich von selbst und man ist ganz verschmolzen darin, dann ist es dhyana.

Dieses dhyana kann sogar außerhalb von reiner Meditation passieren. Das haben wir im Rahmen des ersten Aphorismus des zweiten Kapitels im Zusammenhang mit den fünf Zustandsformen des Geistes besprochen: mudha, kshipta, vikshipta, ekagrata und nirodhah. Ekagrata, Einpünktigkeit des Geistes, entspricht in der niederen Ausprägung dhyana, in der oberen Stufe samprajnata samadhi.

Wenn man ganz konzentriert ist, auch im täglichen Handeln, ist auch das dhyana. Es ist das, was in der modernen Glücksforschung als Flow-Erlebnis bezeichnet wird: Man fließt mit der Sache, man handelt nicht, sondern es handelt durch einen hindurch. Das sind die Momente, wo der Mensch das Außergewöhnlichste leistet, sich vollkommen losgelöst und frei fühlt. Der Tennisspieler Boris Becker hat in einem Interview einmal beschrieben, was während seiner besten Spiele in ihm abläuft: Er denkt nicht mehr, macht nichts mehr bewußt, es geschieht einfach. Das ist eine perfekte Beschreibung von dhyana.

Dharana gibt es in zweierlei Formen: die angestrengte und die entspannte Konzentration. Wenn wir unter Zeitdruck stehen und etwas unbedingt in der nächsten halben Stunde fertig haben müssen, dann ist es die angestrengte Konzentration. Wenn wir in den Yogastunden entspannt sind oder uns mit unserem Hobby beschäftigen, dann ist es die entspannte Konzentration. Die entspannte Konzentration kann zu dhyana führen und einen richtig beleben. Die angespannte Konzentration kann zwar auch effektiv sein, aber sie führt zu Müdigkeit.

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Kapitel 3, Vers 3

Deutsche Übersetzung:

Wenn nur die eigentliche Bedeutung (des Meditationsgegenstandes) frei von Subjektivität erstrahlt, so ist dies samadhi.

Sanskrit Text:

tadeva-artha-mātra-nirbhāsaṁ svarūpa-śūnyam-iva-samādhiḥ ||3||

तदेवार्थमात्रनिर्भासं स्वरूपशून्यमिवसमाधिः ॥३॥

tadeva artha matra nirbhasam svarupa shunyam iva samadhih ||3||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = so, dort, daher, nun
  • eva = genauso, tatsächlich
  • tadeva = genau dann
  • artha = Sinn, Bedeutung, Objekt, Thema
  • mātra = nur, alleine
  • nirbhāsaṁ = leuchtend, strahlt
  • svarūpa = eigene Form, eigene Natur, Persönlichkeit, Subjektivität, das Chitta
  • sūnya = leer
  • iva = als ob
  • samādhi = Samadhi, Erleuchtung, überbewusster Zustand, vollkommene Erkenntnis

Kommentar

Das ist die Beschreibung von samprajnata samadhi. Eine noch höhere Stufe wäre asamprajnata samadhi, der dem nirodha-Zustand entspricht: vollkommene Gedankenstille, kein Gedanke mehr im Geist. Das ist das Ziel des Yoga. Darauf kommt Patanjali gegen Ende dieses Kapitels noch zu sprechen. Im 2. und 3. Vers des 1. Kapitels heißt es ja bereits: „Yogash chitta vritti nirodhah“ – „Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist“ und „Tadâ drashtuh svarûpe ‚vasthânam“ – „Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen“.

Aber bevor wir dorthin gelangen, kommen wir durch verschiedene andere Zustände. Es reicht nicht aus, dem Geist zu befehlen: „Jetzt höre auf zu denken!“ Das klappt nicht. Manche Menschen schaffen es zwar, ihre Wortgedanken auszuschalten, und glauben dann, sie dächten an nichts. Das ist aber nicht wirklich asamprajnata samadhi; sie sind nicht selbstverwirklicht. Wenn sie es wären, würde man das auch sonst an ihrem Verhalten merken. Ein Selbstverwirklichter ist schwer zu übersehen. Wenn man ihn anbrüllt, macht ihm das nichts aus. Wenn er sich den Fuß bricht, auch nicht. Wenn er einen Tag nichts zu essen hat, auch nicht. Wenn er jemanden sieht, dem es schlecht geht, dann wird er in Mitgefühl zerfließen und ihm alles geben, was er kann und hat. Manchen Menschen gelingt es, ihre Wortgedanken zur Ruhe zu bringen, dann sind aber immer noch Bilder und Gefühle da. Und manchen gelingt es, Worte und Bilder zur Ruhe zu bringen, aber dann haben sie alle möglichen Gefühle.

Wie im Kommentar zu I 5 gesagt, gibt es drei Grundbestandteile von Gedanken: Worte, Bilder und Gefühle, die normalerweise zusammenspielen. Darüber hinaus gibt es aber noch einen vierten Bestandteil der Gedanken, und das ist die eigentliche Bedeutung. Normalerweise gehören alle drei oben erwähnten Bestandteile dazu, um eine Bedeutung zu erfahren. Wenn ich zum Beispiel „Uhr“ sage, was siehst du dann vor dem geistigen Auge? –Irgendeine Uhr: ein Zifferblatt, eine Armbanduhr, einen Wecker, eine Bahnhofsuhr, meinetwegen auch eine Standuhr oder eine Kuckucksuhr. Und mit dieser Vorstellung ist eine bestimmte Emotion verbunden. Jeder Gedanke beinhaltet eine Emotion. Außer in samprajnata samadhi gibt es keinen Gedanken ohne Emotion. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage: „Handgranate“, dann löst das eine andere Emotion aus als „Uhr“ oder „Sonnenuntergang“. Wenn man etwas einmal gesehen hat und hört dann das Wort dafür, entsteht das Bild des Gegenstandes vor dem geistigen Auge, und es ist auch eine Emotion damit verbunden.

