Kapitel 1, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Sie (die Übung) bekommt ein festes Fundament, wenn sie lange Zeit ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe ausgeführt wird.

Sanskrit Text:

sa tu dīrghakāla nairantarya satkāra-ādara-āsevito dṛḍhabhūmiḥ ||14||

स तु दीर्घकाल नैरन्तर्य सत्कारादरासेवितो दृढभूमिः ॥१४॥

sa tu dirghakala nairantarya satkara adara asevito dridhabhumih ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sa = das, das gleiche
  • tu = in der Tat, jedenfalls
  • dīrgha = lange
  • kāla = Zeit
  • nairantarya = ohne Unterbrechung
  • satkāra = Ernsthaftigkeit, Sorgfalt
  • ādara = Respekt, Rücksicht auf andere
  • āsevita = geübt, befolgt, fortgesetzt
  • dṛḍha = fest, fundiert
  • bhūmi = Grund, Fundament, Erde

 

Kommentar

Viele Menschen praktizieren jahrelang Yoga, aber nur ab und zu. Wenn man ohne Unterbrechung zwanzig Jahre lang Yoga praktiziert, dann ist das Bewußtsein des Göttlichen schon etwas weiter entwickelt. Vom Yoga gibt es keine Pause. Der spirituelle Weg ist so, wie wenn man eine Kugel den Berg hochschiebt. Was passiert, wenn wir eine Pause machen und die Kugel loslassen? – Sie rollt den Berg wieder hinunter, zumindest ein Stück. Es gibt natürlich Ausnahmefälle, wo jemand plötzlich die Selbstverwirklichung erreicht, wenn entsprechende samskaras (Eindrücke im Unterbewußtsein) aus früheren Leben vorhanden sind. Aber im Normalfall müssen wir die Kugel den Berg hochschieben und dürfen sie nicht wieder loslassen. Wir sollten uns auf dem spirituellen Weg nicht eine Weile ausruhen. Lange Zeit bedeutet also bis zur Verwirklichung!

Und was heißt eigentlich „Selbstverwirklichung“? Die Antwort des Yoga lautet: yogash chitta vritti nirodhah – im Geist sind keine Gedanken mehr, wir ruhen in unserem wahren Wesen und haben die Einheit erreicht mit dem Unendlichen. Dann sind wir befreit. Kaivalya (Freiheit; reines Bewußtsein) ist erreicht. Es gibt keine Notwendigkeit mehr für uns, daß noch etwas geschieht.

