Kapitel 3, Vers 11

Deutsche Übersetzung:

Durch Abnahme der Zerstreutheit und Zunahme der vollkommenen Konzentration im Geist entwickelt sich samadhi.

Sanskrit Text:

sarvārthatā ekāgrātayoḥ kṣayodayau cittasya samādhi-pariṇāmaḥ ||11||

सर्वार्थता एकाग्रातयोः क्षयोदयौ चित्तस्य समाधिपरिणामः ॥११॥

sarvarthata ekagratayoh kshayodayau chittasya samadhi parinamah ||11||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sarva = alles, vieles
  • artha = bezogen auf
  • sarvārthata = Zustand mentaler Zerstreutheit, viele Objekte
  • ekāgratā = Sammlung, Konzentration, Einpünktigkeit, ein Objekt
  • kṣaya = absteigen, abnehmen, aufhören, immer weniger
  • udaya = aufsteigen, zunehmen, zunehmend
  • citta = Verstand, Geist, alles Wandelbare des Menschen
  • samādhi = überbewusster Zustand, vollkommene Erkenntnis
  • pariṇāmaḥ = Wandlung, Entwicklung

Kommentar

Im Grunde genommen ist das eine Wiederholung dessen, was Patanjali im ersten Kapitel gesagt hat, nämlich die Praxis von abhyasa (Übung) und vairagya (Leidenschaftslosigkeit, Nichtanhaften).

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Kapitel 3, Vers 12

Deutsche Übersetzung:

Wenn die auf- und absteigenden Geistesinhalte genau gleich sind, entwickelt sich vollkommene Konzentration.

Sanskrit Text:

tataḥ punaḥ śātoditau tulya-pratyayau cittasya-ikāgratā-pariṇāmaḥ ||12||

ततः पुनः शातोदितौ तुल्यप्रत्ययौ चित्तस्यैकाग्रतापरिणामः ॥१२॥

tatah punah shatoditau tulya pratyayau chittasya ikagrata parinamah ||12||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = dann
  • punaḥ = wieder
  • śāntā = ruhig, aufgelöst, sich beruhigt
  • udita = gesagt, aufgestiegen, aufgegangen
  • tulya = genau gleich, ähnliche
  • pratyayau = Vorstellung, Gedanke, Eindrücke
  • cittasya = des Verstandes, Geist, alles Wandelbare des Menschen
  • ekāgratā = Sammlung, Konzentration, Einpünktigkeit
  • pariṇāma = Wandlung, Entwicklung zu, Veränderung

Kommentar

Dieser Aphorismus beschreibt noch einmal von einem anderen Standpunkt aus, was samprajnata samadhi ist. Im Grunde genommen sind samprajnata samadhi und ekagrata gleichbedeutend. Ekagrata ist Einpünktigkeit des Geistes. Ekagrata hat zwei Stufen: die eine ist dhyana, die zweite samprajnata samadhi. Das ist der Zustand, in dem zwei aufeinanderfolgende Gedanken gleich sind. Und das können sie nur dann wirklich sein, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht zwischen Worten, Bildern und Emotionen hin- und herspringt, sondern das geht nur, wenn wir in der Essenz eines Objektes sind.

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Kapitel 3, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Dieses erklärt die Veränderungen der Elemente und der Sinnesorgane in bezug auf Form, Zeit und Zustand.

Sanskrit Text:

etena bhūtendriyeṣu dharma-lakṣaṇa-avasthā vyākhyātāḥ ||13||

एतेन भूतेन्द्रियेषु धर्मलक्षणावस्था व्याख्याताः ॥१३॥

etena bhutendriyeshu dharma lakshana avastha vyakhyatah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • etena = durch dieses, dadurch
  • bhūtā = die Elemente, die Materie
  • indriyeṣu = in den Sinnesorganen
  • dharma = Eigenschaft, Beschaffenheit, im übertragenen Sinne: Form
  • lakṣaṇā = Attribut, Merkmal, die innere Qualität von etwas
  • avasthāḥ = Zustand
  • pariṇāma = Wandlung, Veränderung, Entwicklung zu
  • vyākhyā = Erklärung, Kommentar
  • vyākhyātāḥ = werden erklärt

Kommentar

Wenn wir uns auf diese Weise konzentrieren, verändert sich unsere Wahrnehmung von Form, Zeit und Sinnesorganen. Wir nehmen nicht mehr Formen wahr, es gibt kein Zeitempfinden mehr, wir spüren die Elemente nicht mehr und die Sinnesorgane sind nicht mehr aktiv.

