Kapitel 2, Vers 51

Deutsche Übersetzung:

Die vierte Art des pranayama geht über den Bereich von Einatmung und Ausatmung hinaus.

Sanskrit Text:

bāhya-ābhyantara viṣaya-akṣepī caturthaḥ ||51||

बाह्याभ्यन्तर विषयाक्षेपी चतुर्थः ॥५१॥

bahya abhyantara vishaya akshepi chaturthah ||51||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bāhya = äußerer
  • abhyantara = innerer
  • viṣayā = Bereich, Sphäre
  • bāhya-ābhyantra = Äußeres Anhalten, das Atemanhalten nach der Ausatmung
  • abhyantra-viṣayā = Das Atemanhalten nach der Einatmung
  • ākṣepī = darüber hinausgehend, transzendieren
  • caturtha = das Vierte

Kommentar

Das ist kevala kumbhaka, der meditative Atem. Man atmet nicht mehr ein und aus und hält die Luft an, sondern der Atem setzt von selbst aus. Auch das kannst du zuerst üben: Atme bewußt wenig Luft ein und wenig Luft aus, so daß Ein- und Ausatmung ineinander übergehen und die Entfernung, die der Atem aus den Nasenlöchern macht, sehr klein wird. Dies führt zu einer wunderbaren Konzentration. Irgendwann setzt der Atem vielleicht sogar ganz aus. Das geschieht in der Meditation oder am Ende einer guten pranayama-Sitzung irgendwann von selbst. Wenn das geschieht, lasse es einfach zu. Du brauchst keine Angst zu haben. Du fällst nicht in Ohnmacht und hast auch keinen Sauerstoffmangel. Das gilt vielmehr als die höchste Form des pranayama.

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Kapitel 2, Vers 52

Deutsche Übersetzung:

Dadurch wird der Schleier, der das Licht verhüllt, entfernt.

Sanskrit Text:

tataḥ kṣīyate prakāśa-āvaraṇam ||52||

ततः क्षीयते प्रकाशावरणम् ॥५२॥

tatah kshiyate prakasha avaranam ||52||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = (von tata) dann, davon
  • kṣīyate = wird aufgelöst, verschwindet, reduziert sich
  • prakāśa = Licht
  • āvarana = Bedeckung, Schleier, Hülle

Kommentar

Kevala kumbhaka als höchste Form im besonderen und pranayama im allgemeinen entschleiern, enthüllen das Licht. Wer regelmäßig pranayama übt, hat ein Gefühl von Licht, von Leichtigkeit, von Erleuchtung, von Energie, fühlt sich sehr licht, leicht und weit.

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Kapitel 2, Vers 53

Deutsche Übersetzung:

Dadurch wird der Verstand tauglich für dharana (Konzentration).

Sanskrit Text:

dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ ||53||

धारणासु च योग्यता मनसः ॥५३॥

dharanasu cha yogyata manasah ||53||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dhāraṇāsu = für Konzentration
  • ca = und
  • yogyatāḥ = Eignung, Befähigung, Kompetenz
  • manas = Geist, Verstand

Kommentar

Atemübungen sind das Beste, um Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln.

Meine große Schwierigkeit am Anfang des spirituellen Weges war, daß ich nicht meditieren konnte, weil mein Geist sehr aktiv war. Ich konnte mich zwar auf äußere Objekte gut konzentrieren. Ich konnte gut lernen, aber mich auf Om oder ein mantra zu konzentrieren, das ging nicht. Ich habe dann jeden, dessen ich habhaft werden konnte, gefragt: „Was soll ich tun, um besser meditieren zu können?“ Daraufhin habe ich natürlich viele Ratschläge bekommen. Einer davon war, viel pranayama zu üben. Das habe ich dann auch gemacht, und es hat schließlich dazu geführt, daß mein Geist sich besser konzentrieren konnte.

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Kapitel 2, Vers 54

Deutsche Übersetzung:

Wenn die Sinne nicht in Kontakt mit den Objekten treten und gleichsam in die Natur des Geistes eingehen, entsteht pratyahara (Zurückziehen der Sinne).

Sanskrit Text:

svaviṣaya-asaṁprayoge cittasya svarūpānukāra-iv-endriyāṇāṁ pratyāhāraḥ ||54||

स्वविषयासंप्रयोगे चित्तस्य स्वरूपानुकारैवेन्द्रियाणां प्रत्याहारः ॥५४॥

svavishaya asanprayoge chittasya svarupanukara iv endriyanam pratyaharah ||54||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sva = eigen, sein
  • viṣaya = Objekt, Gegenstand
  • a = nicht
  • saṁprayoge = in Berührung kommen, Zusammenkommen, Vereinen
  • citta = alles Wandelbare des Menschen, Geist, Verstand
  • sva = eigen
  • rūpa = Form
  • svarūpa = eigene Form, eigene Natur
  • anukāra = nachahmen, annehmen, übernehmen
  • eva = als ob, wie
  • indriya = durch die Sinne, mit den Wahrnehmungsorganen
  • pratyāhāra = Abstraktion, Zurückziehen

Kommentar

Anstatt die Sinne weiterhin unkontrolliert nach außen gehen zu lassen, lernen wir die Fähigkeit, die Sinne nach innen zu bringen und so in unserem Inneren zu bleiben. Im Normalfall gehen die Sinne ständig nach außen. Man hört etwas und will sofort reagieren, denkt darüber nach. Man sieht etwas und denkt darüber nach oder will es gleich haben. Der Mensch sieht eine schöne Blume im Wald – was macht er? Er will sie haben und pflückt sie. Er sieht ein Kleidungsstück in einem Geschäft, das ihm gefällt – was macht er? Er kauft es.