Was in samprajnata samadhi passiert, ist, daß das Bewußtsein von Subjekt und Objekt verschwindet, nur die reine Bedeutung bleibt. Wort, Bild und Gefühl verschwinden. Kannst du dir darunter etwas vorstellen? Ich hoffe nicht, denn man kann sich eigentlich nichts darunter vorstellen. Aber wahrscheinlich hast du eine Ahnung davon, was damit gemeint sein könnte. Es kann zum Beispiel passieren, wenn man in der Meditation ein mantra wiederholt. Wenn man sich um Konzentration bemüht, ist es dharana. Wenn man in das mantra absorbiert sind, ist es dhyana. Wenn plötzlich das mantra aufhört und vielleicht ein Bild da ist, ist das der Übergang von dhyana zu samprajnata samadhi. In dem Moment kann man eine Vision Gottes haben, oder es können Bilder entstehen. Nicht jedes Bild oder jede innere Vision muß ein Zeichen für diesen Übergang sein, aber es kann so sein. Und wenn dann plötzlich das Wort verschwindet, auch das Bild verschwindet und kein konkretes Gefühl mehr da ist, man aber in der Essenz des mantras drin ist, dann hat man samprajnata samadhi erreicht. Dann existiert auch nicht mehr die Vorstellung oder das Bewußtsein: „Ich wiederhole das mantra“ oder „Ich will das mantra wiederholen“, es gibt noch nicht einmal das Gefühl: „Da ist ein mantra“, sondern man verschmilzt mit der Essenz der Bedeutung des mantras.

In der mantra-Theorie finden wir das in ähnlicher Form beschrieben. Dort gibt es vier verschiedene Ebenen von mantras:

  • para                    =            wenn man in die Essenz hineingeht
  • pasyanti             =           die telepathische Sprache, bestehend aus innerem Bild und Gefühl
  • madhyama        =           die geistige Wiederholung
  • vaikhari             =           das gesprochene mantra

Das gilt allgemein für Sprache, aber bei mantras natürlich besonders. Wenn man zum Beispiel in einem anderssprachigen Land lebt, dann übersetzt man ein Wort, das man hört, im Geist zuerst ins Deutsche. Das äußerlich gesprochene Wort ist eine andere Sprache als die innerliche. Aus dem innerlichen Wort entstehen ein Bild und ein Gefühl und aus allem zusammen bekommen wir eine Ahnung der Bedeutung. Wenn wir ein mantra wiederholen, wiederholen wir es erst laut, dann geistig, verbinden es vielleicht mit einem Bild, einer Visualisierung und dann kommt ein inneres Gefühl dafür. Das Gefühl ist jenseits einer konkreten Sprache, es ist für alle Menschen identisch. Und darüber kommen wir zur Bedeutung. Wir erfahren die Bedeutung.

Machen wir ein kleines Experiment. Jetzt nenne ich ein Wort, mit dem du wahrscheinlich nichts anfangen kannst, zum Beispiel „jala“. Was für ein Bild entsteht da bei dir? – Wahrscheinlich gar keines, und du fühlst dich verwirrt. „Jala“ heißt Wasser. Jetzt wiederhole ich noch einmal „jala“. Was geschieht jetzt? Plötzlich ist das Wort mit einem Bild und Gefühl für Wasser verbunden. Ein Wort, bei dem nichts auf der pasyanti-Ebene geschieht, kein Bild oder Gefühl auftritt, schafft keine Bedeutung für uns.

In dharana gibt es normalerweise Worte, Bilder und Gefühle. In dhyana werden typischerweise die Worte weniger, es sind eher Bilder oder Gefühle da, und wir sind in der pasyanti-Ebene. Wir fließen mit den Bildern und Gefühlen mit. Deshalb haben Gefühlsmenschen oft in der Meditation schneller Erfahrungen als Wortmenschen. Dem Intellektuellen fällt es oft sehr schwer, den Geist abzuschalten. Er denkt die ganze Zeit. Wer aber sowieso eher ein Gefühlsmensch ist, der macht schnellere Sprünge bis zu pasyanti. Allerdings heißt das nicht, daß er auch schneller samadhi erreicht. Denn der weniger gefühlsbetonte Mensch muß sich so anstrengen, bis er überhaupt einmal ein einigermaßen befriedigendes Meditationserlebnis erreicht, daß er seinen Willen bis dahin schon soweit geschult hat, daß er auch die nächsten Stufen noch gehen will. Währenddessen die emotionellen Menschen es relativ zügig schaffen, zu einer schönen Meditation zu kommen, ihnen aber oft die Ausdauer für die zusätzliche Willensanstrengung fehlt, die man braucht, um wirklich zu den höchsten Erfahrungen zu kommen. Oder sie genießen die schönen Erlebnisse in der Meditation so, daß sie gar keine Lust haben, diese zu überwinden und weiterzukommen.

In samadhi verschwindet auch die Subjekt-Objekt-Trennung.

Solange man in vaikhari und pasyanti ist, gibt es ein Objekt, dessen man sich bewußt ist. Es gibt ein Ich als Subjekt. Dieses Ich hat einen Gedanken und über diesen Gedanken kommt man zur Bedeutung des Objektes. Die para-Ebene, die eigentliche Essenz, die Bedeutung eines Gegenstandes, kann man so von außen nicht wahrnehmen. Nur wenn das Bewußtsein mit der Essenz des Gegenstandes verschmilzt, erfährt man die wirkliche Bedeutung des Gegenstands.

Es gibt kein objektives Wahrnehmen. Die Wahrnehmung geschieht immer über die Sinne und den Geist und ist damit gefärbt durch vrittis (Gedankenwellen), unser Unterbewußtsein und alle möglichen wahrnehmungstheoretischen Abläufe. Ein einfaches Beispiel: Wenn es einem gesundheitlich einmal nicht so gut geht – angenommen, man hat starke Kopfschmerzen –, dann erlebt man einen Tag, eine Situation, ganz anders als jemand, dem es gut geht oder als man selbst in einer guten Verfassung. Der Geist prägt die Erfahrung erheblich. Aber wenn der Yogi nicht mehr durch den Geist wahrnimmt, sondern mit dem Bewußtsein in die Essenz der Sache hineingeht, dann kann er sie direkt wahrnehmen, ohne subjektive Färbung. Das ist dann die objektive, direkte Wahrnehmung, von der Patanjali im ersten Kapitel gesprochen hat. Und das geschieht eben in samprajnata samadhi.