Zeit kann es nur geben, wenn Dinge sich verändern. Wenn zwei Gedanken identisch sind, gibt es keine Zeit mehr. Es gibt auch keinen Zustand und keine Sinneswahrnehmungen mehr, denn es gibt niemanden mehr, der etwas wahrnimmt.

In dem Maße, in dem wir in ekagrata sind, verändern sich all diese Dinge. So ist auch unser Geist nicht mehr durch sie begrenzt.

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Kapitel 3, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Es gibt einen gemeinsamen Besitzer aller vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Eigenschaften.

Sanskrit Text:

śān-odita-avyapadeśya-dharmānupātī dharmī ||14||

शानोदिताव्यपदेश्यधर्मानुपाती धर्मी ॥१४॥

shan odita avyapadeshya dharmanupati dharmi ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śānta = das Abgeklungene, Vergangene
  • udita = das Aufgekommene, Manifestierte, Gegenwärtige
  • avyapadeśya = das Unmanifeste, in der Zukunft liegende, Zukünftige
  • dharma = die Eigenschaften, der natürlichen Aufgabe
  • anupātī = basierend auf, aufeinander bezogen, gemeinsam
  • dharmī = des die Eigenschaften besitzenden, Objekt oder Person

Kommentar

Also bei all diesen parinama, Veränderungen, bleibt etwas gleich, und das ist natürlich unser Selbst, purusha oder der atman.

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Kapitel 3, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Ursache der verschiedenen Entwicklungen sind die verschiedenen Naturgesetze.

Sanskrit Text:

kramānyatvaṁ pariṇāmānyateve hetuḥ ||15||

क्रमान्यत्वं परिणामान्यतेवे हेतुः ॥१५॥

kramanyatvam parinamanyateve hetuh ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • krama = Abfolge, Verlauf
  • anyatvaṁ = Unterschied, Verschiedenheit
  • pariṇāma = Wandlung, Entwicklung, Veränderung
  • anyatva = Unterschied, Verschiedenheit
  • hetu = Ursache

Kommentar

Die Naturgesetze sind die Ursache für alles, was sich im Leben verändert. Sie sind auch die Ursache für das, was Patanjali als nächstes beschreibt, nämlich die sogenannten übernatürlichen Kräfte. Auch diese Kräfte beruhen auf Naturgesetzen, aber eben auf einer anderen Ebene. Es sind überphysische Naturgesetze. Und sie sind nicht nur überphysisch, sondern auch überparapsychologisch, also überastral. Alle Umwandlungen unterliegen Naturgesetzen. Auch das, was scheinbar als siddhis, übernatürliche Kräfte, bezeichnet wird, entspricht in Wahrheit der Natur – nur ist uns das nicht ohne weiteres einsichtig, weil es Gesetze auf einer anderen Ebene sind.

Hier machen wir einen kurzen Sprung zum ersten Vers des vierten Kapitels, wo Patanjali sagt, siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, mantras, Übungen der Selbstzucht oder durch samadhi erreicht.

