Kapitel 1, Vers 21

Deutsche Übersetzung:

Den intensiv Strebenden ist samadhi nahe.

Sanskrit Text:

tīvra-saṁvegānām-āsannaḥ ||21||

तीव्रसंवेगानामासन्नः ॥२१॥

tivra sanveganam asannah ||21||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tīvra = stark, intensiv
  • saṁvegāna = Übung, Praxis, Intensität
  • āsanna = Nähe

 

Kapitel 1, Vers 22

Deutsche Übersetzung:

Das Streben kann mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.

Sanskrit Text:

mṛdu-madhya-adhimātratvāt-tato’pi viśeṣaḥ ||22||

मृदुमध्याधिमात्रत्वात्ततोऽपि विशेषः ॥२२॥

mridu madhya adhimatratvat tato’pi visheshah ||22||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • mṛdu = mild, sanft
  • madhya = mittelmäßig, mäßig
  • adhimātra = intensiv, mächtig, stark
  • vāt = oder
  • tataḥ = diese, (diese Praxis)
  • api = auch, sogar
  • viśeṣa = Abstufung, Unterscheidung

 

Kommentar

Wir sollten zwar allen Wünschen entsagen, aber es gibt einen, den wir verstärken sollten, und das ist der Wunsch nach Befreiung. Viele Menschen wollen die Befreiung, aber gleichzeitig auch noch so viele andere Dinge. Du kannst einmal grundsätzlich überlegen: Was will ich im Leben noch erreichen, und worauf wäre ich bereit zu verzichten – wirklich zu verzichten? Der Grad der Priorität des Wunsches nach Befreiung bestimmt, wie schnell es mit der Verwirklichung geht. Nur wenn der Wunsch nach Befreiung mindestens 50 % deines Strebens ausmacht, wird die Befreiung schnell kommen. Ist der Wunsch nach Befreiung niedriger als 50 %, ist er weniger wichtig als all die anderen Sachen. Ist er hingegen wichtiger als alle anderen Dinge, dann ist der Weg zur Befreiung da. Denn wenn er mehr als 50 % deines gesamten Strebens ausmacht, dann bestimmt dieser Wunsch alle deine Entscheidungen, dein tägliches Leben, dein ständiges Denken und Fühlen.

Den Wunsch nach Befreiung kann und sollte man auch kultivieren. Fünf Wege dahin möchte ich erwähnen:

  1. Eine Möglichkeit dafür ist satsang, das Zusammensein mit anderen auf dem Weg, wenn möglich sogar mit selbstverwirklichten Meistern. In der Gegenwart von selbstverwirklichten Meistern entsteht der Wunsch: So möchte ich auch sein. Es gibt auch den sogenannten indirekten satsang. Das heißt, Bücher von oder über selbstverwirklichte Meister/innen zu lesen oder Videos über diese Meister/innen anzuschauen. Das inspiriert und erhebt. Wenn man nicht physisch mit einem Meister zusammen sein kann, dann kann man es über Bücher, Videos oder Kassetten tun. Satsang ist sehr wichtig, eine Quelle der Inspiration. Regelmäßig mit anderen spirituellen Suchern zusammen zu praktizieren, vielleicht auch in einen ashram zu gehen und dort zu üben, hilft, den Wunsch nach Befreiung zu erhöhen.
  2. Eine zweite Weise, den Wunsch nach Befreiung zu verstärken ist vicâra, Unterscheidung zu üben, das Leben zu studieren. „Look into the defects of material life“ („Studiere die Unzulänglichkeiten des äußerlichen Lebens“), wie Swami Sivananda sagt. Das ist zwar ein unpopulärer Aspekt des Yoga. Lieber ist uns die Betrachtungsweise, daß Yoga das Leben befriedigend macht, unserem Leben Erfüllung gibt. Viveka (Unterscheidungskraft) üben heißt letztlich, zu erkennen, daß das Leben mit dem Tod endet. Was ist wirklich sinnvoll vor dem Hintergrund, daß die äußere Welt mit dem Tod aufhört? Alles, was wir auf der physischen Ebene aufbauen, werden wir irgendwann verlieren. Die Manu Smriti – eine alte Schrift von einem Meister namens Manu– sagt:Es gibt drei Dinge auf dieser Welt:

    Erstens die materiellen Dinge, ohne die der Mensch kommt, die er im Leben anhäuft und ohne die er wieder geht. Wir kommen nackt und wir gehen nackt. Wir nehmen nichts mit. Noch nicht einmal einen Pfennig oder Aktien und auch kein Gold. Nichts an materiellen Werten ist sicher. Aber es ist ganz sicher, daß wir auf der materiellen Ebene alles verlieren werden. Vieles verliert man sogar noch im Leben. Viele Menschen, die Geschäfte aufgebaut haben, sind gescheitert. Häuser, die Menschen sich gebaut haben, sind eingestürzt. In Kriegsgebieten oder bei Naturkatastrophen verlieren die Menschen alles. Wer sagt, daß uns das nicht auch so gehen kann? Wir denken immer, uns passiert das nicht. Es kann aber schnell passieren, und sei es nur durch eine Wirtschaftskrise. In der Volkswirtschaftslehre ist es sehr wohl bekannt, daß unsere Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren zusammenbrechen kann, wenn ungünstige Umstände zusammenkommen. Deshalb sollten wir uns überlegen, ob es sich wirklich lohnt, auf dieser Ebene so viel Energie, Zeit, Gedanken und Gefühle zu investieren.