In samadhi verschwinden also die vrittis (Gedanken) wie wir sie kennen. Wir haben keine Wortgedanken mehr, keine Bildgedanken mehr, keine emotionellen Gedanken mehr. Es verbleibt nur die reine Bedeutung des Objekts. Dabei verschwinden Subjekt und Objekt, das heißt, wir verschmelzen mit unserem Bewußtsein mit diesem Objekt, sind uns in dem Moment unserer selbst nicht mehr als Subjekt bewußt. Auf diese Weise bekommen wir zwei Dinge, nämlich jaya, Herrschaft und prajna, Wissen.

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Kapitel 3, Vers 4

Deutsche Übersetzung:

Diese drei (dharana, dhyana und samadhi) zusammen bilden samyama.

Sanskrit Text:

trayam-ekatra saṁyamaḥ ||4||

त्रयमेकत्र संयमः ॥४॥

trayam ekatra sanyamah ||4||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • traya = die drei, die Triade
  • eka = eins
  • ekatra = vereint, gemeinsam, zusammen, an einem Ort
  • saṁyama = Selbstbeherrschung

Kommentar

Wenn dharana, dhyana und samadhi aufeinander folgen, ist es samyama. Man kann samyama auch definieren als eine bestimmte Form der Konzentration, die, wenn wir sie perfektionieren, zu samadhi führt.

Samyama heißt die Konzentration auf eine Sache, ohne darüber nachzudenken, ohne darauf zu reagieren, ohne zu beurteilen und ohne zu analysieren.

Normales dharana wäre durchaus auch, den Gegenstand anzuschauen und zu beurteilen, zum Beispiel eine Uhr anzuschauen, festzustellen: Sie ist schwarz oder grün, sie ist schön, die Zifferblätter leuchten, das Band ist aus Plastik oder Leder u.s.w.

Die samyama-Konzentration bemüht sich, die Uhr einfach wahrzunehmen, zu erfassen, zu spüren, zu fühlen. Natürlich sieht man sie auch, man kann am Anfang auch noch das Wort „Uhr“ wiederholen, aber man hält einfach die volle Konzentration bei der Uhr und bei nichts anderem. Und zwar ohne zu beurteilen: Das ist eine schöne Uhr. Das ist eine häßliche Uhr. Das ist meine Uhr. Ohne zu reagieren: Oh, der Sekundenzeiger geht nicht, da muß ich etwas daran machen. Oh, es ist schon zehn Uhr. Wir reagieren nicht, wir analysieren nicht, wir urteilen nicht, wir beurteilen nicht, sondern wir gehen einfach in die Uhr hinein. Das ist eine Übung von samyama, eine spezifische Form von dharana, die irgendwann zu dhyana und schließlich zu samadhi führt.

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Kapitel 3, Vers 5

Deutsche Übersetzung:

Dadurch (durch samyama) entsteht Meisterung und das Licht direkten Wissens.

Sanskrit Text:

tajjayāt prajñālokaḥ ||5||

तज्जयात् प्रज्ञालोकः ॥५॥

tajjayat prajnalokah ||5||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = das, dort, daraus
  • jaya = Meisterschaft, Herrschaft, Beherrschung
  • prajña = höheres Bewusstsein, direktes Wissen, vollkommenes Wissen
  • āloka = alles was wahrgenommen werden kann, Licht, Sichtbare

Kommentar

Wer samyama auf irgendeine Sache ausführt, bekommt das volle Wissen (prajna) und die volle Meisterschaft (jaya) darüber.

Eine ganz praktische Anwendungstechnik: Angenommen, jemand will seine Uhr reparieren. Er könnte dafür samyama auf die Uhr ausführen. Er konzentriert sich ganz auf die Uhr. Er versucht, die Uhr zu erspüren. Und schließlich versucht er, mit der Uhr zu verschmelzen. So geht er in die Essenz der Uhr hinein. Und dann weiß er plötzlich, was an der Uhr kaputt ist. Das ist eine Vorstufe. Und wenn er aus samyama herauskommt, weiß er, was er machen muß, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Oder, wenn er noch tiefer in samyama hineingeht, repariert er die Uhr, ohne etwas zu tun. Allein dadurch, daß er sich auf die Uhr konzentriert, kann er die Uhr beherrschen. Gerade wenn er dabei ist, wieder herauszukommen – solange er drin ist, tut er nichts, er ist nur darin verschmolzen –, im Moment des Übergangs, kann er die Uhr verändern. Das gilt für jedes beliebige Objekt.

Man kommt von selbst in diesen Zustand. Es geschieht einfach. Um wieder herauszukommen, geben sich Yogis normalerweise vorher Suggestionen, um von der überbewußten Ebene her wieder ins Tagesbewußtsein zu kommen.

Nehmen wir einmal das Beispiel eines schmerzhaften Knies. Angenommen, wir haben ein Knieproblem. Da könnten wir Verschiedenes machen: Wir könnten kriya yoga machen, also über tapas, swadhyaya, ishvara pranidhana erst einmal logisch analysieren, was passiert ist, was den Schmerz ausgelöst haben könnte. Wir können Röntgenbilder anfertigen oder eine Magnetresonanztomographie machen lassen, durch Tasten etwas Genaueres herauszufinden versuchen, Fachbücher lesen – also Selbststudium, Befragung. Wir können auch etwas tun, tapas: Sei es, daß wir warme Umschläge machen, die Stelle einsalben, die Hände auflegen, Energie hinschicken, das Om-tryambakam-Heilmantra wiederholen, Kohlwickel darauf geben, krankengymnastische Übungen ausführen, Fahrrad fahren oder es operieren lassen. Und wenn alles nichts nützt und der Arzt feststellt, daß es sich um eine degenerative Krankheit wie Arthritis, Arthrose oder Rheuma handelt, dann kann man nochmals alles mögliche ausprobieren, zum Beispiel Fasten, auf Trennkost oder Rohkost oder ayurvedische Ernährung umsteigen u.s.w. Und wenn das alles nichts nützt, kommt die nächste Stufe, ishvara pranidhana, die Hinwendung zu Gott: Loslassen. Erkennen: Damit muß ich leben, das ist meine Aufgabe, mein dharma, irgendwie wird es auch seine Richtigkeit haben.

