Kapitel 3, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf die Gedanken eines anderen erhält man Wissen über seinen Geist.

Sanskrit Text:

pratyayasya para-citta-jñānam ||19||

प्रत्ययस्य परचित्तज्ञानम् ॥१९॥

pratyayasya para chitta jnanam ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pratyaya = Geistesinhalt, Gedanke, direkte Wahrnehmung
  • para = eines anderen
  • citta = Verstand
  • jñāna = Wissen, Verständnis, Erkenntnis

Kommentar

Mit anderen Worten, wenn wir jemanden besser verstehen wollen, können wir versuchen, uns auf seine Gedanken zu konzentrieren. Wir versuchen, seine geistigen Vorstellungen zu erspüren und zu erfühlen. Das ist natürlich schwierig, denn im Normalfall konzentrieren wir uns auf den Körper eines Menschen. Wenn wir an einen anderen Menschen denken, haben wir sein äußeres Erscheinungsbild vor Augen. Aber der Körper ist nur der Träger des Geistes. Schwieriger ist es, sich auf den Geist des anderen einzustellen. Da aber der Körper letztlich ein Ausfluß des Geistes ist, können wir uns auch einfach den anderen vorstellen und uns auf ihn oder sie konzentrieren. Das ist eine nützliche Methode, wenn wir uns mit jemandem verkracht haben und uns gerne wieder vertragen möchten – neben allem anderen natürlich, was wir auch tun sollten: Mit ihm oder ihr sprechen, die Kommunikation aufnehmen, einen Dritten als Vermittler zu Hilfe nehmen, ihm/ihr ein Geschenk machen, uns entschuldigen, klar sagen: „So geht es nicht“, auf den Tisch hauen, um Verständigung beten, entsprechende Affirmationen wiederholen, visualisieren, Licht schicken u.s.w. Oder man kann sich eben in den anderen hineinversetzen. Und wenn wir den anderen wirklich von innen heraus spüren, so als ob wir in dem anderen Körper drin wären, identifizieren wir uns mit dem anderen Geist und wissen, was mit ihm los ist.

Mit der richtigen Motivation ist das sicherlich positiv nutzbar. Man konzentriert sich auf einen anderen und lernt, ihn zu verstehen. Man kann besser auf ihn eingehen, sich besser mit ihm vertragen, besser mit ihm zusammenarbeiten und ihm vielleicht auch einen Tip geben zur Hilfe.

Aber es kann natürlich auch mißbraucht werden. Denn wenn man sich gänzlich in den anderen hineinversetzt und es einem wirklich gelingt, im anderen so zu sein, als sei man selbst in dessen Körper, dann kann man theoretisch auch anfangen, dem anderen Gedanken aufzuoktroyieren, ihm vorzuschreiben, was er tun soll. Hier wird es zur Manipulation und zu einem Mißbrauch der siddhis. Und ein Mißbrauch führt immer zu einer karmischen Reaktion.

Deshalb schreckt uns Patanjali im nächsten Vers ab:

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