Kapitel 4, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Siddhis (übernatürliche Kräfte) sind angeboren oder werden durch Kräuter, mantras, Askese-Übungen oder samadhi erlangt.

Sanskrit Text:

janma-oṣadhi-mantra-tapas-samādhi-jāḥ siddhayaḥ ||1||

जन्मओषधिमन्त्रतपस्समाधिजाः सिद्धयः ॥१॥

janma oshadhi mantra tapas samadhi jah siddhayah ||1||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • janma = Geburt, Abstammung
  • oṣudhi = Drogen, Kräuter, Heilpflanzen
  • mantra = Mantra, Klangenergie
  • tapas = Askese, Selbstzucht
  • samādhi = überbewusster Zustand, Ziel des Yoga
  • -jāḥ = entstehen aus, kommen von
  • siddhayaḥ = übernatürliche Kräfte, übernatürliche Fähigkeiten

Kommentar

Diesen Vers haben wir schon behandelt (s. III 15).

Übernatürliche Kräfte kann man nicht nur durch spirituellen Fortschritt erlangen, sondern auch auf anderen Wegen.

Wenn jemand übernatürliche Kräfte zur Schau stellt, kann man zuerst einmal überprüfen, ob er irgendeinen Zaubertrick anwendet. Vieles, was als übernatürlich erscheint, beruht einfach nur auf Taschenspieler- und Schauspielertricks. Swami Vishnu hatte als Jugendlicher das Hobby, den Trick hinter angeblichen übernatürlichen Kräften von Menschen herauszufinden. Als Jugendlicher war er ein großer Skeptiker, der von Spiritualität, Heiligen u.s.w. wenig gehalten hat. Denn es gibt in Indien sehr viele Pseudomeister und Pseudoheilige – und nicht nur in Indien.

Einmal sah er unterwegs, wie jemand auf dem Rücken auf dem Boden lag und einen riesigen Stein auf dem Bauch trug. Alle dachten, das muß ein großer Heiliger sein, haben sich verneigt und ihm Geld gegeben. Swami Vishnu hat sich überlegt: „Wie ist das möglich?“ Und er dachte: „Irgendwann muß der ja mal aufs Klo gehen. Ich warte hier einfach lang genug.“ Gegen Abend kamen Schüler des „Heiligen“ und wollten den Weg absperren. Aber Swami Vishnu weigerte sich, wegzugehen. Es wurde immer später, und irgendwann fragte der Mann, der dort lag: „Du willst jetzt nicht gehen?“ Swami Vishnu antwortete: „Nicht, bevor ich deinen Trick herausgefunden habe.“ – Was ja an sich schon eine Anmaßung ist, jemandem, der als heilig gilt, einen Trick zu unterstellen! Daraufhin fragte der Mann: „Wieviel Geld hast du dabei?“ „Ja, so ein paar Paisas“. „Gut, gib sie mir, dann zeige ich es dir.“ Swami Vishnu gab ihm seine paar Münzen. Der Mann öffnete seine Beine. Zwischen den Oberschenkeln lag ein kleinerer Stein, auf dem der riesige Felsblock so lag, daß es ausgesehen hatte, als ob der Fels auf seinem Oberschenkel und Bauch ruhen würde. Bei solchen Dingen muß man also durchaus kritisch sein.

Swami Vishnu hat öfter versucht, uns zu desillusionieren, und gesagt: „Hört auf mit eurem naiven Glauben.“ Aber er sagte, in Indien sei das auch nicht anders. Einmal wollte er zeigen, wie leicht man auf irgendwelche Vorspiegelungen hereinfällt:

Eines Abends gab er einen öffentlichen Vortrag. Am Ende des Vortrags kam ein sehr asketisch wirkender Inder kurz herein, setzte sich einen Augenblick für eine Meditation hin und ging dann wieder hinaus. Swami Vishnu stellte ihn mit den Worten vor: „Das ist ein ganz großer Yogi aus dem Himalaya. Seit zwanzig Jahren spricht er nicht mehr. Morgen früh wird er zum ersten Mal wieder etwas sagen, aber nur zehn Minuten lang. In diesen zehn Minuten wird er denen, die dann anwesend sind – und es dürfen maximal nur zehn Leute sein – eine Minute lang ganz wichtige Ratschläge geben. Das macht er nur zwischen 2.30h und 2.40h nachts. Jeder, der dabei sein will, muß vorher 2000 Mark bezahlen. Anmeldung ist nicht möglich. Die ersten, die kommen, dürfen rein.“ Das hat er bei einem Vortrag von ungefähr hundert Leuten gesagt. Nachts um ein Uhr warteten über zweihundert Leute vor dem Hotel. Swami Vishnu hat sie alle hereingelassen und den großen Meister enthüllt, der gar kein Inder war, sondern ein Westler, der sich das Gesicht gefärbt hatte. Und er hat gesagt: „So naiv und leichtgläubig seid ihr! Ohne irgend etwas zu prüfen, glaubt ihr sofort, daß jemand im Besitz der alleinigen Weisheit ist.“ Denn die meisten der Zuhörer waren Menschen, die auch Swami Vishnu nicht kannten und gar nicht wissen konnten, ob er selbst überhaupt authentisch war oder nicht. Natürlich hat er ihnen das Geld wieder zurückgegeben und sie darauf hingewiesen, daß sie sich das eine Lektion sein lassen sollten.