Aber jenseits von tapas, etwas tun, swadhyaya, analysieren, ishvara pranidhana, loslassen, gibt es als vierte Möglichkeit samyama, die volle Konzentration auf das Knie. Man versucht, das Knie zu spüren, in es hineinzugehen, mit dem Knie zu verschmelzen. Und wenn es wirklich gelingt, sich ganz in das Knie hineinzuversetzen, wenn man fühlt: „Knie“ – nicht mehr: „Ich beobachte das Knie“, sondern einfach nur „Knie“ –, wenn das Bewußtsein ganz im Knie ist, dann weiß man vielleicht nachher, was dem Knie fehlt und was man tun kann. Es kann auch sein, daß allein die Tatsache, daß man mit vollem Bewußtsein in dem Knie ist und das Knie ganz erfährt, dauerhaft alle Knieprobleme heilt. Wichtig ist, hineinzugehen, ohne zu denken: „Wie furchtbar, wie kann das sein, ich mache jetzt seit zwanzig Jahren Yoga, ernähre mich vegetarisch, mache Sport – und trotzdem habe ich Knieprobleme. Das kann nicht sein. Warum ich?“ oder „Was habe ich schon wieder falsch gemacht? Immer mache ich etwas falsch“. All diese Gedanken müssen weg. Einfach volle Konzentration auf das Knie, ohne zu urteilen, ohne zu analysieren. Aus der vollen Konzentration kann direktes Wissen kommen.

Man kann also die samyama-Technik anwenden bei Krankheiten. Bei eigenen Krankheiten, aber auch bei Krankheiten von anderen Menschen. Gute Ärzte sind solche, die eine Krankheit und den Menschen als Ganzes intuitiv erspüren, „sich in den anderen hineinversetzen“, wie es so schön heißt, und was, wörtlich genommen, samyama ist. In der Medizin wird das selten erwähnt, aber es ist ausreichend bekannt. Ein guter Arzt ist nicht der wissenschaftlichste Arzt, sondern derjenige, der ein Gespür für den Menschen hat. Er stellt Fragen, schaut den Menschen an und erfaßt dann in etwa, was falsch ist, was nicht stimmt. Also, ein guter Arzt spürt, fühlt und macht mehr oder weniger samyama auf den Patienten, wenn auch nur ganz kurz.

Man kann die samyama-Konzentration auch in den Hatha Yoga-Übungen anwenden. Eigentlich kann man sie generell überall einsetzen. Zum Beispiel auch, wenn Menschen mit verschiedenen Beschwerden und Krankheiten in eine Yogastunde kommen. Eine Reaktionsmöglichkeit wäre zum Beispiel, den Menschen zu spüren, zu fühlen. Man kann sich auch innere Fragen stellen und versuchen, das Unterbewußtsein oder das Überbewußtsein daran arbeiten zu lassen. Wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis irgendwelche Schwierigkeiten hat, kann man versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen, in die Krankheit, in das Problem hineinzuspüren. So kann man Wissen über das Problem erlangen und vielleicht auch Wissen über die Heilung oder Lösung. Und angenommen, man wäre in der Lage, in samadhi hineinzukommen, dann könnte man die Krankheit des Menschen sogar heilen. Wobei hier Yogis sagen würden, das könnte auch ein Mißbrauch der Kraft sein, denn ein Yogi wendet die siddhis nicht an, sie sind eine große Versuchung. Deshalb ist das alles ein zweischneidiges Schwert. Für sich selbst ist es sicher in Ordnung – letztlich ist es unsere Aufgabe, unseren Körper gesund zu halten. Wir haben diesen Körper bekommen und müssen uns um ihn kümmern. Uns selbst können wir mit samyama auch heilen, da spricht nichts dagegen.

Ein großer Meister könnte alle heilen, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, wenn er merkt, das ist jetzt nicht seine Aufgabe und in dem Moment auch nicht im karma des betroffenen Menschen. Man muß vorher das Göttliche anrufen und fragen: „Bitte hilf mir, wenn Heilen jetzt das Richtige ist, und halte mich ab, wenn es jetzt nicht das Richtige ist.“ Wir müssen diese Demut haben. Ein ganz großer Meister wird sich nicht mehr um den Körper kümmern und nicht einmal mehr seinen eigenen Körper heilen. Er wird das machen, was notwendig ist, und sagen: „Gottes Wille geschehe.“ Ob der Körper gesund ist oder nicht, spielt aus seiner Sicht nicht so eine große Rolle. Wenn er noch karma hat, das er ausarbeiten, ausleben muß, wird er gesund erhalten, wenn er kein karma mehr hat, eben nicht. Er wird den Körper natürlich auch nicht mißbrauchen, denn dazu gibt es wiederum auch keine Veranlassung, aber er wird auch nicht so besorgt um ihn sein. Denn für einen großen Meister spielt es keine Rolle, ob er noch im Körper ist oder woanders, ob der Körper Schmerzen hat oder nicht – was ist der Unterschied? Er fühlt das ganze Universum. Wieso sollte er jetzt dieser einen Zelle so viel mehr Aufmerksamkeit schenken! Aber das liegt für die meisten von uns, glaube ich, noch in der Zukunft!

Im Hatha Yoga und bei manchen Psychotherapien, wo man versucht, einfach nur zu erspüren, wendet man die samyama-Technik an. Bei den Therapien wird es oft dann aber auch in Worte gefaßt. Wenn man es überhaupt nicht in Worte faßt, sondern einfach nur mit dem Bewußtsein voll hineingeht, dann kommt man zur Essenz der Sache.

Aber natürlich ist nicht jedes intuitive Gespür gleich samyama. Wir hatten ja von den drei Formen der direkten Wahrnehmung gesprochen: Es gibt die Sinneswahrnehmung, die instinktive Wahrnehmung und die überbewußte Wahrnehmung, die eben aus samyama kommt.

Samyama ist eine entspannte Konzentrationsform, Konzentration auf eine Sache an sich, die im Idealfall bis zu samadhi führt. Der typische Yoga-Aspirant wird normalerweise nicht geradewegs in samadhi eingehen, wenn er sich um samyama bemüht. Deshalb werden auch die Wirkungen nicht gleich so weitreichend sein wie von Patanjali beschrieben, aber es werden sich doch gewisse Wirkungen einstellen, die in diese Richtung gehen. Deshalb kann man auch als normaler Aspirant diese Konzentrationstechniken benutzen. Wir können sie nutzen, wir können sie gebrauchen – nur müssen wir aufpassen, daß wir sie nicht mißbrauchen. Es sind nämlich sehr, sehr machtvolle Techniken.