    Dann gibt es etwas, mit dem kommen wir, das verändert sich im Laufe des Lebens und wenn wir gehen, nehmen wir es anders mit. Das ist unser Charakter und unser karma. Wir kommen mit einem bestimmten Charakter und unserem karma auf die Welt. Schon Babys haben ihre eigene Persönlichkeit. Bei derselben Mutter und demselben Vater, in gleichen Lebensumständen, sind Kleinkinder deutlich unterschiedlich. Und hoffentlich entwickeln wir im Lauf des Lebens unseren Charakter auf positive Weise. Wenn wir schon die Selbstverwirklichung nicht erreichen, sind wir mindestens am Ende unseres Lebens eine positivere, liebevollere, willensstärkere Persönlichkeit. Und hoffentlich haben wir viel Gutes getan, wenn es uns schon nicht gelungen ist, das ganze Leben nur nishkamya karma yoga auszuführen, also vollkommen wunsch-und verhaftungslos zu handeln. Wir haben hoffentlich wenigstens etwas getan, um positives karma zu erzeugen. Das Ziel des Yogis ist es natürlich, gar kein karma zu erzeugen, auch kein positives. Aber wenn wir schon karma erzeugen, weil es uns nicht gelingt, unser Ego ganz zurückzunehmen, dann wollen wir wenigstens gutes karma erzeugen. Swami Vishnu hat manchmal im Scherz gesagt: „Die beste Investition sind Spenden und gute Werke, denn das bekommt man ganz sicher wieder zurück, sogar mit Zinsen. Was wir in den Aktienmarkt investieren, verlieren wir ganz sicher, todsicher, nämlich spätestens mit dem Tod.“

    Und das dritte ist: Wir kommen mit etwas, das sich nicht verändert, und wir gehen auch damit. Das ist unser Selbst. Das Selbst, mit dem wir kommen und gehen, ist ewig, ohne Anfang und Ende, unberührt und unveränderlich.

    Das sollten wir uns öfter vor Augen führen, vor allem dann, wenn wir wieder im Begriff sind zu glauben, daß wir irgend etwas unbedingt brauchen. Wir sollten uns fragen: „Macht mich das wirklich glücklich?“ Und schrittweise werden wir erkennen: „So glücklich macht es mich gar nicht.“ Vielleicht tun wir es trotzdem, weil unser Unterbewußtsein nicht ausreichend davon überzeugt ist. Manche Wünsche muß man sich einfach erfüllen. Aber nachher, wenn man es erreicht hat und feststellt, daß es einen wirklich nicht glücklich gemacht hat, kann man seinem Geist sagen: „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt.“ Vor allen Dingen verlieren wir so die Besessenheit, mit der Menschen ihren Wünschen folgen. Viele denken, sie brauchen unbedingt dies oder jenes, um glücklich zu sein. Aber in Wirklichkeit braucht man keine konkreten äußeren Objekte. Natürlich ist es wichtig, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, zu wissen, man ist auch am nächsten Tag noch seines Lebens relativ sicher. Aber über diese existentiellen Grundbedürfnisse hinaus ist alles andere nicht so wichtig.

    Durch solche Reflexion gewinnt man eine große innere Sicherheit. Und als nächstes führt sie einen zu der Überlegung: „Wonach lohnt es sich wirklich zu streben? Was macht mich wirklich glücklich?“ – Und das ist nur der Wunsch nach Befreiung, nach Selbstverwirklichung, Gottesverwirklichung, Erfahrung der Liebe Gottes, wie auch immer wir es ausdrücken wollen. Das ist es, was glücklich macht. Indem wir also viveka, Unterscheidungskraft, entwickeln und gleichzeitig auch vairagya, Wunschlosigkeit, können wir den Wunsch nach Befreiung kultivieren.

  3. Wir können den Wunsch nach Befreiung durch Gebet erhöhen: „Oh Gott, ich habe so viele Wünsche. Bitte erhöhe in mir den Wunsch nach Befreiung.“
  4. Als vierter Weg gilt Karma Yoga. Es heißt, wenn wir gutes karma, gute Handlungen, ausführen, ohne etwas zu erwarten, dann ist das Resultat ein gesteigerter Wunsch nach Befreiung. Wenn wir jemandem etwas Gutes tun mit der Vorstellung, dafür belohnt zu werden, erhalten wir tatsächlich irgendwann irgendeine Art von Belohnung. Wenn wir dagegen jemandem helfen, weil es einfach nötig war, weil es die Situation erforderte und wir gerade da waren, also im Sinn einer wirklichen Karma-Yoga-Handlung, dann manifestiert sich das in einem gesteigerten Wunsch nach Befreiung.
  5. Dasselbe gilt für Bhakti-Yoga-Übungen. Wenn wir pujas (Verehrungsrituale) ausführen, mantras singen, innere Hingabe und Demut üben, zieht das die Gnade Gottes an, die sich dann als gestärkter Wunsch nach Befreiung äußert.