Wenn man einen Meister einmal geprüft hat, dann folgt man ihm natürlich. Aber man sollte nicht naiv sein und sich von Showbusiness beeindrucken lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ein Riesen-Showbusiness aufgezogen haben. Mit ein bißchen psychologischer Show kann man die meisten Menschen betrügen. Natürlich, einfach, authentisch zu sein, wirkt aber langfristig besser.

Natürlich gibt es nicht nur Zaubertricks, sondern auch echte siddhis. Aber selbst diese sind kein verläßliches Zeichen dafür, daß jemand tatsächlich ein großer Meister ist. Ethisches Verhalten ist ein viel wichtigeres Zeichen.

Wobei man dabei auch nicht das Kind mit dem Bad ausschütten darf. Selbst hoch entwickelte (aber noch nicht voll verwirklichte) Meister können einmal einer Versuchung erliegen. Das heißt noch lange nicht, daß sie deshalb verachtenswert sind oder daß wir das Recht haben, sie zu verurteilen. Ich habe von spirituellen Lehrern gehört, die zweifellos ernsthaft waren, nie Anspruch auf Vollkommenheit erhoben haben und etwas sehr Großartiges aufgebaut haben. Und plötzlich kam heraus, daß sie einmal in ihrem Leben, vor vielen Jahren irgend etwas Komisches oder nicht hundertprozentig Ethisches gemacht haben. Und schon liefen alle Schüler weg, oder der Lehrer wurde von seinen eigenen Schülern rausgeworfen. Auch bei einer relativ geringfügigen Sache ist ein Meister sofort unten durch, nur, weil er nicht ganz so perfekt ist, wie die Schüler es in ihn hineinprojizieren.

Wir müssen uns also vor verschiedenen Sachen hüten. Zum einen dürfen wir uns nicht von Shows beeindrucken lassen, auch nicht von übernatürlichen Kräften. Aber es gibt auch echte Meister, die trotzdem auch einmal einen Fehler machen. Man muß letztlich schauen: Ist es wirklich nur ein Fehler, oder ist es ein systematisches Vorgehen, bei dem ein Meister seine Schüler und Schülerinnen ausnützt und ruiniert. Das gibt es ja leider auch. Dann wird es sehr unethisch.

Siddhis können auch erlangt werden als Ergebnis der Geburt. Manche Menschen haben siddhis von Geburt an, wahrscheinlich durch karmische Eindrücke aus früheren Leben.

Manche Menschen können Kräfte erzeugen durch Drogen, Pilze, Kräuter und ähnliches.

Es gibt auch Rituale und mantras, mit denen man spezifische übernatürliche Kräfte erzeugt, wie zum Beispiel der Feuerlauf, von dem ich schon berichtet habe.

Ich habe einmal eine kavâdi-Zeremonie zur Verehrung von Shanmug (myth.: anderer Name von Subramanya, dem Sohn Shivas) miterlebt. Dort hat jemand bestimmte Rituale ausführt und anschließend seine Haut mit 108 Speeren durchbohrt und mit einem Metallgestell befestigt (die Speerspitze im Körper, der Schaft im Metallgestell). Anschließend tanzte und sang er zwei Stunden lang. Es floß fast kein Blut, es gab keine Infektionen und innerhalb von wenigen Stunden waren alle Wunden zu. Man sah nichts mehr. Rituale und mantras können also außergewöhnliche Kräfte verleihen. Der Ausführende des Rituals befand sich in einem Trancezustand, jenseits des Normalbewußtseins. Er stellte seinen Körper der Gottheit zur Verfügung. Das ist, neben der Verehrung, der zweite Sinn dieses Rituals: Man stellt sich als Kanal Gottes zur Verfügung, um spirituelle Energie zu verbreiten.

Übungen der Selbstdisziplin, tapas, haben wir bereits besprochen, auch, daß Patanjali die intensive Übung von asanas und pranayama als tapas bezeichnen würde. Wenn man ein paar Monate lang jeden Tag elf bis zwölf Stunden lang pranayama macht, bekommt man bestimmt übernatürliche Kräfte.

Und samadhi bringt natürlich auch übernatürliche Kräfte.

Im nächsten Vers erklärt Patanjali, daß diese scheinbar übernatürlichen Kräfte nicht wirklich übernatürlich sind.

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