  • Durch Geburt: Manche Menschen haben einfach von Anfang an irgendwelche übernatürliche Fähigkeiten, wahrscheinlich, weil sie in früheren Leben viel spirituelle Praktiken gemacht haben und von daher weiter entwickelt sind.
  • Durch medizinische Kräuter und Drogen: Das kennt man zum Beispiel bei schamanistischen Kulturen. Gewisse Kräuter und Essenzen bringen den Geist in einen anderen Bewußtseinszustand. Mittels Drogen kann man zu allen möglichen bewußtseinserweiternden Zuständen und Erfahrungen kommen. Aber das ist eine gefährliche Sache, weshalb wir das im Yoga nicht anwenden.
  • Dann natürlich mantras, was in diesem Zusammenhang auch alle Formen von Zeremonien und Ritualen mit einschließt. Ich habe einmal ein Feuerlauf-Ritual miterlebt. Zuerst wurden bestimmte Rituale gemacht. Anschließend konnte man über glühende Kohlen gehen, auch darin stehen oder sie in die Hand nehmen. Der Körper war immun gegen die Kraft des Feuers.
  • Durch Übungen der Selbstzucht (tapas), wobei eine intensive asana– und pranayama-Praxis von Patanjalis Standpunkt aus bereits zur Askese zählt. Oder auch Fasten. Fasten macht den Geist leicht, durchlässig, empfänglich für Subtiles.
  • Und natürlich samadhi.

Hier im dritten Kapitel spricht Patanjali über samyama, das in samadhi mündet, und welche Kräfte man dabei erlangen kann. Aber im vierten Kapitel sagt er: Nicht jeder, der übernatürliche Kräfte hat, hat deshalb auch gleichzeitig samadhi erreicht. Deshalb müssen wir aufpassen und vorsichtig sein. Übernatürliche Kräfte sind nicht das Hauptkriterium zur Beurteilung eines Meisters.

Es wird keinen Meister geben, der nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte irgendwann einmal manifestiert. Er kann gar nicht anders. Selbst wenn er es abstreitet. Man braucht nur mit Schülern eines Meisters zu sprechen, dann erfährt man alles mögliche, was in Gegenwart des Meisters geschehen ist. Ich habe einiges mit Swami Vishnu erlebt. Und uns hat er immer erzählt, er hätte keine siddhis – das war schon fast nicht mehr satya! Aber er hat diese Kräfte nicht bewußt angewendet. Er hat nicht versucht, etwas zu machen. So etwas geschieht bei Meistern einfach. Wenn der Geist zu einer gewissen Konzentration fähig ist, kann man gar nicht anders, dann geschehen Wunder von selbst.

Und es gibt andere Menschen, die aus irgendwelchen der oben genannten Gründe bestimmte Fähigkeiten haben, aber keine Meister sind. Wenn jemand einem etwas über die eigene Vergangenheit sagen kann oder das persönliche mantra errät, oder aus der Hand heraus etwas manifestiert, heißt das nicht notwendigerweise, daß er ein Meister ist. Es gibt genügend Scharlatane. Und manchmal sind es auch einfach nur Taschenspielertricks.

In seiner Jugend hat Swami Vishnu sich hobbymäßig mit Zauberkünsten beschäftigt. Im Sivananda-Ashram gab es regelmäßig Bunte Abende. Im Rahmen eines solchen Abends hat Swami Vishnu einmal ein paar Zaubertricks aufgeführt. Anschließend hat Swami Sivananda ihn gebeten, ihm zu zeigen, wie das funktioniert, und Swami Vishnu hat ihm die Tricks dahinter gezeigt. Daraufhin hat Swami Sivananda gesagt: „Du als swami solltest von heute an niemals mehr solche Zaubertricks vorführen. Du magst sagen, es sind Zaubertricks, aber die Leute werden denken, daß es siddhis sind. Und es kann sein, daß du irgendwann einmal in Versuchung gerätst.“ Deshalb hat Swami Vishnu diese Zaubertricks danach nie mehr vorgeführt.

Swami Vishnu hat uns immer davor gewarnt, zu leichtgläubig zu sein. Auch später noch hat er oft Pseudomeister, die irgendwelche angeblichen übernatürlichen Kräfte demonstrierten, mit Video aufgenommen, das Video dann im Zeitlupentempo abgespielt und so versucht, den Trick dahinter herauszufinden.

Am Anfang des dritten Kapitels hat Patanjali generell gesagt: Durch Anwendung von samyama erreichen wir prajna, direktes Wissen, und jaya, Herrschaft, über alles. Nun kommt er zu den praktischen Anwendungen und zeigt uns auf, wie wir samyama auf bestimmte Dinge anwenden können.