Da gibt es eine schöne Geschichte. Es war einmal ein Minister in einem indischen Königreich. Jeden Tag ritt er mit einem wunderbar geschmückten Pferd, das eine prachtvolle Decke trug, zum Palast. Er selbst war prächtig gekleidet und mit Diamanten und Juwelen geschmückt. Ein alter Bettler im Park sah ihn jeden Tag vorbeikommen. Nach ein paar Jahren sagte er zu dem Minister: „Ich danke dir so sehr.“ Der Minister fragte: „Warum dankst du mir?“ Der Bettler antwortete: „Du hast mich so reich beschenkt, vor allem mit deinen Juwelen.“ Der Minister fürchtete, er habe vielleicht Juwelen verloren und der Bettler habe sie gefunden. Deshalb fragte er: „Habe ich dir Juwelen gegeben?“ Da sagte der Bettler: „Nein, aber jeden Morgen und jeden Abend sehe ich dich geschmückt mit diesen Juwelen. Das ist ein so schöner Anblick für mich.“ Die Moral von der Geschichte: Der Bettler sieht die Juwelen und erfreut sich daran, aber der Minister sieht sie nicht, während er sie trägt. Der Bettler hätte natürlich auch anders empfinden können. Er hätte vor Neid erstarren und denken können: „Der hat all diese Juwelen, und ich armer Schlumpf muß von Bettelgaben leben.“ Aber er hat sich daran erfreut. So können wir uns an Dingen freuen, ohne sie zu besitzen.

Wir können aber auch die Sinne nach innen ziehen und gar nicht mehr an die äußeren Objekte denken. Auch eine Übung, die man ab und zu machen kann, wenn man plötzlich den Wunsch nach irgend etwas hat: Man versucht, den Geist nach innen zu bringen. Es gibt verschiedene Techniken, wie man den Geist von äußeren Objekten wegziehen kann. Die einfachste ist, sich bewußt auf den Atem zu konzentrieren oder ein mantra zu wiederholen oder beides zusammen.

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Kapitel 2, Vers 55

Deutsche Übersetzung:

So entsteht die höchste Meisterschaft über die Sinne.

Sanskrit Text:

tataḥ paramā-vaśyatā indriyāṇām ||55||

ततः परमावश्यता इन्द्रियाणाम् ॥५५॥

tatah parama vashyata indriyanam ||55||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tata = dann, davon, daraus, so
  • paramā = höchste, größte
  • vaśya = Herrschaft, Macht, Kontrolle
  • indriya = über die Sinne, Wahrnehmungsorgane

Kommentar

Wenn wir in der Lage sind, den Geist immer dann, wenn die Sinne nach außen gehen, wieder zurückzuziehen und innen zu behalten, so lange wir wollen, ist es pratyahara.

Volles pratyahara ist auch, wenn über uns jemand mit dem Schlagbohrer bohrt, während wir in der Meditation sitzen und wir es nicht merken.

Da gibt es ein Ereignis aus dem Leben von Swami Sivananda. Einmal sagte er, er wolle den ganzen Tag hauptsächlich meditieren und deshalb nicht ins Büro kommen. Seine Schüler dachten in diesem Moment nicht mehr daran, daß das der Tag war, an dem die Straße gemacht werden sollte, die direkt an Swami Sivanandas kutir (Hütte) vorbeiführte. Den ganzen Tag arbeiteten die Straßenbauer also dort mit dem Preßlufthammer und allem, was so mit dem Straßenbau zusammenhängt. Am Abend, als Swami Sivananda zum satsang (gemeinsame Meditation) kam, entschuldigten sich die Schüler, daß sie ihn nicht vorgewarnt hatten. Er fragt, wieso und wovor. „Na ja, die Straßenarbeiten …“ Swami Sivananda sagte: „Ich habe nichts gehört“ und war wirklich total erstaunt, als sie ihm das sagten. Er war nicht nur höflich, sondern er hatte tatsächlich nichts gehört. Er hatte einen Preßlufthammer direkt neben seinem Meditationsraum nicht gehört. Das ist pratyahara in Vollendung.

Dieses Beispiel soll uns nun nicht frustrieren ob unseres eigenen Entwicklungsstandes, sondern uns zeigen, daß wir auch irgendwann einmal so weit kommen werden. Auch wir werden diesen Zustand erreichen. Wenn wir üben.

Zusammenfassung

Das zweite Kapitel hat drei Hauptthemen:

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