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Kapitel 1, Vers 23

Deutsche Übersetzung:

(Schneller Erfolg kommt) auch durch Hingabe an Gott.

Sanskrit Text:

īśvara-praṇidhānād-vā ||23||

ईश्वरप्रणिधानाद्वा ॥२३॥

ishvara pranidhanad va ||23||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • īśvara = Gott
  • pranidhāna = Hingabe
  • vā = oder, auch

 

Kommentar

Hier erscheint erstmals das Konzept von ishvara, Gott. Patanjali erläutert nicht weiter, wer oder was Gott ist. Denn das Raja-Yoga-System beruht auf der samkhya-Philosophie, einem der sechs klassischen Philosophiesysteme. Samkhya ist eigentlich ein atheistisches System, in dem zwar nicht gesagt wird, daß es keinen Gott gibt, sondern das Thema wird einfach nicht erwähnt.

Patanjali als Praktiker hat nun aber beobachtet, daß Menschen, die einen starken Glauben an Gott haben, Gott verehren und Gott hingegeben sind, die Selbstverwirklichung sehr schnell erreichen. Hingabe an Gott ist eine der schnellsten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Und er hat auch festgestellt, daß längst nicht alle Menschen, die Gott verehren, zur Befreiung kommen, sondern daß es einer bestimmten Einstellung dazu bedarf. Es gab immer schon auch in Indien Menschen, deren Glauben eher fanatisch oder nur rein äußerlich war. Allerdings wurden Religionszwistigkeiten in der Regel über Diskussionen ausgetragen. Bis zum Einfall der Moslems waren Religionskriege in Indien relativ unbekannt. Aber fanatischer oder nicht-verinnerlichter Glaube führt eben nicht zur Befreiung.

Deshalb hat Patanjali beobachtet und definiert, wie die Gottesverehrung beschaffen sein muß, bei der man die Befreiung erreicht:

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Kapitel 1, Vers 24

Deutsche Übersetzung:

Ishvara ist ein besonderes Bewußtseinszentrum frei von Leid, Karma und Wünschen.

Sanskrit Text:

kleśa karma vipāka-āśayaiḥ-aparāmṛṣṭaḥ puruṣa-viśeṣa īśvaraḥ ||24||

क्लेश कर्म विपाकाशयैःपरामृष्टः पुरुषविशेष ईश्वरः ॥२४॥

klesha karma vipaka ashayaih aparamrishtah purusha vishesha ishvarah ||24||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kleśa = Hindernisse des spirituellen Aspiranten, Leid, Ursache des Leides
  • karma = Handlung und Wirkung
  • vipāka = Wirkung der Handlung, Folgen der Handlungen
  • āśayaiḥ = Sediment, das von den Handlungen übrig bleibt. Also sowohl Erinnerung als auch Ursprung für neue Wünsche
  • aparāmṛṣṭaḥ = unberührt
  • puruṣa = das unveränderbare Selbst, Drashtu, hier Individuum
  • viśeṣa = besonders
  • īśvara = persönlicher Gott, ideal gedachtes Wesen

 

Kommentar

Hingabe an Gott führt da zur Befreiung, wo wir uns Gott vorstellen als

  • unberührt von Leiden. Gott leidet nicht, auch wenn er in seinen Verkörperungen zu leiden scheint
  • nicht dem karma unterworfen
  • wunschlos.

Die Vorstellung, daß Gott leidet oder es uns übelnimmt, wenn wir ihn nicht verehren, führt uns nicht zur Befreiung. Gott braucht keine Verehrung und auch keine Opfergaben. Gott hat nicht den Wunsch, daß alle Menschen Christen oder Moslems oder Hindus werden. Gott erwartet auch nicht von uns, daß wir dieses oder jenes tun, und wenn wir es nicht tun, ist er uns böse. Natürlich gibt es das Gesetz des karmas. Aber es ist nicht so, daß Gott Wünsche oder Vorlieben hätte. Gott ist frei von Leiden, frei von karma und frei von Wünschen. Gott bevorzugt weder Hindus noch Moslems noch Christen. Gott in seinem höchsten Aspekt hat auch nicht den Wunsch, daß mehr Menschen Yoga praktizieren.

Gottesverehrung hilft dem Menschen zur Befreiung, aber nicht Gott. Es heißt zwar, daß Gott uns sucht und, wenn wir einen Schritt zu ihm hin machen, hundert Schritte auf uns zugeht. Aber das ist nicht ein Wunsch, den er hat, sondern es liegt in der Natur Gottes, in seiner allumfassenden, bedingungslosen Liebe.

Patanjali verliert also nicht viele Worte darüber, was ishvara ist. Ob er weiblich oder männlich, persönlich oder unpersönlich, Schöpfer der Welt ist oder nicht, bleibt dahingestellt. Wir können ihn uns auf verschiedene Weisen vorstellen.

Patanjali gibt noch drei weitere Aphorismen über ishvara:

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Kapitel 1, Vers 25

Deutsche Übersetzung:

In Ihm ist der Same der Höchsten Allwissenheit.