Das klingt teilweise ganz phantastisch. Er beschreibt zum Beispiel, wie wir die Vergangenheit und die Zukunft erkennen können, hellsichtig werden, wie wir die Sprache der Wesen verstehen können, ohne die Sprache systematisch zu lernen, wie wir frühere Leben kennenlernen oder die geistigen Vorstellungen eines anderen wissen können – also Telepathie –, wie wir unsichtbar und unhörbar werden können, wie wir die Zeit unseres Todes erkennen können, wie wir bestimmte Eigenschaften und Kräfte in uns entwickeln, Subtiles wahrnehmen können, wie wir die Welt erkennen, Astrologie, Anatomie und Physiologie verstehen können, ohne sie studieren zu müssen, wie wir Hunger und Durst beherrschen, Kontakt zu höheren Wesen aufnehmen können, intuitive Sinne entwickeln können, wie wir levitieren und Übernatürliches hören können u.s.w.

Diese Verse sind aber nicht nur Anleitungen für übernatürliche Kräfte, sondern enthalten auch praktische Anweisungen und Anwendungsmöglichkeiten für das Leben jedes Aspiranten.

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Kapitel 3, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf die drei Arten der Veränderungen (Form, Zeit und Zustand) kommt Wissen um Vergangenheit und Zukunft.

Sanskrit Text:

pariṇāmatraya-saṁyamāt-atītānāgata jñānam ||16||

परिणामत्रयसंयमाततीतानागत ज्ञानम् ॥१६॥

parinamatraya sanyamat atitanagata jnanam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pariṇāma = Wandlung, Veränderung, Entwicklung
  • traya = die drei
  • saṁyamā = Konzentration, Versenkung, Samyama, Meditation
  • atīta = vergangen
  • anāgata = künftig
  • jñāna = Wissen, Verständnis, Erkenntnis

Kommentar

Wenn wir wissen wollen, wie Vergangenheit und Zukunft von etwas beschaffen ist, dann müssen wir schauen, wie es sich momentan verändert oder wie es sich in einem gewissen Zeitraum verändert hat. So können wir die Gesetze herausfinden, wie es sich in der Vergangenheit verhalten hat und wie es sich in Zukunft entwickeln wird.

Das ist eine Technik, die wir oft rein verstandesmäßig anwenden: Man stellt fest, daß ein Grashalm heute fünf Zentimeter hoch ist, vor zwei Wochen war er zwei Zentimeter hoch – was ist die logische Schlußfolgerung, wie hoch er in zwei Wochen sein wird? Wahrscheinlich um die acht Zentimeter. Aus Erfahrung wissen wir, daß das nicht immer ganz genau zutrifft. Denn wenn wir ein Baby anschauen, ist es bei der Geburt um die 50 Zentimeter groß, mit zwei Jahren 80 Zentimeter, mit fünf Jahren etwa 1,20 m – wenn wir das hochrechnen, wie groß müßte jemand sein, der 100 Jahre ist? – Das klappt also nicht so ganz!

Vieles kann man mit dem Intellekt erkennen und steuern. Aber es gibt etwas jenseits des Intellekts, und das ist unsere Intuition, die wir wiederum mit samyama erwecken können. Wenn man also die Zukunft oder auch die Vergangenheit erkunden will, schaut man, wie die Veränderung in einem gewissen Zeitraum verläuft. Dazu konzentriert man sich gleichzeitig entweder auf einen Punkt in der Vergangenheit und den jetzigen Zeitpunkt oder auf zwei auseinanderliegende Punkte in der Vergangenheit und macht samyama auf die Veränderung dazwischen.