Im System der sieben bhumikas, den sieben Stufen der Erkenntnis, werden drei Stufen von Selbstverwirklichten erwähnt. Auf der vierten bhumika, asamshakti („durch nichts berührt“) arbeitet der Yogi das karma, das für diesen Körper vorgesehen ist, bewußt ab. Aber er weiß, nicht er handelt, sondern Gott handelt durch ihn. Ein solcher Yogi wird als jivanmukta, lebendig Befreiter, bezeichnet und hat das sogenannte Doppelbewußtsein: Zum einen ist er sich des Göttlichem hinter allem bewußt, zum anderen hat er aber auch noch ein sattviges (rein, erhoben) Ego. Er kann das ganze Universum im allgemeinen spüren und gleichzeitig parallel diesen seinen besonderen Körper und diesen seinen Geist. Der jivanmukta macht nichts mehr wirklich aus eigenem Willen, sondern weil das karma es erfordert. Sein Körper und Astralkörper haben noch ein karma, das ablaufen muß und dazu ist es notwendig, daß er zwischendurch in sein Ego hineingeht. Und er weiß, das karma dieses Körpers läuft ab als Teil des göttlichen Willens. Er spürt den Körper, kann auch Emotionen und alles andere empfinden, aber er weiß, daß dies nur ein Teil von ihm ist. So ähnlich, wie wir den ganzen Körper und gleichzeitig auch einen Finger als Teil davon spüren können. Wenn es notwendig ist, den Finger zu bewegen, dann bewege ich den Finger. Ich spüre mich zwar immer noch als der ganze Körper, aber ich bewege halt nur den Finger. Gleichzeitig geht aber auch mein Herzschlag weiter, ohne daß ich mich darum zu kümmern brauche, der Atem geht weiter, der Magen erfüllt seine Funktion u.s.w. Ähnlich ist es beim jivanmukta. Er weiß, für diesen Körper hat er eine besondere Aufgabe, aber er ist gleichzeitig auch eins mit allem. Alles läuft ab und ist der göttliche Wille. So wie die Funktionen des Körpers ablaufen, ohne daß man eigentlich etwas davon merkt, so läuft der größte Teil des Lebens, des Universums überhaupt, ab. Einiges kann der jivanmukta zwar auch beeinflussen, wenn er merkt, daß es notwendig ist oder die göttliche Energie will, daß er etwas von einem übergeordneten Standpunkt aus ausführt. Aber ansonsten bewegt er diesen kleinen Körper, diesen kleinen Geist und handelt durch sie, bis deren karma abgelaufen ist. Auf der fünften bhumika, padarthabhavani, ist nur wenig karma übrig. Wenn nur noch wenig karma da ist, dann läuft es ab, ohne daß man etwas dazutun muß. Es geschieht einfach. Das Doppelbewußtsein verschiebt sich mehr in Richtung auf das kosmische Universum. Dann handelt der Mensch tatsächlich nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern muß von außen dazu gebracht werden. Wenn man ihm dann nichts zu essen gibt, ißt er nichts mehr. Er merkt auch nichts. Solange das karma für den Körper noch da ist, wird er auch nicht sterben. Der Körper braucht dann einfach nichts. Er wird auch keine Vorträge geben, es sei denn, man bittet ihn darum. Wenn man ihn um etwas bittet, macht er es auch. Er ist eigentlich ein Spielball von dem, was Menschen oder das Schicksal von außen an ihn herantragen. Die siebte und letzte bhumika ist turiya, die endgültige Befreiung. Der Yogi tut nichts mehr, er verschmilzt mit dem Absoluten, er existiert nicht mehr als Persönlichkeit, er ist eins mit Gott, immer sat-chit-ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Ein Beispiel für den padarthabhavani-Zustand („sieht Brahman überall“) ist die Geschichte von Jada Bharata. Er war in seinem früheren Leben ein König gewesen und hatte dort bereits die Vorstufen der Selbstverwirklichung erreicht. Um nun in diesem Leben alle Anhaftungen zu vermeiden, entschied er sich, mit niemandem zu sprechen. Als er unterwegs war, begegnete er einem König, der in einer Sänfte getragen wurde. Einer der Sänftenträger hatte sich den Fuß verknackst und so baten die anderen ihn, ob er nicht die Sänfte mittragen würde. Während sie weitergingen, sprang Jada Bharata plötzlich hoch, weil auf dem Weg eine Schnecke war, die er erst spät gesehen hatte. Die Sänfte bewegte sich unsanft und der König bekam eine Beule. Das wiederholte sich noch einige Male mit verschiedenen Tieren wie Ameisen, Kröten usw., die Jada Bharata am Weg sah und nicht zertreten wollte. Schließlich sprang der König aus der Sänfte, nahm sein Schwert und rief zornig: „Weißt du nicht wer ich bin? Ich bin der Herr über Leben und Tod und du wagst es, das zu tun?“ Nun öffnete Jada Bharata zum ersten Mal den Mund und sagte: „Oh großer König, du denkst du bist Herr über Leben und Tod und kannst noch nicht einmal deinen eigenen Geist beherrschen. Du kannst vielleicht diesen Körper töten, aber das Selbst kannst du nicht töten.“

Abhyasa ist also die Bemühung über lange Zeit ohne Unterbrechung um diesen Zustand der Befreiung. Sicher wird es am Anfang Unterbrechungen geben, ab und zu denkt man an etwas anderes, manchmal muß man sich auch entspannen –, aber grundsätzlich sollte man jeden Tag meditieren, die Praktiken ausführen, über einen langen Zeitraum, ohne ein paar Wochen oder Monate auszusetzen. Es gibt Zeiten, wo wir die Praktiken intensivieren und es gibt Zeiten, wo man weniger asanas, pranayama und Meditation übt, dafür mehr im Rahmen des täglichen Lebens handelt. Aber insgesamt sollte man jeden Tag diese Praktiken durchführen und an den Gedanken, an der Bewußtheit des Göttlichen, arbeiten. Das ist wichtig. Dann wird es irgendwann tatsächlich ohne Unterbrechung sein, mit aufrichtiger Hingabe und Begeisterung, satkara, nicht nur mechanisch.