Sanskrit Text:

tatra niratiśayaṁ sarvajña-bījam ||25||

तत्र निरतिशयं सर्वज्ञबीजम् ॥२५॥

tatra niratishayam sarvajna bijam ||25||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tatra = dort, in Ihm, in Ishvara
  • nir = nicht
  • atiśaya = überlegen, erhaben
  • nir-atiśayam = das Höchste, Unübertroffene
  • sarvajña = der Allwissende, alles Wissen
  • bīja = Same, Wurzel, Ursprung

 

Kommentar

Wir können alles Wissen erfahren, wenn wir uns auf ishvara beziehen. Wir können entweder zum höchsten Wissen kommen, indem wir meditieren und in uns selbst hineingehen, denn in uns selbst ist alles Wissen. Oder wir können zu Gott beten. Wenn wir zu Gott beten, wird er uns führen und uns alles Wissen bringen.

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Kapitel 1, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

Er ist der ursprüngliche Lehrer, unbegrenzt durch Zeit.

Sanskrit Text:

sa eṣa pūrveṣām-api-guruḥ kālena-anavacchedāt ||26||

स एष पूर्वेषामपिगुरुः कालेनानवच्छेदात् ॥२६॥

sa esha purvesham api guruh kalena anavachchhedat ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sa = er, jener
  • eṣa = dieser
  • pūrveṣām = von den Alten, von den Vorherigen
  • api = auch, sogar
  • guru = Lehrer, Meister, Guru
  • kāla = Zeit
  • anavacchedāt = nicht begrenzt, unverändert

 

Kommentar

Ishvara selbst ist der ursprüngliche guru (Lehrer). Die guru parampara (Schüler-Lehrer-Tradition) in der Schule Sivanandas beginnt bei Narayana. Narayana ist Vishnu, also eine Manifestation von ishvara. Die Hatha Yoga Guru Parampara fängt bei Shiva an. Alle guru paramparas in Indien fangen letztlich mit Gott an, indem ursprünglich ein Lehrer die Weisheit direkt von Gott empfangen hat. So ist Gott der Lehrer aller Lehrer.

Unabhängig davon können wir direkten Zugang zu Gott und göttliche Führung erhalten, indem wir zu Gott beten.

Wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen, die logisch nicht zu treffen sind, haben wir drei Möglichkeiten:

Wir können uns zum einen an unser Unterbewußtsein richten. Das Unterbewußtsein verfügt über bestimmte Erfahrungen und ein gewisses Wissen.

Noch besser wäre es, sich an das höhere Selbst zu wenden, aber oft ist beides schwierig, wenn wir etwas verzweifelt sind.

Den meisten fällt es dann leichter, sich an ishvara, an Gott, zu erinnern oder auch an den guru. Und wenn wir tief genug von Herzen beten, bekommen wir unweigerlich, in jeder Situation, überall, Führung – sei es in Form einer inneren Gewißheit oder sogar als Vision Gottes.

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Kapitel 1, Vers 27

Deutsche Übersetzung:

Das Ihn offenbarende Wort ist Om.

Sanskrit Text:

tasya vācakaḥ praṇavaḥ ||27||

तस्य वाचकः प्रणवः ॥२७॥

tasya vachakah pranavah ||27||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = sein (d.h. Ishvaras)
  • vācakaḥ = das Bezeichnende, das Offenbarende
  • praṇava = das Mantra OM

 

Kommentar

Eine weitere Weise, zu Gott zu kommen, ist die Mantrawiederholung. Patanjali nennt hier besonders Om als grundlegendes mantra.

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Kapitel 1, Vers 28

Deutsche Übersetzung:

Ständige Wiederholung von Om mit Gefühl und Bewußtsein seiner Bedeutung (führt zu ishvara bzw. samadhi).

Sanskrit Text:

taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam ||28||

तज्जपः तदर्थभावनम् ॥२८॥

taj japah tad artha bhavanam ||28||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = dessen, seine
  • japa = Wiederholung
  • tat = seine, dessen
  • artha = Sinn, Bedeutung
  • bhāvanam = Spirituelle Ausrichtung, Gefühl, Hingabe, Versenkung

 

Kommentar

Wenn wir Om wiederholen, über Om meditieren, führt uns das zu Gott und zu samadhi.

Das ist die dritte Meditationstechnik, die Patanjali anbietet. Die erste war die siebenstufige abstrakte samprajnata-Meditation, die für sehr fortgeschrittene Schüler hilfreich ist und auch für weniger fortgeschrittene ab und zu. Als ausschließliche Meditationstechnik ist sie aber für die Mehrheit nicht geeignet, weil sie zu abstrakt ist.

Eine zweite Möglichkeit ist, einfach Gott zu verehren, abstrakt an Gott zu denken, über ihn zu meditieren, zu ihm zu beten.

Und die dritte, die er hier erwähnt, ist über Om zu meditieren, und zwar mit Gefühl und Gewahrwerden der Bedeutung. Das gilt natürlich nicht nur für Om, sondern für die Meditation über jedes mantra.

Jetzt sagt er noch etwas Interessantes:

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Kapitel 1, Vers 29

Deutsche Übersetzung:

Die Wiederholung von Om verhilft zu erleuchteter Innenschau und zum Verschwinden aller Hindernisse.

