Kapitel 3, Vers 46

Deutsche Übersetzung:

Daraus entspringen Fähigkeiten wie den Körper winzig klein zu machen sowie Vollkommenheit und Unverwundbarkeit des Körpers.

Sanskrit Text:

tato-‚ṇimādi-prādurbhāvaḥ kāyasaṁpat tad-dharānabhighātśca ||46||

ततोऽणिमादिप्रादुर्भावः कायसंपत् तद्धरानभिघात्श्च ॥४६॥

tato ’nimadi pradurbhavah kayasanpat tad dharanabhighatscha ||46||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • aṇiman = Fähigkeit, den Körper winzig klein zu machen
  • prādurbhāvaḥ = Erscheinung, Auftauchen, Entspringen
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit
  • tat = von diesem, dessen
  • dharma = Funktion, Aufgabe, Pflichterfüllung
  • anabhighāta = Nichtüberwältigung, Unverwundbarkeit
  • ca = und

Kommentar

Hier spricht Patanjali die acht maha siddhis, die großen Kräfte, an. Diese sind:

  • Fähigkeit, winzige Größe anzunehmen, sich zu verkleinern zum Atom
  • Fähigkeit zu kolossaler Größe
  • Fähigkeit zu Schwerelosigkeit
  • Fähigkeit, sich ganz schwer zu machen, zu großem Gewicht
  • Jede Wunscherfüllung und alles Wissen
  • Eintritt in den Körper eines anderen
  • Unbehinderter Wille
  • Göttliche Macht

Auf eine gewisse Weise bekommen wir diese acht Fähigkeiten auch im Kleinen am Anfang unseres spirituellen Weges. Was bedeuten diese acht maha siddhis für den spirituellen Alltag?

Wir sind in der Lage, winzige Größe anzunehmen. Es macht uns zum Beispiel nichts aus, die Toiletten zu putzen und ähnliche Arbeiten zu verrichten oder uns mal tadeln zu lassen.

Aber gleichzeitig auch zu kolossaler Größe: Wenn wir aufgefordert werden, vor fünfhundert Leuten einen Vortrag zu halten oder große Verantwortung zu übernehmen, dann machen wir das halt.

Meistens fällt uns das letztere schwerer als das erste. Aber wir können beides. Und wir verhaften uns an keines von beidem.

Schwerelosigkeit: Wir können uns an andere anpassen, wir brauchen nicht immer diese große Schwere zu haben, wo es um uns selbst geht. Wir sind in der Lage, auch mal das zu tun, was die anderen wollen und doch ganz autonom zu bleiben.

Großes Gewicht: Wir können wenn nötig auch auf unserem Standpunkt beharren, uns durchsetzen.

Wir haben die Fähigkeit zu jedem Wunsch oder Wissen. Wir können uns ab und zu unsere Wünsche erfüllen. Umgekehrt heißt Herrschaft über den Wunsch auch, daß wir in der Lage sind, den Wunsch nicht zu erfüllen. Beides gehört zum Yogi. Er ist in der Lage, sich mal einen Wunsch zu erfüllen und alles Mögliche dafür zu tun, er ist aber auch in der Lage, den Wunsch nicht zu erfüllen, ohne sich deshalb frustriert zu fühlen. Und damit erwirbt er auch das Wissen, das er braucht.

Eintritt in den Körper eines anderen bedeutet im übertragenen Sinn: Man kann sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, mit ihm fühlen, wie schon weiter oben besprochen.

Unbehinderter Wille und göttliche Macht: Durch regelmäßige Übung der Yogapraktiken, Innenschau, Hingabe an Gott, Anwendung der Raja Yoga-Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung entwickeln wir allmählich eine starke Willens- und Gedankenkraft.

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Kapitel 3, Vers 47

Deutsche Übersetzung:

Vollkommenheit des Körpers ist Schönheit, Anmut, Kraft und diamantene Festigkeit.