Man sollte sich allerdings nicht einzig und allein auf diese Technik spezialisieren. Ich hatte einmal in einem Seminar eine Teilnehmerin, die sagte, sie halte nichts von Affirmationen, Visualisierung und Geisteskontrolle. Das einzig Notwendige sei es, den Geist auf etwas zu konzentrieren, ohne zu beurteilen. Wenn sie nicht so viele psychische Probleme gehabt hätte, hätte ich sie bei dem Glauben gelassen. So habe ich versucht, ihr klarzumachen, daß das allein nicht alle anderen Techniken ersetzen kann, mit denen man an sich selbst arbeiten sollte. Es gibt eine gewisse Gefahr dabei. Wenn man in bestimmte unangenehme psychische Zustände wie Depression, Trauer und ähnliches mit dem ganzen Bewußtsein hineingeht, kann es zwar sein, daß es hilft, aber es kann genauso gut sein, daß es stattdessen noch tiefer in diese Zustände führt.

In vielen Situationen muß man erst einmal prüfen, ob man nicht die anderen Techniken anwenden kann, die Patanjali in den vorherigen Kapiteln erwähnt hat. Wir können zum Beispiel unseren Geist ablenken, an etwas anderes denken, an einen Aspekt der Wahrheit. Erinnere dich an das erste Kapitel: „Wenn Hindernisse im Geist kommen, sollte man sich auf einen Aspekt der Wahrheit konzentrieren“ (I 32). Oder im zweiten Kapitel die Anwendung von tapas, swadhyaya, ishvara pranidhana: Versuchen, etwas zu begreifen, zu studieren, zu verändern oder loszulassen, Hingabe an Gott, Gottesverehrung. Manchmal hilft es auch, die richtige Lebenseinstellung zu haben. Und manchmal ist es erforderlich und hilfreich, die ersten Stufen wie yama, niyama, pranayama, asana, pratyahara bewußt zu kultivieren. Pranayama bereitet den Geist für dharana vor. Das sind die Voraussetzungen, um den Geist richtig reif zu machen für die höheren Stufen der Konzentration und Transzendierung des Normalbewußtseins. Wenn wir hier im dritten Kapitel fortgeschrittene Techniken wie die samyama-Konzentration kennenlernen, müssen wir uns bewußt sein, daß sie auf den vorhergehenden als Fundament aufbauen und daß sie die anderen Techniken nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Verwirklichte Yogis brauchen natürlich gar nichts. Sie bringen nur einfach den Geist zur Ruhe: Yogash chitta vritti nirodhah. Und um das zu erreichen, machen sie die samprajnata-Meditation in den Stufen, wie wir es kennengelernt haben: savitarka, nirvitarka, savichara, nirvichara, sasmita, asamprajnata samadhi. (I 17)

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Kapitel 3, Vers 6

Deutsche Übersetzung:

Seine Anwendung (des samyama) erfolgt in Stufen.

Sanskrit Text:

tasya bhūmiṣu viniyogaḥ ||6||

तस्य भूमिषु विनियोगः ॥६॥

tasya bhumishu viniyogah ||6||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = seine, dessen
  • bhūmi = Stufe, Grad, Schritt; nach und nach
  • viniyoga = Anwendung, Abwandlung, Aufteilung

Kommentar

Das heißt zum einen: Eines geht ins andere über. Zum anderen: Wir können unseren Fortschritt nicht erzwingen. Es geschieht schrittweise. Aber es heißt auch, wir können samyama üben, selbst wenn wir nicht in samprajnata samadhi sind. Der Fortschritt kommt allmählich, eine Stufe nach der anderen.

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Kapitel 3, Vers 7

Deutsche Übersetzung:

Diese drei Stufen sind innerlicher als die vorhergehenden.

Sanskrit Text:

trayam-antarangaṁ pūrvebhyaḥ ||7||

त्रयमन्तरन्गं पूर्वेभ्यः ॥७॥

trayam antarangam purvebhyah ||7||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • trayam = drei
  • antar = innerlich
  • aṅga = Teil, Glied, Stufe
  • pūrvebhyaḥ = im Vergleich mit den Vorherigen; in Bezug auf die Vorangegangenen

Kommentar

Dharana, dhyana und samadhi sind innerlicher als die ersten fünf Stufen des achtstufigen Yoga, nämlich yama, niyama, pranayama, asana und pratyahara.

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./.

Kapitel 3, Vers 8

Deutsche Übersetzung:

Aber sogar diese sind äußerlicher als der samenlosen Zustand.

Sanskrit Text:

tadapi bahiraṅgaṁ nirbījasya ||8||

त्तदपि बहिरङ्गं निर्बीजस्य ॥८॥

tadapi bahirangam nirbijasya ||8||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = das, dieses
  • api = auch
  • bahir = äußerlich
  • aṅga = Teil, Glied, Stufe
  • nirbīja = samenlos (samaadhi); im Vergleich mit Nirbija-Samadhi

Kommentar

Nirbija, ohne Samen, ist ein anderer Ausdruck für asamprajnata samadhi und nirvikalpa samadhi.

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./.

Kapitel 3, Vers 9

Deutsche Übersetzung:

Durch die wachsende Beherrschung der ständig auftauchenden und wieder verschwindenden Eindrücke des Unterbewußtseins und das jederzeitige Verweilen des Geistes im Ruhezustand entwickelt sich allmählich die Meisterschaft (nirodha).