Sanskrit Text:

tataḥ pratyak-cetana-adhigamo-‚py-antarāya-abhavaś-ca ||29||

ततः प्रत्यक्चेतनाधिगमोऽप्यन्तरायाभवश्च ॥२९॥

tatah pratyak chetana adhigamo ‚py antaraya abhavash cha ||29||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = von ihr (dieser Übung)
  • pratyak = Innenschau
  • cetanā = erleuchtet, ausgezeichnet
  • adhigamḥ = erhalten, erreichen
  • api = auch
  • antarāya = Hindernisse
  • abhava = Abwesenheit, Verschwinden
  • ca = und

 

Kommentar

Wenn man normalerweise über etwas nachdenkt, versinkt man meist schnell im Sumpf seiner Gedanken. Ist das Allgemeinbefinden beim Nachdenken gerade gut, dann ist es schön. Wenn es einem aber nicht so gut geht und man dann nachdenkt, kreisen die Gedanken beständig und man sackt immer mehr in den Sumpf hinein. Wenn man dann ein mantra wiederholt, wird der Geist klarer. Wenn man mit diesem durch Meditation erhobenen Geist nachdenkt, kann die Antwort leichter kommen. Das bedeutet erleuchtete Innenschau.

Und Patanjali verspricht uns auch noch die Beseitigung aller Hindernisse. Wir brauchen nur Om zu wiederholen und alle Hindernisse sind beseitigt. Das klingt gut – ob es wohl ausreicht ….?

Nach der indischen Unabhängigkeit kam einmal ein Politiker zu Swami Sivananda in den Ashram und zeichnete ihm ein vollständiges Bild aller Schwierigkeiten, vor denen Indien damals stand: Die Flüchtlinge, die aus Pakistan nach Indien geflohen waren. Die Moslems, die Angst hatten, daß die Hindus sich jetzt an ihnen rächen würden. Da waren die Konflikte zwischen den verschiedenen Bundesstaaten innerhalb Indiens. Die hohen Schulden und der Aufbau der Verwaltung. Die Engländer hatten Indien mehr oder weniger überstürzt verlassen, alle hohen Posten in der Verwaltung waren von Engländern besetzt gewesen, und niemand war darauf vorbereitet. Die ganze Verwaltung drohte zusammenzubrechen. Wie kann die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wie kommt man der Korruption bei? Die Gefahr eines Krieges mit Pakistan drohte u.s.w. Insgesamt ein riesiger Berg von Schwierigkeiten, vor dem das Land stand. Swami Sivananda hörte sich das alles aufmerksam und geduldig an, und als der Politiker ihn fragte, was die Lösung für all diese Probleme sein könnte, sagte Swami Sivananda im Brustton der Überzeugung: „Repeat the name of God that is the only solution“ – „Wiederholen Sie den Namen Gottes, das ist die einzige Lösung.“ Der andere war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte erwartet, Swami Sivananda würde ihm großartige Ratschläge zu den einzelnen Problemen geben. Aber er sagte tatsächlich nur: „Wiederholen Sie den Namen Gottes ….“

Wenn die Probleme so groß sind, daß wir sie nicht lösen können, dann kann sie nur Gott lösen. Indem wir den Namen Gottes wiederholen, bekommen wir Zugang zu ihm. Dann kommt die Gnade Gottes, so daß wir fähig werden, das auszuführen, was nötig ist und was innerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Außerdem befreit es uns von dem Gefühl, daß wir die Verantwortung für alles haben, daß wir alles ändern und tun müssen. Wir haben ohne Zweifel Aufgaben und wir versuchen, sie so gut wie möglich zu erfüllen. Aber es ist Gottes Aufgabe, sich um diese Welt zu kümmern. Wir sind das Instrument dafür und wir müssen offen sein, damit Gottes Gnade durch uns fließen kann, so daß wir auch in unübersichtlichen Situationen richtig handeln.

Auch auf vielen anderen Ebenen gibt es Hindernisse, die wir durch Mantrawiederholung überwinden können. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man das über eine gewisse Zeit ausprobiert: Konzentriert man sich auf das mantra und wiederholt es in schwierigen Situation etwas länger, dann verschwinden die Hindernisse. Es ist wirklich verblüffend, aber es ist tatsächlich so.

Und obwohl ich jetzt schon 20 Jahre lang mantras wiederhole, weiß ich bis heute nicht, wie sie eigentlich wirken, sondern nur, daß sie wirken. Ich halte zwar Vorträge über die Wirksamkeit von mantras, aber ihre Wirkungsweise an sich ist ein Mysterium.

Das sagt auch Shri Karthikeyan immer wieder, wenn er in unserem Seminarhaus ist: „Je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich, die ganze Welt ist ein Mysterium. Das Leben ist ein Mysterium. Der Geist ist ein Mysterium. Gott ist ein Mysterium. Mantras sind ein Mysterium. Niemand weiß, wie alles funktioniert.“ Daß es wirkt, wissen wir; wie genau, darüber haben wir zwar verschiedene Theorien, zum Beispiel Klangschwingungen, Resonanz, chakras, prana u.s.w., aber die Wirkung ist tiefer, als man logisch erfassen kann.

Und jetzt zählt uns Patanjali die Hindernisse auf, die es auf dem Weg gibt:

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Kapitel 1, Vers 30

Deutsche Übersetzung:

Die Hindernisse für die Verwirklichung sind Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Verlangen nach Vergnügen, Täuschung, die Unfähigkeit zur Konzentration und Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen.