Sanskrit Text:

rūpa-lāvaṇya-bala-vajra-saṁhananatvāni kāyasaṁpat ||47||

रूपलावण्यबलवज्रसंहननत्वानि कायसंपत् ॥४७॥

rupa lavanya bala vajra sanhananatvani kayasanpat ||47||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • rūpa = Schönheit, richtige Gestalt
  • lāvaṇya = Anmut
  • bala = Stärke, Kraft
  • vajra = Diamant, Donnerkeil
  • saṁhana-natvāni = Härte, Festigkeit
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit

Kommentar

Durch die Konzentration auf die Elemente kann man das alles bekommen, wenn man will. Da der Körper aus den Elementen besteht, kann man ihn durch Konzentration auf die Elemente vervollkommnen.

Es gibt eine Tradition im Hatha Yoga, deren Hauptziel es ist, den physischen Körper unsterblich zu machen. Wobei damit nicht wirklich unsterblich gemeint ist, sondern die Absicht, ihn möglichst lange jung, gesund und leistungsfähig zu erhalten. Zu den spezifischen Techniken dabei gehören in Abständen von einigen Jahren jeweils mehrere Monate dauernde „Verjüngungskuren“ mit allen möglichen kriyas (Reinigungshandlungen), mudras, asanas, wo vor allem Kopfstand und Schulterstand sehr sehr lange gehalten werden, mit besonderer Diät und Kräutern, und auch die Elementekonzentration. Durch die Elementekonzentration bekommt man Herrschaft über die Elemente, und so kann man den physischen Körper etwas länger erhalten.

Heutzutage gibt es Menschen, die ihre Zellen unsterblich machen wollen. Ich persönlich sehe keinen großen Sinn darin. Ob der physische Körper nun ein paar Jahrzehnte länger lebt oder nicht, was bedeutet das schon? Das Selbst ist unsterblich.

Trotzdem, die Herrschaft über den Körper kann über die Elementekonzentration erreicht werden.

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Kapitel 3, Vers 48

Deutsche Übersetzung:

Ausführung des samyama auf die Wahrnehmungskraft, ihre eigene Natur, die Beziehung zu ihrer Funktion und zum Ego führt zur Herrschaft über die Sinne.

Sanskrit Text:

grahaṇa-svarūpa-asmitā-avaya-arthavattva-saṁyamāt-indriya jayaḥ ||48||

ग्रहणस्वरूपास्मितावयार्थवत्त्वसंयमातिन्द्रिय जयः ॥४८॥

grahana svarupa asmita avaya arthavattva sanyamat indriya jayah ||48||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • grahaṇa = Wahrnehmung
  • svarūpa = eigene Natur, tatsächliche Form
  • asmitā = Egoismus, Selbstbezogenheit
  • anvaya = Verbindung
  • arthavattva = Zweckdienlichkeit, Funktion
  • saṁyama = tiefe Versenkung, Meditation
  • indriya = Sinnesorgane
  • jayaḥ = Herrschaft, Sieg, Meisterschaft

Kommentar

Auf diese Weise könnte man Hören, Sehen, Riechen u.s.w. verbessern.

Aber die Meisterung ist hier zweifach zu verstehen.

Zum einen kann man die Sinnesorgane besser benutzen und zum zweiten kann man sie auch besser beherrschen.

Samyama ausführen auf die Kraft der Wahrnehmung heißt, ganz bewußt etwas anzuschauen und sich dabei auf die Wahrnehmungskraft zu konzentrieren. Oder man kann sich auf die wahre Natur der Kraft der Wahrnehmung als solches konzentrieren, auf ihre Beziehung zu unserem Ego, auf ihre Funktion und schließlich auf ihre Beherrschung. Das enthüllt einem dann intuitiv, wie man das Organ beherrscht, so daß man nicht mehr durch das Organ nach draußen gezogen wird. Zum anderen können wir damit erreichen, daß die Organfunktion besser erfüllt wird.

