Kapitel 2, Vers 35

Deutsche Übersetzung:

Wenn Nichtverletzen fest begründet ist, wird Feindschaft in der Gegenwart des Yogis aufgegeben.

Sanskrit Text:

ahiṁsā-pratiṣṭhāyaṁ tat-sannidhau vairatyāghaḥ ||35||

अहिंसाप्रतिष्ठायं तत्सन्निधौ वैरत्याघः ॥३५॥

ahimsa pratishthayam tat sannidhau vairatyaghah ||35||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • ahiṁsā = Nichtverletzen, Gewaltlosigkeit
  • pratiṣṭha = fest, beständig, stabil
  • tad = dessen
  • sannidhi = Nähe, Umgebung, Umkreis
  • vaira = Feindseligkeit, Streitigkeit
  • agha = aufgeben, loslassen

Kommentar

Wenn wir selbst Liebe und Mitgefühl entwickeln, begegnet uns keine Feindschaft mehr.

Das ist auf zwei Ebenen zu interpretieren.

Das eine ist die wörtliche Bedeutung. Wenn wir selbst Frieden ausstrahlen, spüren das auch die anderen und werden weniger mit uns streiten. Ein sanftmütiger, freundlicher Mensch trifft auf weniger Feinde. Es geht sogar soweit, daß dort, wo er ist, sich die Menschen besser vertragen.

Ich kannte einmal einen Menschen, der die Sanftmut in Person war. Wenn er in einen Raum kam, waren plötzlich alle ganz friedlich. Sowie er weg war, fingen sie allerdings wieder an, sich zu streiten…

Das kann jeder auch ausprobieren. Angenommen, du bemerkst irgendwo, daß Menschen sich streiten. Dann versuche zunächst, ihnen positive Gedanken zu schicken. Ich kann mich an einen Vorfall in einer U-Bahn erinnern, wo ich selbst auch nicht wußte, was ich machen sollte. Jemand fing eine Schlägerei an und es war offensichtlich, der eine war unterlegen und die anderen überlegen. Die erste Sache, die ich gemacht habe, hat glücklicherweise geholfen. Ich habe aus meinem ganzen Herzen „Om tryambakam“ (mantra für Frieden, Wohlwollen, Heilung) hingeschickt – und es hat aufgehört. Ich brauchte nichts mehr zu machen.

Wenn man über die Machtergreifung Hitlers diskutiert, hört man oft das Argument: „Ja, was hätte man denn machen sollen?“ Als einzelner hätte man wahrscheinlich nicht viel machen können, aber sicher in der Masse. 1919 zum Beispiel, kurz nach Beginn der Weimarer Republik, machte ein Mensch namens Kapp einen Putsch und wurde zum Diktator. Am nächsten Tag gab es einen Generalstreik in ganz Deutschland, alle Räder standen still. Innerhalb weniger Tage war der ganze Spuk zu Ende. Wenn ausreichend Menschen nicht wollen, kann alles verhindert werden. Aber auch als einzelner können wir der Gewalt durch Gewaltlosigkeit begegnen, wie auch Gandhi das gezeigt hat.

Auf einer zweiten Ebene sehen wir aber, daß den großen Wohltätern der Menschheit zum Teil sehr wohl Feindschaft entgegenschlug. Jesus wurde sogar ans Kreuz geschlagen. Gegen Buddha gab es mehrere Mordanschläge.

Trotzdem ist der Aphorismus von Patanjali korrekt. Denn eine andere Übersetzung lautet:

Ist Gewaltlosigkeit fest begründet, trifft der Yogi auf keine Feindschaft.

Das heißt, für den Yogi ist es keine Feindschaft, er empfindet es nicht als solche.

Als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, sagte er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er hat nicht empfunden: Da sind Menschen, die mir gegenüber feindselig gesonnen sind. Sondern er hat Menschen gesehen, die aus Unwissenheit etwas Schlechtes tun.

Von Swami Sivananda wird ein Vorfall berichtet, in dem ihn jemand beim Abendsatsang (gemeinsame Meditation und Mantrasingen) mit einer Axt ermorden wollte. Der erste Schlag ging auf den Turban und glitt dann seitlich ab. Swami Sivananda hob nicht die Hand, denn ein swami (Mönch, Entsagter) darf sein eigenes Leben nicht verteidigen. Der Assistent von Swami Sivananda, das war damals Swami Vishnu, ist dem Attentäter in den Arm gefallen und hat letztlich das Leben von Swami Sivananda gerettet. Und das erste, was Swami Sivananda gesagt hat, war: „Vishnu Swami, mäßige deinen Zorn!“ Die erste Sorge, die Swami Sivananda hatte, war, daß Swami Vishnu dem, der ihn fast umgebracht hätte, irgendein Leid zufügt. Er hat ihm natürlich auch nicht gesagt: „Gib ihm die Axt wieder, damit er mich umbringen kann“, sondern er sagte: „Tue ihm kein Leid an.“ Nachher sorgte er auch noch dafür, daß der Angreifer nicht ins Gefängnis kam, sondern nach Hause geschickt wurde. Er blieb ein spiritueller Aspirant und Schüler von Swami Sivananda. Dieses Ereignis hat den Beinahe-Mörder gründlichst transformiert. Er hat nämlich gemerkt: Das ist tatsächlich ein Heiliger – nicht ein Scheinheiliger, sondern ein echter Heiliger.

Jemand, der wirklich in Liebe zerfließt, allen Wesen Liebe und Wohlwollen entgegenbringt, empfindet keine Feindschaft. Selbst wenn er umgebracht wird, empfindet er nicht, daß es aus Feindschaft geschieht. Eine solche innere Einstellung ist möglich, und zwar auch im Kleinen, in kleinen Schritten. Je mehr wir Liebe und Mitgefühl empfinden und in die Tat umsetzen, um so weniger spüren wir Feindschaft von anderen, und um so weniger haben wir das Gefühl, daß uns jemand etwas Schlechtes will. Wenn man hingegen das Gefühl hat, viele Menschen mögen mich nicht, handeln absichtlich schlecht mir gegenüber, dann ist das ein Zeichen, daß man selbst viel Feindschaft im Herzen hat.

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