Sanskrit Text:

vyādhi styāna saṁśaya pramāda-ālasya-avirati bhrāntidarśana-alabdha-bhūmikatva-anavasthitatvāni citta-vikṣepāḥ te antarāyāḥ ||30||

व्याधि स्त्यान संशय प्रमादालस्याविरति भ्रान्तिदर्शनालब्धभूमिकत्वानवस्थितत्वानि चित्तविक्षेपाः ते अन्तरायाः ॥३०॥

vyadhi styana sanshaya pramada alasya avirati bhrantidarshana alabdha bhumikatva anavasthitatvani chitta vikshepah te antarayah ||30||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vyādhi = Krankheit, körperliche Einschränkung
  • styāna = Stumpfsinn, geistige Trägheit, Steifheit, Rigidität
  • saṁśaya = Zweifel, Zögern, Unentschlossenheit
  • pramāda = Achtlosigkeit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit
  • ālasya = Faulheit
  • avirati = Haften an Dingen, Gier, Verlangen nach Vergnügen
  • bhrānti = Irrtum
  • darśana = Ansicht
  • bhrānti-darśana = Verblendung, Fanatismus
  • bhūmi = Erde, Stufe
  • alabdha-bhūmikatva = Nichterreichen einer Stufe, Unfähigkeit, einen Halt zu finden, Unfähigkeit zur Konzentration
  • anavasthitatvāni = Unstetigkeit, Unbeständigkeit
  • citta = Verstand
  • vikṣepa = Zerstreuung
  • te = sie, diese
  • antarāya = Hindernisse

 

Kommentar

Hier erwähnt Patanjali ein paar ganz typische Hindernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Wenn Menschen mir von ihrem Problem erzählen, reicht es oft aus, wenn ich ihnen sage, daß es den meisten Menschen so geht. Wenn sie wissen, das ist normal, andere haben das auch, können sie beruhigter damit umgehen.

Krankheit ist ein Hindernis aus verschiedenen Gründen. Zum einen natürlich, weil Krankheit uns schwächt. Wenn wir müde oder erkältet sind oder ein Bein gebrochen haben, ist es etwas schwer, sich zur Meditation hinzusetzen. Zum zweiten führt Krankheit aber auch oft zu Zweifeln am Yogaweg. Es gibt diese eigenartige Vorstellung, daß man nicht mehr krank wird, wenn man Yoga übt. Das wird bestärkt durch die teilweise etwas übertriebene Darstellung von Wirkungen der Yogaübungen in Yogabüchern – auch in denen von Swami Sivananda und Swami Vishnu-devananda. Im Kapitel über Gesundheit im Buch „Göttliche Erkenntnis“ von Swami Sivananda heißt es: „Gesundheit ist das Geburtsrecht des Menschen, und gesund sind wir dann, wenn wir die Gesetze der Natur beachten.“ Das ist der typisch indische Stil der Übertreibung. Es stimmt, daß wir weniger krank werden, wenn wir Yoga üben. In Amerika wurde eine Studie durchgeführt, die belegt, daß Menschen, die regelmäßig Yoga üben, nur ein Viertel der Krankheitskosten im Vergleich zum Durchschnitt verursachen. Das ist viel. Man könnte also die Gesundheitsvorsorgekosten auf ein Viertel reduzieren, wenn alle Yoga üben würden. Nur – Menschen, die Yoga üben, werden im Schnitt auch mindestens zehn Jahre älter als andere, so daß die Renten länger beansprucht werden. Folglich müßten die Krankenkassenbeiträge gesenkt und die Rentensätze erhöht werden. Es kann als gesichert gelten, daß Üben von Yoga in all seinen Aspekten – richtige Ernährung, Körperübungen, Entspannungstechniken, Atmung, positives Denken, gesunde Lebenseinstellung, Gottvertrauen, Sinn im Leben, gesunde Einstellung zum Schicksal und zum Streß – den Menschen erheblich gesünder macht und ein längeres Leben schenkt. Aber auch Yoga-Übende können Krankheiten bekommen.

Manche Krankheiten haben den Sinn, uns bestimmte Erfahrungen machen zu lassen, an denen wir wachsen. Diese Krankheiten suchen uns auch dann heim, wenn wir alles richtig machen im Leben. Andere Krankheiten kommen aus karmischen Gründen, weil wir in früheren Leben jemand anderem Krankheiten zugefügt haben oder ähnliches. Dann müssen wir uns mit der Krankheit abfinden. Und wieder andere kommen einfach deshalb, weil sie unseren Fortschritt beschleunigen.

In der Krankheit kann also durchaus eine Lektion liegen. Aber weil man dadurch oft träge wird und einem die spirituellen Praktiken wie asanas, pranayama und Meditation schwerfallen oder ganz unmöglich werden, kommen viele Menschen dadurch ins Zweifeln am ganzen Weg. Deshalb sind Krankheiten in erster Linie Hindernisse und wir bemühen uns insbesondere mit Hatha Yoga Übungen, unseren Körper gesund zu halten. Aber es kommt nicht auf die physische Langlebigkeit an, sondern darauf, wie viele Erfahrungen wir machen, wieviel wir lernen.