Vielleicht eine praktische Anwendung für Menschen, die sehr am Essen hängen. Wir sind ja in unserer Zivilisation eine Gesellschaft von Eßgestörten. Viele denken, sie seien zu dick, manche denken, sie seien zu dünn. Fast niemand meint, das richtige Gewicht zu haben. Etwa 10 % der weiblichen Jugendlichen, nach anderen Untersuchungen sogar 20 %, haben die Eß-Brechsucht oder die Freß-Fastsucht, sind also sehr essensgestört. Vieles kompensieren wir über das Essen. Nur noch im Zusammenhang mit Essen spricht man von „Sünden“.

Diesen Sinn kann man beherrschen, indem man samyama ausführt auf den Geschmack an sich. Was ist Geschmack an sich? Was ist die Natur des Schmeckens? Wie bezieht sich mein Ego auf dieses Schmecken? Was bedeutet für mich Beherrschung dieses Geschmacksinns? Und was ist eigentlich die ursprüngliche Funktion des Geschmacksinns? Das kann man zunächst einmal als Anlaß nehmen für swadhyaya, für Selbststudium, logisches Nachdenken. Das ist noch nicht samyama. Auch das kann schon helfen. Paradoxerweise, wenn ich jetzt darüber schreibe, sammelt sich Speichel im Mund. Geht es dir auch so? – Die Kraft des Geistes! Man schreibt nur über Geschmack und die Kraft der Wahrnehmung – wenn du dir noch dazu einen Obstkuchen oder eine saftige Mango vorstellst ….! Danach geht man über das Nachdenken hinaus, führt samyama darüber aus, das heißt, man spürt einfach und geht in das hinein, worüber man vorher nachgedacht hat. Man versucht, die Natur des Schmeckens, des Geschmacksinns, seine Funktion, die persönliche Beziehung dazu u.s.w. jetzt intuitiv zu erfassen. So kann man den Eßsinn beherrschen, wenn man will.

Aber statt zu versuchen, den Eßsinn zu beherrschen, ist es meist sinnvoller, nicht mehr zu denken, man müsse aussehen wie eine Barbiepuppe.

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Kapitel 3, Vers 49

Deutsche Übersetzung:

Daraus entsteht Schnelligkeit des Geistes, außersinnliches Wissen und Herrschaft über die Natur.

Sanskrit Text:

tato mano-javitvaṁ vikaraṇa-bhāvaḥ pradhāna-jayaś-ca ||49||

ततो मनोजवित्वं विकरणभावः प्रधानजयश्च ॥४९॥

tato mano javitvam vikarana bhavah pradhana jayash cha ||49||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • mano = Geist, Verstand
  • javitvaṁ = Schnelligkeit
  • vikaraṇa = Werkzeuge, hier: die Sinnesorgane
  • bhāvaḥ = Befreiung, Unabhängigkeit
  • pradhāna = Materie, Natur, Schöpfung
  • jaya = Herrschaft, Meisterschaft, Sieg
  • ca = und

Kommentar

Wer die Sinnesorgane meistert, kann darüber die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung ohne Sinne erwerben. Patanjali sagt hier, wir bekommen direktes Wissen ohne Einschaltung des Geistes, einfach indem wir uns in etwas hineinversetzen. Aber wir können ebenso, wenn wir unseren Geist beherrschen, ihn ohne die Sinne zu einem Objekt oder einem Wesen hinschicken und es so intuitiv wahrnehmen. Auch bei geschlossenen Augen können wir zum Beispiel in einen Raum nebenan schauen.

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Kapitel 3, Vers 50

Deutsche Übersetzung:

Nur durch die Verwirklichung des Unterschiedes zwischen sattva und purusha erlangt man die Beherrschung aller Daseinsformen und Allwissenheit.