Wenn du beispielsweise wissen willst, wie sich ein Mensch in Zukunft entwickeln wird, versuche, dich zu erinnern, wie der Mensch vor einem Jahr war, analysiere, wie er heute ist, und nimm dann den Menschen von heute und den von vor einem Jahr gleichzeitig wahr. Und während du das gleichzeitig wahrnimmst, kannst du dich auf die Veränderung konzentrieren, die dazwischen passiert ist. Und wenn du dich absichtslos und urteilslos auf diese Veränderung konzentrierst, verstehst du intuitiv, wie dieser Mensch in Zukunft sein wird. Das kann manchmal ganz praktisch sein, wenn man seine Beziehung zu einem Menschen analysieren will. Man kann überlegen, wie ist die Beziehung jetzt, wie war sie vor einem halben Jahr, sich auf die Veränderung konzentrieren, und dann kommt eine Intuition, wie sich die Beziehung in Zukunft entwickeln wird. Wobei wir natürlich wissen müssen, daß die Zukunft nie determiniert ist. Sobald wir – oder der andere – neue Ursachen setzen, entwickelt sich die Zukunft anders. Man kann die zukünftige Entwicklung also nur insoweit erkennen, als keine neuen Ursachen gesetzt werden. Da die meisten Menschen sehr unbewußt leben und nichts wirklich aus ihrem freien Willen entscheiden, sondern sich von ihren Verhaltensmustern bestimmen lassen, hat man in der Regel eine ziemlich hohe Treffsicherheit – wenn man das will. Die wenigsten Menschen überlegen sich wirklich, was sie tun könnten und tun dann auch wirklich etwas, um den Lauf der Dinge zu verändern.

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Kapitel 3, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Klang, Bedeutung und geistige Vorstellung sind normalerweise im Geist miteinander vermengt; durch samyama (auf den Klang) entwirren sie sich und man erlangt Wissen der Klänge aller lebenden Wesen.

Sanskrit Text:

śabdārtha-pratyayāmām-itaretrarādhyāsāt-saṁkaraḥ tat-pravibhāga-saṁyamāt sarvabhūta-ruta-jñānam ||17||

शब्दार्थप्रत्ययामामितरेत्रराध्यासात्संकरः तत्प्रविभागसंयमात् सर्वभूतरुतज्ञानम् ॥१७॥

shabdartha pratyayamam itaretraradhyasat sankarah tat pravibhaga sanyamat sarvabhuta ruta jnanam ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śabda = Wort, Ton, Benennung
  • artha = Objekt, Zweck, Bedeutung
  • pratyayāna = Gedanke, Verstandesinhalt, Erfahrung
  • itara = das eine
  • itaretarā = das eine und das andere
  • adhyāsa = auf etwas legen, basieren aufeinander
  • saṁkara = Vermischung, Verwirrung, sind verwoben
  • tat = von ihnen
  • pravibhāga = Trennung, Auflösung, Differenzierung
  • saṁyamā = Konzentration, Versenkung, Samyama, Meditation
  • sarva = alle
  • bhūta = Wesen, Lebewesen
  • ruta = Klang, Ton, Sprache, Ausdrucksform
  • jñāna = Wissen, Verständnis, Erkenntnis

Kommentar

Hier erfahren wir, wie wir Menschen und auch Tiere verstehen können, deren Sprache wir nicht kennen.

Wie erwähnt, sind normale Gedanken verbunden mit Klängen, Bildern und Vorstellungen. Mit Vorstellungen sind auch Gefühle verknüpft. Wenn wir eine Sprache lernen wollen, können wir auf herkömmliche Weise Wörter, Grammatik u.s.w. lernen und die verschiedenen Bestandteile zusammensetzen. Oder wir konzentrieren uns voll auf den Klang der Sprache an sich, und zwar auf ganz entspannte Weise, noch nicht einmal mit der Absicht, verstehen zu wollen. Und wenn man sich ganz entspannt konzentriert auf die Laute egal welcher Wesen, dann versteht man plötzlich, was sie meinen. Das kannst du nächstes Mal ausprobieren, wenn du irgendwo bist, wo sich Menschen in einer fremden Sprache unterhalten. Versuche einfach, dich ganz entspannt dem Klang hinzugeben, ihn in dich aufzunehmen, als sei es das schönste Musikstück. Wenn du das eine Weile machst, bekommst du plötzlich ein Gefühl für die Bedeutung – auch für abstrakte Inhalte. Die modernen Super-Learning-Methoden für Sprachen beruhen letztlich auf diesem Prinzip. Statt Grammatik und Vokabeln zu pauken, hört man einfach zu und fängt relativ zügig an, selbst in der Sprache zu sprechen. Teilweise erzielt man damit gute Erfolge. Ob es für alle Zwecke ausreicht, sei dahingestellt. Aber auf jeden Fall ist es eine sehr gute Ergänzung zum herkömmlichen Büffeln.