Sanskrit Text:

vyutthāna-nirodha-saṁskārayoḥ abhibhava-prādurbhāvau nirodhakṣaṇa cittānvayo nirodha-pariṇāmaḥ ||9||

व्युत्थाननिरोधसंस्कारयोः अभिभवप्रादुर्भावौ निरोधक्षण चित्तान्वयो निरोधपरिणामः ॥९॥

vyutthana nirodha sanskarayoh abhibhava pradurbhavau nirodhakshana chittanvayo nirodha parinamah ||9||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vyutthāna = Erwachen, Wachsen, Auftauchen
  • nirodha = Beherrschung, Ruhe des Geistes
  • saṁskāra = Eindruck im Unterbewußtsein
  • abhibhava = Überwindung, Verschwinden
  • prāduḥbhāva = Aufsteigen, Erscheinung
  • nirodha = Beherrschung, Ruhe des Geistes
  • kṣaṇa = Situation, Moment
  • citta = Verstand, alles Wandelbare des Menschen
  • anvaya = Verbindung, Durchdringung, Beziehung
  • nirodha = Beherrschung, Ruhe des Geistes
  • pariṇāma = Wandel, Umwandlung, allmähliche Entwicklung, Evolution

Kommentar

Auch das geschieht wieder Schritt für Schritt. Wir lassen eine störende Gedankenwelle nach der anderen verschwinden, so daß irgendwann diese nirodha-parinama entsteht. Parinama bedeutet eine Veränderung, eine Transformation. Nirodha-parinama ist also die Transformation des Geistes, die dazu führt, daß wir irgendwann immer in nirodha, im Zustand frei von gedanklichen Ablenkungen, sein können, wenn wir wollen. Aber das geschieht eben dadurch, daß wir eins nach dem anderen beherrschen.

Ein Beispiel, das Swami Vishnu gerne gebraucht hat, war: Angenommen, man wollte ein farbiges Meditationstuch in ein goldenes Tuch umwandeln. Was müßte man machen? – Einen Faden nach dem anderen durch einen Goldfaden ersetzen. Wie lange dauert das? – Sicher sehr lange. Wir bräuchten vielleicht geeignete Hilfsmittel dazu wie Nadel, Faden, eine Lupe. Aber in einem Jahr oder so hätten wir es geschafft.

Natürlich könnte man sagen: Dann schaffe ich mir doch gleich ein goldenes Tuch an, wozu soll ich die anderen Fäden erst alle mühsam herausziehen und ersetzen. Aber genau das ist die Schwierigkeit mit unserem Geist. Wir können nicht sagen: Ich lege diesen Geist ab und schaffe mir gleich einen ganz neuen an, der „richtig“ funktioniert. Das klappt nicht. Wir müssen diesen Geist ganz allmählich zu einem goldenen Geist machen. Und das machen wir, indem wir eine Gedankenwelle nach der anderen ersetzen. Schrittweise lassen wir die alten tamasigen und rajasigen Wünsche langsam los und ersetzen sie durch sattvige Wünsche. Wir schaffen Furchen für positive, geduldige, verständnisvolle, liebevolle Reaktionen des Geistes auf irgendwelche Zumutungen oder scheinbare Zumutungen unserer Umwelt und anderer Menschen. Und das wird langsam zu einem neuen Teil unseres Geistes, unserer Persönlichkeit.

Natürlich müssen wir im Laufe der Entwicklung auch die sattvigen Wünsche und Gedanken überwinden, wie Krishna schon im 2. Kapitel der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Überwinde rajas und tamas und mache deinen Geist sattvig. Hänge aber an keinen gunas.“

So bekommen wir schließlich einen Geist, der insgesamt beherrschbar ist. Zum Schluß erreichen wir volles nirodha, aber vorher kommt kshana-chittan-vayo, die Herrschaft über den Geist. Diese Herrschaft über den Geist führt zum dauernden nirodha, dem Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist.

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Kapitel 3, Vers 10

Deutsche Übersetzung:

Sein Fluß wird durch Wiederholung ruhig.

Sanskrit Text:

tasya praśānta-vāhitā saṁskārat ||10||

तस्य प्रशान्तवाहिता संस्कारत् ॥१०॥

tasya prashanta vahita sanskarat ||10||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = sein (des nirodha-pariṇāma)
  • praśānta = ruhig, ungestört
  • vāhitā = Fluss
  • saṁskāra = (wiederholter) Eindruck

Kommentar

Wenn wir regelmäßig unsere Gedanken beherrschen, positive Gedanken erzeugen, dann führt das schließlich zu einem ungestörten Fluß.

Den Geist zu erziehen, ist wie einen Hund zu erziehen. Wenn man in der Erziehung konsequent ist, dann macht er alles, was man will. Wenn man inkonsequent ist, hat man ein ständiges Tauziehen. Und das ist weder für den Hund noch für den Menschen gut. Kindererziehung ist wieder etwas anderes, denn wir wollen unsere Kinder ja nicht dressieren. Außerdem läßt sich der Mensch glücklicherweise nicht dressieren. Wir hatten in diesem Jahrhundert genügend Experimente, wo Machthaber versucht haben, ihre Untertanen umzuerziehen. Es hat nicht geklappt. Das einzige, was sie geschafft haben, war, den Glauben an Gott zu ruinieren. Das ist zum Beispiel der Hauptunterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. In Westdeutschland glauben nach einer Umfrage in den neunziger Jahren 73 % der Menschen an Gott, in Ostdeutschland nur 20 %. In den letzten Jahren ist die Tendenz allerdings wieder leicht steigend.

Man kann den Menschen nicht dressieren, weil er nicht nur samskaras (Eindrücke aus früheren Leben) hat, sondern auch buddhi (Intellekt). Es ist auch nicht Aufgabe der Kindererziehung, das Kind zu dressieren. Aber ein Hund hat kein buddhi, deshalb kann man ihn dressieren. Und unseren unterbewußten Geist, die Teile des Geistes, die auch im Menschen ähnlich funktionieren wie in den Tieren, nämlich manas und chitta, und die uns zunächst einmal stören, können wir auch ausbilden, wie wir ein Tier ausbilden können. Wenn dieser Teil des Geistes langsam beherrscht ist, wird er zu unserem gehorsamen Diener. Dann fühlen wir uns wohl und der unterbewußte Geist auch.

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Kapitel 3, Vers 11

Deutsche Übersetzung:

Durch Abnahme der Zerstreutheit und Zunahme der vollkommenen Konzentration im Geist entwickelt sich samadhi.