Sanskrit Text:

sattva-puruṣa-anyatā-khyātimātrasya sarva-bhāvā-adhiṣṭhātṛtvaṁ sarva-jñātṛtvaṁ ca ||50||

सत्त्वपुरुषान्यताख्यातिमात्रस्य सर्वभावाधिष्ठातृत्वं सर्वज्ञातृत्वं च ॥५०॥

sattva purusha anyata khyatimatrasya sarva bhava adhishthatritvam sarva jnatritvam cha ||50||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Reinheit, eine der drei guṇas, physische Welt
  • puruṣa = das wahre Selbst
  • anyata = Unterschied
  • khyāti = Erkenntnis, Verwirklichung
  • mātrasya = nur daraus
  • sarva = alle
  • bhāva = Gefühle, Emotionen
  • adhiṣṭhāṭṛtvaṁ = Vorherrschaft, Beherrschung, Allmacht
  • sarva = alle
  • jñātṛṭva = Weisheit, Wissen
  • ca = und

Kommentar

Diese Unterscheidung zwischen unserem wahren Selbst, purusha, und sattva, der Reinheit, hatten wir schon einmal. Reinheit ist das, womit man sich als spiritueller Aspirant gerne identifiziert: Freude, Wonne, Schönheit, Reinheit, Wissen, Licht, Liebe und all das. Sattva ist zwar positiver als rajas und tamas, aber auch die Identifikation mit sattva ist und bleibt eine Identifikation, die uns bindet. Und letztlich kann es einem nie gelingen , sein Leben wirklich in jeder Hinsicht und vollständig sattvig zu machen. Denn sattva ist eine guna (Eigenschaft der Natur), und die gunas sind parinama, d.h., in ständiger Veränderung. So ist alles im Leben mal schön, mal nicht so schön – sattva, rajas und tamas lösen sich ab. Man sollte also nach mehr sattva streben, aber unverhaftet bleiben.

Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen diesen wunderschönen sattvigen Visionen, den wunderschönen Wonneerfahrungen der anandamaya kosha oder auch samprajnata samadhi und unserem wahren Selbst. Indem wir uns auf diesen Unterschied zwischen sattva und purusha konzentrieren, erreichen wir Allwissenheit. Denn sattva gilt als erste Manifestation der prakriti (Schöpfung, Natur), die von purusha ausging. Indem wir den Unterschied zwischen sattva und purusha erfassen, kommen wir zurück zu diesem Urpunkt, von dem die Schöpfung und unsere eigene Verwicklung in prakriti ausgeht. Wir erkennen intuitiv das Prinzip, das Warum und Wie der Schöpfung. Was jetzt nicht notwendigerweise heißt, daß wir es wirklich in allen Details wissen – dazu müssen wir nochmals die spezifischen samyamas ausführen –, aber wir haben das generelle Wissen darüber, die richtige Antwort auf die Frage: Warum ist das Universum zustandegekommen? Was ist die Ursache für das Universum? Die richtige Antwort ist dann jedoch nicht in Worte zu fassen. Verwirkliche den Unterschied zwischen purusha und sattva, dann weißt du es!

Das zweite wichtige Stichwort ist Allmacht. Allmacht des purusha ist auf zwei Weisen zu verstehen. Einmal hat der routinierte Yogi jetzt alle siddhis, das ist der machtvollste Zustand. Er kehrt zurück zum Beginn der Schöpfung, ist in diesem Urprinzip, und hat von daher die Fähigkeit, alles in der Schöpfung zu ändern. Aber insbesondere hat er die Fähigkeit, die Schöpfung zu verlassen, wenn und wann er will, d.h., in nirvikalpa samadhi, asamprajnata samadhi, einzugehen oder auch wieder zurückzukehren, wenn er weiß, daß der Körper noch karma abzuarbeiten hat. Er hat diese ursprüngliche Macht zurückgewonnen, in die Welt hinein- und aus der Welt herauszugehen.

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Kapitel 3, Vers 51

Deutsche Übersetzung:

Durch Nichtanhaften sogar an diese (Allmacht und Allwissenheit) kommt die Zerstörung des Samens der Unreinheit und man erlangt Befreiung.