Und wir können es auch mit einer Katze ausprobieren, einem Hund oder einem Vogel, sogar mit einem Bach. Auch Bäche können etwas ausdrücken. Wenn man sich voll auf das Rauschen konzentriert, erfährt man vielleicht plötzlich, was der Bach einem sagen will, oder auch, was Gott einem über das Rauschen des Baches sagen will.

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Kapitel 3, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Durch die direkte Erfahrung von samskaras (Eindrücke im Unterbewußtsein) entsteht das Wissen um das vorige Leben.

Sanskrit Text:

saṁskāra-sākṣātkaraṇāt pūrva-jāti-jñānam ||18||

संस्कारसाक्षात्करणात् पूर्वजातिज्ञानम् ॥१८॥

samskara sakshatkaranat purva jati jnanam ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • saṁskāra = Eindrücke, Neigungen, die Erfahrung aus den vorangegangenen Handlungen
  • sākṣāt = direkt, unmittelbar
  • sākṣātkaraṇa = direkte Erfahrung
  • pūrva = vorher
  • jāti = Geburt
  • jñāna = Wissen, Verständnis, Erkenntnis

Kommentar

So geht man in frühere Inkarnationen hinein. Manche Reinkarnationstherapeuten arbeiten mit dieser Technik.

Eine Weise, in frühere Leben zu gehen, ist, sich zu entspannen und mit der Vorstellung in die Vergangenheit hineinzugehen. Diese Methode habe ich einmal im Rahmen eines Workshops als kollektive Rückführung kennengelernt. Swami Vishnu hat zwar grundsätzlich gesagt, man soll keine Rückführung machen, man soll nicht in frühere Leben gehen, aber er war nicht immer ganz so konsequent, was ja typisch indisch ist. Zweimal im Jahr hat er Festivals veranstaltet, zu denen er bekannte Leute eingeladen hat, einmal auf den Bahamas und im Sommer im Hauptashram in Kanada. Zu einem solchen Symposium, bei dem es um Yoga und Reinkarnation ging, hat er alle Fachleute eingeladen, die auf diesem Gebiet Rang und Namen hatten. Dazu gehörten Jan Stevenson, Raymond Moody und die bekannteste amerikanische Reinkarnationstherapeutin, die dort einen Workshop für kollektive Rückführung durchgeführt hat. Unter ihrer Anleitung legten wir uns auf den Rücken, entspannten uns, stellten uns vor, eine Wolke kommt herunter, wir setzen uns auf sie, und die Wolke trägt uns in die Vergangenheit. Dann sollten wir von oben hinunterschauen und sowie wir etwas sehen, sollten wir herunterkommen, uns dort niederlassen und schauen, was geschieht. Gut, dabei haben wir dann Verschiedenes gesehen. Ich habe mich zum Beispiel auf Eukalyptusbäumen in Australien gesehen, umgeben von Koalabären, die ich zu beschützen versuchte, und dabei wurde ich von Piraten erschossen. Ich bin da etwas skeptisch. Es ist nicht unbedingt sicher, daß das, was wir auf diese Weise sehen, auch wirklich ein früheres Leben ist. Denn der Geist hat eine lebhafte Phantasie. Wir können uns auch einiges ausmalen. Eigentlich kann man nur dann etwas sicherer sein, daß es ein früheres Leben ist, wenn man sich mit ausreichender Sicherheit an den Namen erinnert und an konkrete, nachvollziehbare Ereignisse, die man überprüfen kann, zum Beispiel in alten Gemeinde- oder Kircheneinträgen. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die bei solchen Rückführungen zu so konkreten Angaben kommen, daß man sie über Standesämter oder kirchliche Register nachprüfen kann.