Sanskrit Text:

sarvārthatā ekāgrātayoḥ kṣayodayau cittasya samādhi-pariṇāmaḥ ||11||

सर्वार्थता एकाग्रातयोः क्षयोदयौ चित्तस्य समाधिपरिणामः ॥११॥

sarvarthata ekagratayoh kshayodayau chittasya samadhi parinamah ||11||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sarva = alles, vieles
  • artha = bezogen auf
  • sarvārthata = Zustand mentaler Zerstreutheit, viele Objekte
  • ekāgratā = Sammlung, Konzentration, Einpünktigkeit, ein Objekt
  • kṣaya = absteigen, abnehmen, aufhören, immer weniger
  • udaya = aufsteigen, zunehmen, zunehmend
  • citta = Verstand, Geist, alles Wandelbare des Menschen
  • samādhi = überbewusster Zustand, vollkommene Erkenntnis
  • pariṇāmaḥ = Wandlung, Entwicklung

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Im Grunde genommen ist das eine Wiederholung dessen, was Patanjali im ersten Kapitel gesagt hat, nämlich die Praxis von abhyasa (Übung) und vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Nichtanhaften).

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Kapitel 3, Vers 12

Deutsche Übersetzung:

Wenn die auf- und absteigenden Geistesinhalte genau gleich sind, entwickelt sich vollkommene Konzentration.

Sanskrit Text:

tataḥ punaḥ śātoditau tulya-pratyayau cittasya-ikāgratā-pariṇāmaḥ ||12||

ततः पुनः शातोदितौ तुल्यप्रत्ययौ चित्तस्यैकाग्रतापरिणामः ॥१२॥

tatah punah shatoditau tulya pratyayau chittasya ikagrata parinamah ||12||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = dann
  • punaḥ = wieder
  • śāntā = ruhig, aufgelöst, sich beruhigt
  • udita = gesagt, aufgestiegen, aufgegangen
  • tulya = genau gleich, ähnliche
  • pratyayau = Vorstellung, Gedanke, Eindrücke
  • cittasya = des Verstandes, Geist, alles Wandelbare des Menschen
  • ekāgratā = Sammlung, Konzentration, Einpünktigkeit
  • pariṇāma = Wandlung, Entwicklung zu, Veränderung

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Dieser Aphorismus beschreibt noch einmal von einem anderen Standpunkt aus, was samprajnata samadhi ist. Im Grunde genommen sind samprajnata samadhi und ekagrata gleichbedeutend. Ekagrata ist Einpünktigkeit des Geistes. Ekagrata hat zwei Stufen: die eine ist dhyana, die zweite samprajnata samadhi. Das ist der Zustand, in dem zwei aufeinanderfolgende Gedanken gleich sind. Und das können sie nur dann wirklich sein, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht zwischen Worten, Bildern und Emotionen hin- und herspringt, sondern das geht nur, wenn wir in der Essenz eines Objektes sind.

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Kapitel 3, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Dieses erklärt die Veränderungen der Elemente und der Sinnesorgane in bezug auf Form, Zeit und Zustand.

Sanskrit Text:

etena bhūtendriyeṣu dharma-lakṣaṇa-avasthā vyākhyātāḥ ||13||

एतेन भूतेन्द्रियेषु धर्मलक्षणावस्था व्याख्याताः ॥१३॥

etena bhutendriyeshu dharma lakshana avastha vyakhyatah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • etena = durch dieses, dadurch
  • bhūtā = die Elemente, die Materie
  • indriyeṣu = in den Sinnesorganen
  • dharma = Eigenschaft, Beschaffenheit, im übertragenen Sinne: Form
  • lakṣaṇā = Attribut, Merkmal, die innere Qualität von etwas
  • avasthāḥ = Zustand
  • pariṇāma = Wandlung, Veränderung, Entwicklung zu
  • vyākhyā = Erklärung, Kommentar
  • vyākhyātāḥ = werden erklärt

Kommentar

Wenn wir uns auf diese Weise konzentrieren, verändert sich unsere Wahrnehmung von Form, Zeit und Sinnesorganen. Wir nehmen nicht mehr Formen wahr, es gibt kein Zeitempfinden mehr, wir spüren die Elemente nicht mehr und die Sinnesorgane sind nicht mehr aktiv.

Zeit kann es nur geben, wenn Dinge sich verändern. Wenn zwei Gedanken identisch sind, gibt es keine Zeit mehr. Es gibt auch keinen Zustand und keine Sinneswahrnehmungen mehr, denn es gibt niemanden mehr, der etwas wahrnimmt.

In dem Maße, in dem wir in ekagrata sind, verändern sich all diese Dinge. So ist auch unser Geist nicht mehr durch sie begrenzt.

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Kapitel 3, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Es gibt einen gemeinsamen Besitzer aller vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Eigenschaften.

Sanskrit Text:

śān-odita-avyapadeśya-dharmānupātī dharmī ||14||

शानोदिताव्यपदेश्यधर्मानुपाती धर्मी ॥१४॥

shan odita avyapadeshya dharmanupati dharmi ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śānta = das Abgeklungene, Vergangene
  • udita = das Aufgekommene, Manifestierte, Gegenwärtige
  • avyapadeśya = das Unmanifeste, in der Zukunft liegende, Zukünftige
  • dharma = die Eigenschaften, der natürlichen Aufgabe
  • anupātī = basierend auf, aufeinander bezogen, gemeinsam
  • dharmī = des die Eigenschaften besitzenden, Objekt oder Person

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Also bei all diesen parinama, Veränderungen, bleibt etwas gleich, und das ist natürlich unser Selbst, purusha oder der atman.

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Kapitel 3, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Ursache der verschiedenen Entwicklungen sind die verschiedenen Naturgesetze.

Sanskrit Text:

kramānyatvaṁ pariṇāmānyateve hetuḥ ||15||

क्रमान्यत्वं परिणामान्यतेवे हेतुः ॥१५॥

kramanyatvam parinamanyateve hetuh ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • krama = Abfolge, Verlauf
  • anyatvaṁ = Unterschied, Verschiedenheit
  • pariṇāma = Wandlung, Entwicklung, Veränderung
  • anyatva = Unterschied, Verschiedenheit
  • hetu = Ursache

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Die Naturgesetze sind die Ursache für alles, was sich im Leben verändert. Sie sind auch die Ursache für das, was Patanjali als nächstes beschreibt, nämlich die sogenannten übernatürlichen Kräfte. Auch diese Kräfte beruhen auf Naturgesetzen, aber eben auf einer anderen Ebene. Es sind überphysische Naturgesetze. Und sie sind nicht nur überphysisch, sondern auch überparapsychologisch, also überastral. Alle Umwandlungen unterliegen Naturgesetzen. Auch das, was scheinbar als siddhis, übernatürliche Kräfte, bezeichnet wird, entspricht in Wahrheit der Natur – nur ist uns das nicht ohne weiteres einsichtig, weil es Gesetze auf einer anderen Ebene sind.