Ist man schon längere Zeit auf dem spirituellen Weg, besteht die Gefahr, daß die Praxis irgendwann einmal mechanisch wird. Praktiziert man jahrelang jeden Tag die gleiche asana-Reihe, muß man ab einem bestimmten Punkt mit Langeweile kämpfen, oder man fängt an, während des Übens andere Gedanken zu spinnen. Dann ist es besonders wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, warum man überhaupt übt, sich zu konzentrieren, bewußt zu atmen, mantras (Sanskritwort oder -vers) zu wiederholen, eventuell auch die Praxis etwas zu ändern, damit der Geist wieder neuen Enthusiasmus bekommt. Die Praktik sollte von ganzem Herzen kommen, nicht halbherzig sein.

Bei den meisten Menschen, die regelmäßig üben, gibt es auch Trockenperioden. Und es ist besser, mechanisch zu üben als gar nicht. Es ist besser, nur dazusitzen und in der Meditation über Gott und die Welt nachzudenken – oft mehr über die Welt als über Gott –, als sich gar nicht hinzusetzen. Andere haben Phasen, wo sie in der Meditation zwischendurch einnicken. Es ist besser, dies durchzustehen als ganz aufzuhören. Man sollte dafür sorgen, daß diese Perioden nicht zu lange dauern. Dazu muß man erst einmal prüfen, ob es einen Grund dafür gibt. Es kann sein, daß man in seinem Eifer den Schlaf zu sehr reduziert hat und somit einfach mehr Schlaf braucht. Oder man ist aus irgendeinem Grund niedergedrückt. Man kann angehende Diabetes haben, die behandelt werden muß. Unreinheiten können sich im Körper angesammelt haben, so daß man mehr kriyas (Reinigungsübungen) machen sollte. Es kann aber auch sein, daß der Geist einfach gegen die Monotonie streikt. Wichtig ist, sich immer wieder zu bemühen, sich neu zu motivieren, zu versuchen, neuen Enthusiasmus aufzubringen. Anstelle der normalen Reaktion nachzugeben – die Praxis gefällt einem nicht, also wird aufgehört oder etwas ganz anderes gemacht –, ist es klüger, sich zu überlegen, was man tun könnte, um die Praktiken (wieder) befriedigender zu machen.

Es heißt ja, alle Antworten sind eigentlich in uns. Die Kunst ist, die richtigen Fragen zu stellen, dann kommen auch die Antworten. Schon allein dadurch, daß man regelmäßig praktiziert, entsteht im Lauf der Zeit ein immer stärkerer Wunsch danach. Man fühlt sich einfach nicht mehr wohl, wenn man einmal nicht geübt hat. Oft passiert es, daß das Energieniveau sinkt, wenn die Praktiken eine Weile etwas reduziert wurden, weil man einfach weniger Zeit hatte. Hat man weniger Energie, sinkt auch die Motivation zu praktizieren und so bewegt man sich in einer Abwärtsspirale. Man hat keine Lust, zu praktizieren, sondern eher das Gefühl, sich mal ausruhen und entspannen zu müssen, weil man so hart gearbeitet hat. Gut, das kann man sich auch mal kurze Zeit gönnen. Aber dann muß man viveka, die Unterscheidungskraft, einschalten und sich klarmachen, daß der Wunsch, weniger zu praktizieren, daher kommt, daß man eine Weile weniger praktiziert hat und infolgedessen das Energieniveau gesunken ist. Und wie bringe ich das Energieniveau wieder hoch? Nicht, indem ich weiterhin nichts mache, sondern indem ich wieder vermehrt praktiziere. Und wenn die eigene Anstrengung nicht ausreicht, sucht man sich eben Hilfe und geht zum Beispiel eine Weile in einen ashram, an einen Ort, wo die gesamte Energie und Atmosphäre hilfreich, unterstützend und aufbauend wirken.