Sanskrit Text:

tad-vairāgyād-api doṣa-bīja-kṣaye kaivalyam ||51||

तद्वैराग्यादपि दोषबीजक्षये कैवल्यम् ॥५१॥

tad vairagyad api dosha bija kshaye kaivalyam ||51||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = an sie
  • vairāgya = Verhaftungslosigkeit, Gelassenheit, Nichtanhaften
  • api = sogar
  • doṣa = Unreinheit, Dysbalancen
  • bīja = Samen, Grundlage
  • kṣaya = Zerstörung
  • kaivalya = Befreiung, Erleuchtung

Kommentar

Mit der Verwirklichung des Unterschiedes zwischen purusha und sattva, dem subtilsten Teil von prakriti, hat der Yogi vollkommene Allmacht erlangt. Wenn er sich daran nicht verhaftet, tad-vairagyad, also auch diesem entsagt, dann kommt der Yogi zu kaivalya, zur Befreiung. Api dosha bija kshaye: Der letzte Samen der Bindung wird zerstört.

Jetzt kommt noch einmal eine Warnung:

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Kapitel 3, Vers 52

Deutsche Übersetzung:

Laden ihn himmlische Wesen ein, sollte der Yogi Vergnügen oder Stolz vermeiden; denn es droht die Wiederbelebung des Unerwünschten.

Sanskrit Text:

sthāny-upa-nimantraṇe saṅga-smaya-akaraṇaṁ punar-aniṣṭa-prasaṅgāt ||52||

स्थान्युपनिमन्त्रणे सङ्गस्मयाकरणं पुनरनिष्टप्रसङ्गात् ॥५२॥

sthany upa nimantrane sanga smaya akaranam punar anishta prasangat ||52||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sthāni = himmlisches Wesen
  • upanimantraṇe = eingeladen
  • saṅga = Anhaftung
  • smaya = Stolz, Gefallen
  • akaraṇaṁ = er soll vermeiden, nicht annehmen
  • punaḥ = wieder, noch einmal
  • aniṣṭa = Unerwünschtes, Schlechtes
  • prasaṇgāt = aus dem Kontakt

Kommentar

Es gibt, wie bereits besprochen, verschiedene Versuchungen durch astrale Wesen. Es kommen Wesen in Engelsgestalt, wunderschöne gandharvas (Engelswesen, himmlische Musikanten) und apsaras (himmlische Wesen, Gemahlinnen der gandharvas) u.s.w., mit herrlicher Musik, die einem himmlische Erfahrungen, Gefühle, Bilder versprechen, einem die Gesetze verschiedener Ebenen lehren wollen. Da gilt es, vorsichtig zu sein, denn das ist nicht das Ziel! Und vor allem muß man sich vor dem Aufblähen des Egos hüten.

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Kapitel 3, Vers 53

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf einen Augenblick und seine Folge erreicht man aus Unterscheidungskraft geborenes Wissen.

Sanskrit Text:

kṣaṇa-tat-kramayoḥ saṁyamāt vivekajaṁ-jñānam ||53||

क्षणतत्क्रमयोः संयमात् विवेकजंज्ञानम् ॥५३॥

kshana tat kramayoh sanyamat vivekajam jnanam ||53||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kṣaṇa = Augenblick, kleinste vorstellbare Zeiteinheit, Moment
  • tat = seine
  • krama = Folge, Abfolge
  • saṁyama = durch tiefe Versenkung, Meditation
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • jam = kommend aus, aus
  • jñāna = Wissen, Verständnis

Kommentar

Wenn man einen bestimmten Augenblick, nämlich diesen Moment, dieses Jetzt, bewußt wahrnimmt, und sich bewußt wird, was daraus entstehen könnte, dann bekommt man Unterscheidungskraft. Man merkt, was da ist, was für einen Wunsch man zum Beispiel gerade hat. Dann kann man sich konzentrieren auf diesen Augenblick, wo man gerade dabei ist, eine Dummheit zu begehen. Und man konzentriert sich auf die Folge. Dann kommt die Unterscheidungskraft: Lieber nicht – in Anlehnung an einen Vers aus dem zweiten Kapitel (II 16): „Heyam duhkham anagatam“, „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“ – ein wichtiger Vers, den wir öfter vergessen.