Hier machen wir einen kurzen Sprung zum ersten Vers des vierten Kapitels, wo Patanjali sagt, siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, mantras, Übungen der Selbstzucht oder durch samadhi erreicht.

  • Durch Geburt: Manche Menschen haben einfach von Anfang an irgendwelche übernatürliche Fähigkeiten, wahrscheinlich, weil sie in früheren Leben viel spirituelle Praktiken gemacht haben und von daher weiter entwickelt sind.
  • Durch medizinische Kräuter und Drogen: Das kennt man zum Beispiel bei schamanistischen Kulturen. Gewisse Kräuter und Essenzen bringen den Geist in einen anderen Bewußtseinszustand. Mittels Drogen kann man zu allen möglichen bewußtseinserweiternden Zuständen und Erfahrungen kommen. Aber das ist eine gefährliche Sache, weshalb wir das im Yoga nicht anwenden.
  • Dann natürlich mantras, was in diesem Zusammenhang auch alle Formen von Zeremonien und Ritualen mit einschließt. Ich habe einmal ein Feuerlauf-Ritual miterlebt. Zuerst wurden bestimmte Rituale gemacht. Anschließend konnte man über glühende Kohlen gehen, auch darin stehen oder sie in die Hand nehmen. Der Körper war immun gegen die Kraft des Feuers.
  • Durch Übungen der Selbstzucht (tapas), wobei eine intensive asana– und pranayama-Praxis von Patanjalis Standpunkt aus bereits zur Askese zählt. Oder auch Fasten. Fasten macht den Geist leicht, durchlässig, empfänglich für Subtiles.
  • Und natürlich samadhi.

Hier im dritten Kapitel spricht Patanjali über samyama, das in samadhi mündet, und welche Kräfte man dabei erlangen kann. Aber im vierten Kapitel sagt er: Nicht jeder, der übernatürliche Kräfte hat, hat deshalb auch gleichzeitig samadhi erreicht. Deshalb müssen wir aufpassen und vorsichtig sein. Übernatürliche Kräfte sind nicht das Hauptkriterium zur Beurteilung eines Meisters.

Es wird keinen Meister geben, der nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte irgendwann einmal manifestiert. Er kann gar nicht anders. Selbst wenn er es abstreitet. Man braucht nur mit Schülern eines Meisters zu sprechen, dann erfährt man alles mögliche, was in Gegenwart des Meisters geschehen ist. Ich habe einiges mit Swami Vishnu erlebt. Und uns hat er immer erzählt, er hätte keine siddhis – das war schon fast nicht mehr satya! Aber er hat diese Kräfte nicht bewußt angewendet. Er hat nicht versucht, etwas zu machen. So etwas geschieht bei Meistern einfach. Wenn der Geist zu einer gewissen Konzentration fähig ist, kann man gar nicht anders, dann geschehen Wunder von selbst.

Und es gibt andere Menschen, die aus irgendwelchen der oben genannten Gründe bestimmte Fähigkeiten haben, aber keine Meister sind. Wenn jemand einem etwas über die eigene Vergangenheit sagen kann oder das persönliche mantra errät, oder aus der Hand heraus etwas manifestiert, heißt das nicht notwendigerweise, daß er ein Meister ist. Es gibt genügend Scharlatane. Und manchmal sind es auch einfach nur Taschenspielertricks.

In seiner Jugend hat Swami Vishnu sich hobbymäßig mit Zauberkünsten beschäftigt. Im Sivananda-Ashram gab es regelmäßig Bunte Abende. Im Rahmen eines solchen Abends hat Swami Vishnu einmal ein paar Zaubertricks aufgeführt. Anschließend hat Swami Sivananda ihn gebeten, ihm zu zeigen, wie das funktioniert, und Swami Vishnu hat ihm die Tricks dahinter gezeigt. Daraufhin hat Swami Sivananda gesagt: „Du als swami solltest von heute an niemals mehr solche Zaubertricks vorführen. Du magst sagen, es sind Zaubertricks, aber die Leute werden denken, daß es siddhis sind. Und es kann sein, daß du irgendwann einmal in Versuchung gerätst.“ Deshalb hat Swami Vishnu diese Zaubertricks danach nie mehr vorgeführt.

Swami Vishnu hat uns immer davor gewarnt, zu leichtgläubig zu sein. Auch später noch hat er oft Pseudomeister, die irgendwelche angeblichen übernatürlichen Kräfte demonstrierten, mit Video aufgenommen, das Video dann im Zeitlupentempo abgespielt und so versucht, den Trick dahinter herauszufinden.

Am Anfang des dritten Kapitels hat Patanjali generell gesagt: Durch Anwendung von samyama erreichen wir prajna, direktes Wissen, und jaya, Herrschaft, über alles. Nun kommt er zu den praktischen Anwendungen und zeigt uns auf, wie wir samyama auf bestimmte Dinge anwenden können.

Das klingt teilweise ganz phantastisch. Er beschreibt zum Beispiel, wie wir die Vergangenheit und die Zukunft erkennen können, hellsichtig werden, wie wir die Sprache der Wesen verstehen können, ohne die Sprache systematisch zu lernen, wie wir frühere Leben kennenlernen oder die geistigen Vorstellungen eines anderen wissen können – also Telepathie –, wie wir unsichtbar und unhörbar werden können, wie wir die Zeit unseres Todes erkennen können, wie wir bestimmte Eigenschaften und Kräfte in uns entwickeln, Subtiles wahrnehmen können, wie wir die Welt erkennen, Astrologie, Anatomie und Physiologie verstehen können, ohne sie studieren zu müssen, wie wir Hunger und Durst beherrschen, Kontakt zu höheren Wesen aufnehmen können, intuitive Sinne entwickeln können, wie wir levitieren und Übernatürliches hören können u.s.w.

Diese Verse sind aber nicht nur Anleitungen für übernatürliche Kräfte, sondern enthalten auch praktische Anweisungen und Anwendungsmöglichkeiten für das Leben jedes Aspiranten.

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