Kapitel 2, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

Das Mittel, avidya zu überwinden, ist viveka kyhati (ungebrochenes Unterscheidungsvermögen).

Sanskrit Text:

viveka-khyātir-aviplavā hānopāyaḥ ||26||

विवेकख्यातिरविप्लवा हानोपायः ॥२६॥

viveka khyatir aviplava hanopayah ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viveka = Unterscheidungskraft, Differenzierung, Auseinanderhalten
  • khyāti = Erkenntnis, Begreifen
  • a-viplava = ununterbrochen, ständig, gerichtet
  • hāna = Ziel, Ende
  • upāya = Mittel
  • hanopāya = Mittel zum Ziel

Kommentar

Viveka kyati ist mehr als Unterscheidungsvermögen, es ist die Lebenseinstellung des Unterscheidungsvermögens, andauerndes Unterscheidungsvermögen.

Patanjali meint hier die Unterscheidung zwischen purusha und prakriti. Es ist die ständige Unterscheidung zwischen dem, was ich wirklich bin, dem Objekt des Sehens und dem Instrument der Wahrnehmung (Körper und Geist). Ich bin das Bewußtsein. Gedanken, Gefühle und Bilder sind die Instrumente der Wahrnehmung, und das Äußere ist das Wahrgenommene, das Objekt. Wenn ich mich also zum Beispiel ärgere, dann weiß ich, mein eigentliches Ich ist davon unberührt. Ich kann feststellen, der Ärger ist eine Manifestation des Instruments der Wahrnehmung, eben meines Geistes, und er beruht darauf, daß bestimmte äußere wahrgenommene Sachen nicht so sind, wie das Instrument der Wahrnehmung es gerne hätte. Sich dessen immer bewußt zu sein, diese Unterscheidung zu machen, das ist dieses viveka kyati, das Patanjali hier beschreibt.

Es gibt natürlich noch eine andere Unterscheidungskraft, eine relative viveka. Das ist die Unterscheidung zwischen dem wahren Glück und dem Leid, zwischen dem, was uns zum Glück führt und was zum Leid, was ewig ist und was vergänglich u.s.w.

Im samkhya-System gilt viveka kyati als das Mittel schlechthin, avidya zu zerstören. Es gibt auch Methoden, wie wir viveka schärfen können, zum Beispiel die sakshi-bhav-Techniken des Beobachtens, wo wir lernen, etwas wahrzunehmen und zu beobachten, zum Beispiel ein Gefühl, einen Gedanken, ein Geräusch, und gleichzeitig feststellen: Ich bin nicht das Wahrgenommene. Allmählich stellen wir fest: Ich bin der Beobachter, ich bin nicht das Beobachtbare. Die vipassanaMeditation, die Beobachtungsmeditation der Buddhisten, ist eigentlich keine urbuddhistische Methode, sondern sie ist als sakshi bhav im Yoga schon lange vorher bekannt. Das umfaßt sowohl eine Meditationstechnik als auch eine Lebenseinstellung wie auch Unterscheidungskraft in jeder Situation. Wenn wir uns darin wieder und wieder üben, verliert sich langsam diese Bindung an die prakriti. Man beobachtet und erkennt, hier ist ein Mensch, der denkt, handelt, fühlt, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin das Bewußtsein dahinter, der Beobachter. Man kann auch sagen, ich bin etwas anderes als dieser Körper. Ich bin jemand anders als diese Gedanken und diese Gefühle, denn die kann ich alle wahrnehmen. Das kann man schulen und mit der Zeit immer mehr fühlen. So kommen wir zur Befreiung. Ein Selbstverwirklichter lebt ständig in diesem Bewußtsein.

Hier könnten die Aphorismen des Patanjali eigentlich zu Ende sein. Er hat uns bis hierher schon so viel beigebracht. Jetzt macht er es uns noch einfacher, mindestens bis zum Ende des 2. Kapitels, wo er leichtere, konkretere und praktischere Techniken gibt. Denn jetzt folgen die acht Stufen des Raja Yoga, die ashtangas.

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