Viele Menschen machen das leider nicht – einen Augenblick innezuhalten und sich auf die Folgen und Auswirkungen eines Wunsches oder einer Handlung zu konzentrieren –, sondern sie tun es einfach. Das ist die einfache Interpretation dieses Verses.

Er hat aber auch eine tiefere, philosophischere Ebene. Wenn man über den Augenblick und seine Folge nachdenkt, kommt man zur letzten Unterscheidungskraft, nämlich, daß Zeit eine Illusion ist.

Er ist im Kleinen anzuwenden wie auch im Großen, wie fast alle Verse des dritten Kapitels.

Eine weitere interessante Interpretation hat Swami Vishnu gerne genannt: Lebe im Hier und Jetzt. Konzentriere dich auf das Jetzt, statt immer in der Zukunft zu leben. Überlege nicht immer wieder: Was könnte ich noch machen, was muß ich noch tun, ich werde glücklich sein, wenn…

Auch mir geht es mit dem Yoga Vidya Ashram hier so. Ich denke immer, wenn die und die Mitarbeiter so und so lange da sind, sich in dieses und jenes Gebiet eingearbeitet und richtig eingelebt haben und wenn die Mannschaft vollständig ist, dann wird alles glatt laufen. Eigentlich müßte ich es besser wissen. Ich bin jetzt seit mehr als 20 Jahren in solchen Yogazentren, und es war nie so gewesen, daß alles ideal lief.

Man denkt, in Zukunft wird es so sein, anstatt jetzt im Augenblick, in diesem Moment zu sein, zu leben, zu genießen. Deshalb bemühe ich mich immer wieder darum, diesen Moment, mit allem Chaos, das ab und zu herrscht, als das Leben anzunehmen. Swami Vishnu sagte: „Chaos muß herrschen, dann kann sich das karma richtig ausarbeiten. Sobald alles unter Kontrolle ist, lernt man nichts Neues mehr.“ Swami Vishnu hat in den Sivananda Zentren auch immer für Chaos gesorgt, wenn es irgendwo einmal funktioniert hat. Wenn wir in einem Center mal ein Team hatten, in dem sich alle gut verstanden haben, konnte man sicher sein, daß Swami Vishnu bald anrufen und denjenigen versetzen würde, der für die Harmonie im Team vielleicht am notwendigsten war. Oder er versetzte einen neuen Mitarbeiter dorthin, der ein richtiger Unruhestifter war und sich woanders hoffnungslos mit allen überworfen hatte. Viele solcher Dinge hat Swami Vishnu im Bewußtsein gemacht, Diener und Kanal Gottes zu sein.

Wir können uns nicht ausruhen, sondern wir lernen, immer wieder im Moment zu sein, zu tun, was jetzt in diesem Moment notwendig ist, und wir lernen, alle Verhaftungen aufzugeben. Wir müssen immer wieder bereit sein, Projekte oder unsere Aufgaben aufzugeben, etwas anderes zu tun, wenn es notwendig ist, ohne uns dabei zu verheddern. Indem wir Konzentration auf den Augenblick üben: Was liegt in dem Moment an? Was ist in dem Moment zu tun? Was lerne ich in dem Moment? Wie manifestiert sich Gott in diesem Moment? Wie offenbart er sich in diesem Moment? bekommen wir Unterscheidungskraft.

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Kapitel 3, Vers 54

Deutsche Übersetzung:

So kommt das Wissen um den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten, deren Unterschied nicht durch Art, Merkmale oder Ort bestimmt werden kann.