Eine zweite Weise wäre, man nimmt ein samskara (Eindruck im Geist, Fähigkeit) wahr, der in diesem Leben keine Begründung hat. Jemand hat zum Beispiel große Angst vor Wasser, und man kann mit Sicherheit ausschließen, daß er oder sie als Kind ins Wasser gefallen ist. Es könnte ja auch sein, daß man als Baby in die Badewanne gefallen und fast ertrunken wäre und daher Angst vor dem Wasser hat. Oder jemand hat Angst vor dem Feuer, weil er als Kind in eine Flamme oder auf eine heiße Herdplatte gefaßt hat oder Zeuge geworden ist, wie jemand verbrannt ist. Oder man hat als Kind einen Horrorfilm gesehen, wo Menschen im Feuer umkamen oder als Hexen verbrannt wurden. Das wären alles logische Erklärungen. Aber angenommen, jemand hat vor etwas Angst, ohne daß es in diesem Leben eine Begründung dafür gibt, dann läßt das auf Eindrücke aus früheren Leben schließen. Man hat zum Beispiel ein Talent, für das es in der eigenen Biographie und in der Genetik der Eltern und Vorfahren keine Begründung gibt. Angenommen, jemand ist sehr musikalisch, und weder Vater noch Mutter sind musikalisch, und man wurde auch nicht von Kindheit an gefördert. Dann kann man sich auf diesen samskara konzentrieren, entspannt konzentrieren, mit vollem Bewußtsein. Man kann als Vorarbeit darüber nachdenken, aber das eigentliche samyama, wenn man versucht, diesen samskara intuitiv wahrzunehmen, geschieht ohne Nachdenken. Über die samyama-Konzentration auf dieses Talent oder diese besondere Eigenschaft kommt man in das Leben, in dem der Ursprung dafür gelegt wurde. Beispielsweise Angst vor dem Feuer – dann sieht man plötzlich ein Bild, wo man selbst im Feuer umgekommen ist. Angst vor dem Wasser – man merkt vielleicht, wie man in einem früheren Leben ertrunken ist. Oder man war schon als Kind von Yoga fasziniert, aber keiner sonst aus der Familie, dann kann man sich vielleicht als Yogi irgendwo sehen.

Diese Erinnerungen sind nicht notwendig für das spirituelle Leben. Sie können einem unter Umständen dabei helfen, mit bestimmten Schwierigkeiten besser fertig zu werden. Auf Schwierigkeiten können wir auf verschiedene Weise reagieren: Wir können mit tapas, swadhyaya, ishvara pranidhana arbeiten – wie bereits erläutert –, und mit verschiedenen anderen geistigen oder praktischen Techniken. Oder wir können uns einfach auf die Schwierigkeit an sich konzentrieren, und das kann uns manchmal helfen, zur Ursache zu kommen oder die Lösung zu finden. Allein die Tatsache, daß wir uns darauf konzentrieren, kann oft schon dazu führen, daß es sich auflöst. Wenn es aber etwas ist, was seine Ursache in einem früheren Leben hat, dann kann es sein, daß Bilder aus einem früheren Leben aufsteigen, während wir uns darauf konzentrieren. In einem solchen Fall brauchen wir nicht zu befürchten, verrückt geworden zu sein, sondern wir wissen: Wir sind bewußt in dieses Problem hineingegangen, nicht in der Absicht, unsere früheren Leben zu ergründen, sondern um das Problem zu erfassen, und dabei ist halt jetzt dieses Bild aus einem früheren Leben aufgestiegen. Wenn wir das erkannt haben, kann es uns helfen, mit einer bestimmten vorhandenen Schwierigkeit in unserem jetzigen Leben besser fertigzuwerden. Man muß aber damit umgehen können, man darf aus früheren Leben keine Schuldgefühle entwickeln. Man sollte nicht unbedingt in der Vergangenheit wühlen und nicht grundlos in frühere Leben hineingehen. Deshalb hat Swami Vishnu normalerweise auch davon abgeraten.

Die Reinkarnationstherapeuten argumentieren eben damit, daß, wenn jemand unerklärliche emotionale und psychische Reaktionen zeigt, es ihm manchmal helfen kann, in die Vergangenheit zu gehen, um dann loszulassen. Ich will den therapeutischen Wert auch nicht in Abrede stellen. Es gibt Menschen, die dadurch zu einer gewissen Heilung gekommen sind. Aber als Yogis machen wir es normalerweise nicht.