Swami Sivananda hat in einem seiner Bücher geschrieben: „Es mag Tage geben im Leben eines Aspiranten, wo er keine Zeit hat zu essen. Es mag Tage geben, wo er keine Zeit hat zu schlafen. Aber es sollte keinen Tag geben, wo er keine Zeit hat zu meditieren. Denn ein Tag ohne Meditation ist wie zwei verlorene Tage.“ Die Kugel, die wir hochschieben, rollt dann ein ganzes Stück wieder hinunter. Paramahamsa Yogananda war da noch radikaler. Er sagt, ein Tag ohne Meditation ist eine Woche Rückschritt. Das ist zwar nicht so ganz wörtlich zu nehmen, aber es ist schon sehr wichtig, jeden Tag zu meditieren. Mit den asanas mal einen Tag auszusetzen, ist nicht ganz so tragisch. Aber die Meditation sollte man wirklich täglich üben – ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe.

Als Shri Karthikeyan, ein Meister aus dem Sivananda-Ashram in Rishikesh, der unser Seminarhaus ein-, zweimal im Jahr besucht und Vorträge hält, das letzte Mal hier war, ist mir nochmals richtig klargeworden, für wie wichtig satsang, das Zusammensein mit Weisen und anderen spirituellen Menschen, im traditionellen Yoga gehalten wird. Dem Yoga wird oft vorgeworfen, er mache einsam oder sei Nabelschau. Aber im klassischen Yogasystem ist das überhaupt nicht der Fall. Vielen Menschen mit emotionalen und schweren anderen Problemen hat Shri Karthikeyan empfohlen, ein paar Wochen hierher in den ashram zu kommen. Wenn man eine Weile hier ist, verschwinden die Probleme von selbst. Die Umgebung und der Umgang mit positiven, spirituellen Menschen, in Verbindung mit einem disziplinierten Tagesablauf, heilen sehr stark.

Dabei mußte ich daran denken, daß wir hier tatsächlich öfter wirklich verzweifelte Menschen haben. Sie haben eine Trennung oder sonstige psychische Krisen hinter sich bzw. stecken mittendrin, wissen nicht, was sie im Leben wollen oder leiden unter körperlichen oder seelischen Krankheiten. Nach ein paar Wochen kann man guten Gewissens sagen, daß sie mit einem ganz neuen Lebensgefühl wieder hinausgehen. Gerade Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten leben in einer spirituellen Umgebung mit positiven Menschen richtig auf.

Auf der psychischen Ebene ist satsang also etwas sehr Wichtiges. Leider bietet unsere Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht sehr viel. Es gibt zwar die stationäre Therapie, aber dort ist die Mehrheit der Menschen psychisch gestört. Alkoholiker sind dann zum Beispiel nur mit Alkoholikern zusammen, so daß es auch eine riesige Rückfallrate gibt. Es ist schon allein nützlich und wohltuend, eine Weile lang aus der gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden, um seinen Geist in neue Bahnen zu lenken und zu schulen. Aber eigentlich wäre es gut, wenn es mehr Gemeinschaften von positiven Menschen gäbe, wo Menschen in psychischen und sonstigen Schwierigkeiten einfach dazustoßen und eine Zeitlang mitleben könnten. Das war früher in Großfamilien durchaus üblich. Wenn es beispielsweise einem Kind nicht gut ging, lebte es ein paar Wochen woanders, vielleicht bei der Großmutter oder wurde von einem anderen Teil der Familie eine Weile aufgenommen, um sich zu erholen und ihm etwas Distanz zu verschaffen. Es wäre schön, wenn es so etwas auch für Erwachsene gäbe – ein positives, erhebendes Umfeld. Das gilt auf der emotionalen und noch mehr auf der spirituellen Ebene. Wenn es einem spirituell nicht so gut geht, muß man die Gesellschaft anderer spiritueller Menschen suchen, idealerweise für ein paar Tage oder Wochen in einen ashram, ein Kloster oder eine spirituelle Gemeinschaft ziehen. Das erhebt.

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