Sanskrit Text:

jāti-lakṣaṇa-deśaiḥ anyatā-anavacchedāt tulyayoḥ tataḥ pratipattiḥ ||54||

जातिलक्षणदेशैः अन्यतानवच्छेदात् तुल्ययोः ततः प्रतिपत्तिः ॥५४॥

jati lakshana deshaih anyata anavachchhedat tulyayoh tatah pratipattih ||54||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • jāti = Art
  • lakṣaṇa = Merkmal, Eigenschaft
  • deśa = Ort, Position
  • anyata = Unterschied
  • anavacchedāt = infolge der Abwesenheit von Definition
  • tulyayoḥ = über Gleiches, Ähnliches
  • tataḥ = davon, daraus, daher
  • pratipattiḥ = Verständnis, Wissen, Erkenntnis

Kapitel 3, Vers 55

Deutsche Übersetzung:

Das höchste Wissen, geboren aus der Unterscheidungskraft, transzendiert alle Objekte und Sphären auf jede Weise gänzlich und gleichzeitig.

Sanskrit Text:

tārakaṁ sarva-viṣayaṁ sarvathā-viṣayam-akramaṁ-ceti vivekajaṁ jñānam ||55||

तारकं सर्वविषयं सर्वथाविषयमक्रमंचेति विवेकजं ज्ञानम् ॥५५॥

tarakam sarva vishayam sarvatha vishayam akramam cheti vivekajam jnanam ||55||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tāraka = transzendieren, hinübertragen
  • sarva = alle
  • viṣaya = Objekt
  • sarvathā = auf alle Weisen, zu allen Zeiten, gänzlich
  • viṣaya = Objekt
  • akrama = ohne Abfolge, ungeordnet, gleichzeitig
  • ca = und
  • iti = fertig, Ende
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • vivekaja = aus Viveka kommend, aus Unterscheidungskraft
  • jñāna = Wissen, Verständnis

Kommentar

Wenn wir diese Unterscheidungskraft, viveka, gut trainiert haben, wenn wir ganz in der Gegenwart leben, wenn wir uns auf diesen Augenblick und seine Folge bzw. eigentlich sogar auf das Geschehen zwischen Augenblick und Folge konzentrieren, dann sind wir in allem. Aus dieser Unterscheidungskraft transzendieren wir alles.

In dieser viveka stehen wir zwischen purusha und prakriti und haben die Wahl, entweder das Universum als Ganzes gleichzeitig wahrzunehmen – was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Hier, Jetzt und Überall gleichzeitig einschließt – , oder prakriti, die Schöpfung als Ganzes wahrzunehmen, oder uns als reines Bewußtsein in uns zurückzuziehen und einfach nur zu sein, d.h. purusha zu verwirklichen.

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Kapitel 3, Vers 56

Deutsche Übersetzung:

Ist gleiche Reinheit in purusha und sattva, kommt die Befreiung.

Sanskrit Text:

sattva-puruṣayoḥ śuddhisāmye kaivalyam ||56||

सत्त्वपुरुषयोः शुद्धिसाम्ये कैवल्यम् ॥५६॥

sattva purushayoh shuddhisamye kaivalyam ||56||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Reinheit, eine der drei guṇas, physische Welt
  • puruṣa = Bewusstsein, wahre Natur, wahres Selbst
  • śuddhi = Reinheit
  • sāmya = Gleichheit, Ähnlichkeit
  • kaivalya = Befreiung

Kommentar

Wenn purusha in sich selbst ruht, hört prakriti auf zu arbeiten. Das Universum hört in diesem Augenblick für diese individuelle Manifestation des purusha auf zu existieren. Die Natur hört auf, zu bestehen und der Mensch ist endgültig befreit. Er ruht im Unendlichen. Er ist das Unendliche. Für die anderen, die diese Erfahrung nicht haben, bleibt die Welt jedoch bestehen.

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