Das nächste Hindernis ist Trägheit. Patanjali erwähnt gleich drei Aspekte davon, nämlich geistige Trägheit, Gleichgültigkeit und Faulheit. Von den neun Hindernissen, die er aufzählt, sind drei letztlich tamas (Trägheit, Dunkelheit). Wir müssen tamas überwinden. Das geschieht durch regelmäßige spirituelle Praxis.

Als nächstes Hindernis folgt Zweifel. Der Mensch hat ständig Zweifel. Es heißt, es gibt nur zwei Arten von Menschen, die nie Zweifel haben: Das eine sind die Fanatiker und die anderen die Selbstverwirklichten. Bis zur Verwirklichung schlagen wir uns immer wieder mit vielen kleinen Zweifeln herum und ab und zu auch mit einem grundsätzlichen, größeren. Die Hauptzweifel sind:

  • Gibt es so etwas wie Selbstverwirklichung überhaupt?
  • Kann ich es tatsächlich selbst erreichen?
  • Befinde ich mich auf dem richtigen Weg dorthin?
  • Ist der Mensch oder der guru, dessen Tradition ich folge, der Richtige? Kann er mich richtig führen?
  • Ist das, was ich jetzt gerade praktiziere, überhaupt das richtige?“

Solche Fragen kommen oft auch noch nach Jahren der Praxis.

Wir müssen über Selbstverwirklichung lesen und hören und über Menschen, die sie wirklich selbst erreicht haben. Mit Menschen zu sprechen, die selbstverwirklichte Meister erlebt haben, oder vielleicht sogar persönlich einen zu treffen, verhilft uns zu der Gewißheit: Ja, es gibt sie tatsächlich, die Selbstverwirklichung. Auch die Überzeugung, mit der alle Meister sagen, daß es jeder erreichen kann, hilft uns. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten – aber wir können es erreichen!

Wir müssen uns zuerst gründlich Gedanken machen über den Weg, den wir gehen. Wir müssen überlegen, ob das der richtige Weg und der richtige Lehrer ist oder wir spüren es einfach. Und wenn wir merken, im letzten Jahr oder in den letzten zwei Jahren habe ich diese und jene Fortschritte gemacht, dann wird es sicher auch weitergehen. Sehr nützlich dabei ist ein Tagebuch, in dem man seine Erfahrungen und Schwierigkeiten aufschreibt. Wenn man dann nämlich ein paar Jahre später sein Tagebuch liest und sieht, was für Schwierigkeiten man damals hatte, dann lächelt man und weiß: Ich bin doch erheblich gewachsen. Ohne Tagebuch vergißt man gern, mit welchen Problemen man sich vorher herumgeschlagen hat.

Und ab und zu muß man seinem Geist sagen, er soll aufhören mit seinen Zweifeln. Wenn man einmal einen Entschluß gefaßt hat, dann sollte man ihn auch ausführen. Hin und wieder kann man die Angelegenheit vielleicht nochmals gründlich überdenken, aber nicht ständig zweifeln. Es gibt Menschen, die sich ständig in Selbstzweifeln suhlen. Man muß einfach auch mal einen Entschluß fassen und sich notfalls sagen: „Von jetzt an übe ich ein halbes Jahr mal so; danach schaue ich: War es der richtige Weg? Habe ich Fortschritte gemacht?“ Und dann soll man dieses halbe Jahr auch durchhalten, ohne seinen Entschluß dazwischen ständig in Frage zu stellen. Wenn ein halbes Jahr zu lange ist, nimmt man sich halt nur einen Monat vor oder eine Woche, aber es ist wichtig, daß man einen Entschluß faßt und sich von Etappe zu Etappe durchwühlt.

Auch wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, kann man sich einen Zeitrahmen setzen und sich vornehmen: „Ich gebe mir bis dahin Zeit, dann treffe ich eine Entscheidung und halte mich auch daran.“ Notfalls muß man dann den Entschluß fassen, auch wenn man nicht ganz sicher ist. Dann kann man sich sagen: „Das erscheint mir als das richtige. Wenn sich nicht bis dann und dann etwas Erhebliches ändert, sehe ich das als Hinweis Gottes an und bleibe bei dieser Entscheidung.“

Gleichgültigkeit ist das nächste Hindernis. Diese „Es ist ja alles egal“-Mentalität und Wurstigkeit darf sich nicht einschleichen. Gleichmut ist etwas anders als Gleichgültigkeit. Gleichgültig ist tamasig (träge, dunkel), gleichmütig ist sattvig (rein, klar).

Faulheit ist ein großes Hindernis. Ohne regelmäßige Übung kommt man nirgendwo hin.

Verlangen nach Vergnügen taucht manchmal einfach so auf. Als spiritueller Aspirant überlegt man manchmal: Gibt es nicht doch zu vieles, worauf ich verzichtet habe?