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Kapitel 3, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf die Gedanken eines anderen erhält man Wissen über seinen Geist.

Sanskrit Text:

pratyayasya para-citta-jñānam ||19||

प्रत्ययस्य परचित्तज्ञानम् ॥१९॥

pratyayasya para chitta jnanam ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pratyaya = Geistesinhalt, Gedanke, direkte Wahrnehmung
  • para = eines anderen
  • citta = Verstand
  • jñāna = Wissen, Verständnis, Erkenntnis

Kommentar

Mit anderen Worten, wenn wir jemanden besser verstehen wollen, können wir versuchen, uns auf seine Gedanken zu konzentrieren. Wir versuchen, seine geistigen Vorstellungen zu erspüren und zu erfühlen. Das ist natürlich schwierig, denn im Normalfall konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen. Wenn wir an einen anderen Menschen denken, haben wir sein äußeres Erscheinungsbild vor Augen. Aber der Körper ist nur der Träger des Geistes. Schwieriger ist es, sich auf den Geist des anderen einzustellen. Da aber der Körper letztlich ein Ausfluß des Geistes ist, können wir uns auch einfach den anderen vorstellen und uns auf ihn oder sie konzentrieren. Das ist eine nützliche Methode, wenn wir uns mit jemandem verkracht haben und uns gerne wieder vertragen möchten – neben allem anderen natürlich, was wir auch tun sollten: Mit ihm oder ihr sprechen, die Kommunikation aufnehmen, einen Dritten als Vermittler zu Hilfe nehmen, ihm/ihr ein Geschenk machen, uns entschuldigen, klar sagen: „So geht es nicht“, auf den Tisch hauen, um Verständigung beten, entsprechende Affirmationen wiederholen, visualisieren, Licht schicken u.s.w. Oder man kann sich eben in den anderen hineinversetzen. Und wenn wir den anderen wirklich von innen heraus spüren, so als ob wir in dem anderen Körper drin wären, identifizieren wir uns mit dem anderen Geist und wissen, was mit ihm los ist.

Mit der richtigen Motivation ist das sicherlich positiv nutzbar. Man konzentriert sich auf einen anderen und lernt, ihn zu verstehen. Man kann besser auf ihn eingehen, sich besser mit ihm vertragen, besser mit ihm zusammenarbeiten und ihm vielleicht auch einen Tip geben zur Hilfe.

Aber es kann natürlich auch mißbraucht werden. Denn wenn man sich gänzlich in den anderen hineinversetzt und es einem wirklich gelingt, im anderen so zu sein, als sei man selbst in dessen Körper, dann kann man theoretisch auch anfangen, dem anderen Gedanken aufzuoktroyieren, ihm vorzuschreiben, was er tun soll. Hier wird es zur Manipulation und zu einem Mißbrauch der siddhis. Und ein Mißbrauch führt immer zu einer karmischen Reaktion.

Deshalb schreckt uns Patanjali im nächsten Vers ab:

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Kapitel 3, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

(Man erhält aber) kein (Wissen) über die zugrundeliegenden (geistigen Faktoren), die nicht Gegenstand des samyama sind.

Sanskrit Text:

na ca tat sālambanaṁ tasya-aviṣayī bhūtatvāt ||20||

न च तत् सालम्बनं तस्याविषयी भूतत्वात् ॥२०॥

na cha tat salambanam tasya avishayi bhutatvat ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • na = nicht
  • ca = und
  • tat = das
  • sa = ihre
  • ālambana = das Zugrundeliegende
  • tasyaḥ = seine
  • aviṣayībhūtatvāt = weil es nicht das Objekt (von samyama) ist

Kommentar

Wir lernen nicht den ganzen Geist des anderen kennen. Wenn wir einen Teilaspekt des anderen erspüren, sollten wir uns nicht einbilden, ihn jetzt vollständig zu verstehen. Dazu ist die menschliche Psyche zu kompliziert. Mit dem einfachen samyama auf einen Menschen lernen wir ihn noch lange nicht vollständig kennen, sondern nur bestimmte Teile seiner Psyche.

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