Kapitel 4, Vers 31

Deutsche Übersetzung:

Dann wird es mit der Beseitigung aller Schleier und Unreinheiten ersichtlich, daß das (über den Geist) Erfahrbare im Vergleich mit dem unendlichen Wissen (der Erleuchtung) nur winzig ist.

Sanskrit Text:

tadā sarva-āvaraṇa-malāpetasya jñānasya-ānantyāt jñeyamalpam ||31||

तदा सर्वावरणमलापेतस्य ज्ञानस्यानन्त्यात् ज्ञेयमल्पम् ॥३१॥

tada sarva avarana malapetasya jnanasya anantyat jneyamalpam ||31||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tadā = dann
  • sarva = alle, sämtliche
  • āvaraṇa = Schleier, verhüllt, Hülle
  • mala = Unreinheiten, Übel
  • apetasya = ohne, Beseitigung von, wegfallen
  • jñānasya = des Wissens
  • ānanta = Unendlichkeit
  • ānantayāt = wegen der Unendlichkeit von
  • jñeya = das Erfahrbare, des Wissens
  • alpa = klein, wenig, winzig, unbedeutend

Kommentar

Dann erkennen wir: Alles, was vorher war, war eigentlich nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt erfahren.

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Kapitel 4, Vers 32

Deutsche Übersetzung:

Für solche, die das Ziel erreicht haben, hört der Vorgang des ständigen Wandels der gunas auf.

Sanskrit Text:

tataḥ kṛtārthānaṁ pariṇāma-krama-samāptir-guṇānām ||32||

ततः कृतार्थानं परिणामक्रमसमाप्तिर्गुणानाम् ॥३२॥

tatah kritarthanam parinama krama samaptir gunanam ||32||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = dadurch, dann
  • kṛta = erfüllt
  • arthāna = Zweck, Sinn, Ziel
  • pariṇāma = Veränderung, Wandel
  • krama = Wandlung, Abfolge, Vorgang, Folge
  • samāptiḥ = das Ende, ist beendet
  • guṇānām = der Gunas, die drei Grundeigenschaften der Materie, aller Materie

Kommentar

Haben wir die Selbstverwirklichung erreicht, dann verschwinden die drei gunas für uns. Die Verbindung von prakriti und purusha löst sich auf.

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Kapitel 4, Vers 33

Deutsche Übersetzung:

Kommt der ständige Wechsel der entsprechenden Augenblicke zum Ende, wird ihre Aufeinanderfolge wahrnehmbar.

Sanskrit Text:

kṣaṇa-pratiyogī pariṇāma-aparānta nirgrāhyaḥ kramaḥ ||33||

क्षणप्रतियोगी परिणामापरान्त निर्ग्राह्यः क्रमः ॥३३॥

kshana pratiyogi parinama aparanta nirgrahyah kramah ||33||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kṣaṇa = Augenblick, Moment
  • pratiyogī = zusammenhängend
  • pariṇāma = Wechsel, Wandel, Veränderung
  • aparānta = Ende, Tod
  • nirgrāhyaḥ = wahrnehmbar, ersichtlich
  • krama = Abfolge, Wandlung, Vorgang, Aufeinanderfolge

Kommentar

Das Leben besteht aus aufeinanderfolgenden Augenblicken. Es erscheint so, als hätten diese alle etwas miteinander zu tun, aber eigentlich läuft nur ein Film ab. Einige Verse weiter oben hat Patanjali uns ja schon die Illusion von einem freien Willen geraubt, indem er gesagt hat: Es existiert schon alles, und wir gehen einfach irgendwie hindurch. Wenn wir ins Kino gehen, können wir uns entscheiden, welchen Film wir anschauen. Im Film entwickelt sich die Handlung schrittweise, so, als entstünde sie gerade eben. Alles verläuft meist sehr dramatisch, man bangt mit dem Helden und der Heldin, freut sich über das Happy End oder ist traurig, wenn es ausbleibt. Aber es ist alles vorher schon auf einem Zelluloidstreifen aufgezeichnet. So ist es mit dieser Welt.

Letzter Vers:

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Kapitel 4, Vers 34

Deutsche Übersetzung:

Hören alle Anstrengung und Zielstreben auf und sind die gunas (die Eigenschaften der Natur) wieder (in ihren Ursprung) absorbiert, dann ist das kaivalya (Befreiung). Die Seele ruht in ihrer wahren Natur – reinem Bewußtsein. – Ende.

Sanskrit Text:

puruṣa-artha-śūnyānāṁ guṇānāṁ-pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpa-pratiṣṭhā vā citiśaktiriti ||34||

पुरुषार्थशून्यानां गुणानांप्रतिप्रसवः कैवल्यं स्वरूपप्रतिष्ठा वा चितिशक्तिरिति ॥३४॥

purusha artha shunyanam gunanam pratiprasavah kaivalyam svarupa pratishtha va chitishaktiriti ||34||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • puruṣārtha = wahres Selbst, Drashtu
  • artha = Sinn, Ziel
  • śūnya = Leere, Erfüllung
  • guṇa = Eigenschaft
  • prati = zurück, gegen
  • prasava = Schöpfung, Entwicklung
  • pratiprasavaḥ = wiedereintauchen
  • kaivalya = geistige Befreiung, Kaivalya, Samadhi
  • svarūpa = eigene Natur, eigenes Wesen
  • pratiṣṭḥā = hervorstehen, erscheinen
  • vā = oder
  • cit = Bewusstsein, das wahre Selbst, Drashtu
  • śakti = Kraft
  • iti = Ende

Kommentar

Dann sind wir befreit: nichts mehr zu tun, kein Leid, kein Vergnügen, kein Schmerz, keine Aufgaben, keine mantras, keine asanas, nichts. Es gibt nur noch eine Bewußtheit, sat chit ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.

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