Ich selbst meditiere seit meinem 16. Lebensjahr. Ich bin noch nie in meinem Leben betrunken gewesen, habe noch nie ausgelassen auf einer Feier mitgemacht, – außer bei spirituellen Festen, und die waren harmonisch und schön. Manchmal sagen Leute zu mir: „Wie kannst du überhaupt wissen, was du da verpaßt hast?“ Gut, mir geht es jetzt nicht so, daß ich Angst habe, etwas zu verpassen oder verpaßt zu haben. Schon damals hat mir das nichts bedeutet. Ich habe die Menschen beobachtet, die das alles gemacht haben, und kam in relativ jungen Jahren zu dem Schluß, daß sie nicht wirklich glücklich sind. Ich kann mich erinnern, wie mich meine Cousine einmal in eine Disko mitgeschleppt hat. Kurz vorher hatte ich den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse gelesen, wo etwas über Tanzen vorkam, und so dachte ich, Ekstase über Tanzen zu erreichen, das müßte ja auch ganz schön sein. Dann habe ich das also ausprobiert … – nun gut, von einem Diskobesuch allein klappt das wahrscheinlich auch noch nicht! Aber ich habe auch die anderen beobachtet, und es kam mir zu hohl vor. Wenn Ekstase durch Drogen induziert ist, wenn man Drogen oder Alkohol dazu braucht, ist es keine wertvolle Erfahrung und führt überdies anschließend nur zu einem Kater. Man hat zwar bis vor kurzem angenommen, Ecstasy sei harmlos, aber es scheint so zu sein, daß man davon schwere Schädigungen im Gehirn davontragen und langfristig chronisch depressiv werden kann.

Aber manche Menschen auf dem spirituellen Weg haben doch manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Eine Seminarteilnehmerin hat mir neulich erzählt, sie mache jetzt zwar auch täglich asanas, pranayama und Meditation, aber einmal in der Woche gehe sie schon mit ihrem Freund in ein sehr gutes Restaurant, und der Rotwein gehöre dort einfach dazu. Sie hat das Gefühl, mit dem Glas Rotwein würde ihr ein großes Stück Lebensqualität entgehen. Gut, ich habe ihr jetzt auch nicht geraten, darauf zu verzichten, sondern gemeint, einmal in der Woche ein Glas Rotwein wird nicht so tragisch sein, wenn es ihr so wichtig ist. Aber wenn man eine Weile auf dem Weg ist, dann stellt man fest: Es ist es nicht wert, mit einem Glas Rotwein einen Teil der Wirkung der pranayama-Praxis (Atemübungen) zu vernichten. Und letztlich ist es kein so großes Vergnügen.

Täuschung ist das nächste Hindernis. Man kann sich oft täuschen, indem man Dinge falsch versteht oder falsch sieht oder indem man den niederen Geist für die innere Stimme der Intuition hält. Swami Vishnu hat gern gesagt: „Never trust your mind“ – „Traue nie deinem Geist“. Aber wem kann man sonst trauen?

Wenn man einen guru hat, kann man ihn fragen. Aber die Antwort ist meistens nicht eindeutig.

Ich habe Swami Vishnu oft gefragt. Bei technischen Fragen wie: „Wer kann kapalabhati auch wechselseitig ausführen?“ oder „Sollte man bei kapalabhati (Schnellatmung; eine Atemübung im Yoga) den Brustkorb erhoben oder drunten halten?“ „Sollte man vor dem Atemanhalten nach bhastrika (fortgeschrittene Atemübung im Yoga) rechts einatmen oder links?“ – denn das steht unterschiedlich in den Büchern –, hat er mir klare Antworten gegeben.

Aber als ich ihn gefragt habe, ob ich mein Studium aufgeben oder ob ich weitermachen soll, da kam keine klare Antwort. Oder als ich ihn mal etwas anderes gefragt habe, hat er mir auch nicht gesagt, was ich machen soll. Er sagte nur: „Entwickle Hingabe.“ In solchen Fällen gibt ein Meister nur Kriterien an, an denen man sich orientieren und nach denen man selbst entscheiden kann. Ein guru macht seine Schüler nicht abhängig. Er nimmt ihnen die Entscheidungen nicht ab. So wie Krishna am Ende der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Und jetzt mache, was du willst“. Am Anfang sagt er, er solle kämpfen, weil Arjuna das so heftig abgelehnt hat. Aber später, nachdem er ihm die Yogawege erklärt hat, überläßt er ihm die Entscheidung – und so ist auch ein guru. Der guru hilft einem, aus der Täuschung herauszukommen und die Antwort selbst zu finden.

Die Unfähigkeit zur Konzentration kann eine Schwierigkeit sein. Vielen Menschen fällt es am Anfang schwer zu meditieren. Manchmal kommt auch nach einer Weile eine Unreinheit im Geist hoch. Und obgleich man vielleicht ein Jahr oder länger sehr schöne Meditationen hatte, kann man plötzlich nicht mehr meditieren. Dann denkt man: Jetzt mache ich so viel Yoga und kann nicht mehr meditieren! Vorher habe ich weniger gemacht und es ging viel besser! Die Ursache ist eben eine stärkere Unreinheit, die sich löst, so daß man eine Weile von der Meditation wie abgeschnitten ist. Das muß man aushalten und trotzdem die Unterscheidungskraft behalten. Die wahrscheinlich wirkungsvollste Weise, die Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen, ist intensives pranayama. Das muß man aber von einem kompetenten Lehrer richtig lernen.

Und schließlich ist Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen ein Hindernis. Äußere Dinge lenken uns ab und machen den Geist unruhig. Wir sollten uns nicht ablenken lassen.

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