Kapitel 3, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Ursache der verschiedenen Entwicklungen sind die verschiedenen Naturgesetze.

Sanskrit Text:

kramānyatvaṁ pariṇāmānyateve hetuḥ ||15||

क्रमान्यत्वं परिणामान्यतेवे हेतुः ॥१५॥

kramanyatvam parinamanyateve hetuh ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • krama = Abfolge, Verlauf
  • anyatvaṁ = Unterschied, Verschiedenheit
  • pariṇāma = Wandlung, Entwicklung, Veränderung
  • anyatva = Unterschied, Verschiedenheit
  • hetu = Ursache

Kommentar

Die Naturgesetze sind die Ursache für alles, was sich im Leben verändert. Sie sind auch die Ursache für das, was Patanjali als nächstes beschreibt, nämlich die sogenannten übernatürlichen Kräfte. Auch diese Kräfte beruhen auf Naturgesetzen, aber eben auf einer anderen Ebene. Es sind überphysische Naturgesetze. Und sie sind nicht nur überphysisch, sondern auch überparapsychologisch, also überastral. Alle Umwandlungen unterliegen Naturgesetzen. Auch das, was scheinbar als siddhis, übernatürliche Kräfte, bezeichnet wird, entspricht in Wahrheit der Natur – nur ist uns das nicht ohne weiteres einsichtig, weil es Gesetze auf einer anderen Ebene sind.

Hier machen wir einen kurzen Sprung zum ersten Vers des vierten Kapitels, wo Patanjali sagt, siddhis werden als Ergebnis der Geburt, durch medizinische Kräuter, mantras, Übungen der Selbstzucht oder durch samadhi erreicht.

  • Durch Geburt: Manche Menschen haben einfach von Anfang an irgendwelche übernatürliche Fähigkeiten, wahrscheinlich, weil sie in früheren Leben viel spirituelle Praktiken gemacht haben und von daher weiter entwickelt sind.
  • Durch medizinische Kräuter und Drogen: Das kennt man zum Beispiel bei schamanistischen Kulturen. Gewisse Kräuter und Essenzen bringen den Geist in einen anderen Bewußtseinszustand. Mittels Drogen kann man zu allen möglichen bewußtseinserweiternden Zuständen und Erfahrungen kommen. Aber das ist eine gefährliche Sache, weshalb wir das im Yoga nicht anwenden.
  • Dann natürlich mantras, was in diesem Zusammenhang auch alle Formen von Zeremonien und Ritualen mit einschließt. Ich habe einmal ein Feuerlauf-Ritual miterlebt. Zuerst wurden bestimmte Rituale gemacht. Anschließend konnte man über glühende Kohlen gehen, auch darin stehen oder sie in die Hand nehmen. Der Körper war immun gegen die Kraft des Feuers.
  • Durch Übungen der Selbstzucht (tapas), wobei eine intensive asana– und pranayama-Praxis von Patanjalis Standpunkt aus bereits zur Askese zählt. Oder auch Fasten. Fasten macht den Geist leicht, durchlässig, empfänglich für Subtiles.
  • Und natürlich samadhi.

Hier im dritten Kapitel spricht Patanjali über samyama, das in samadhi mündet, und welche Kräfte man dabei erlangen kann. Aber im vierten Kapitel sagt er: Nicht jeder, der übernatürliche Kräfte hat, hat deshalb auch gleichzeitig samadhi erreicht. Deshalb müssen wir aufpassen und vorsichtig sein. Übernatürliche Kräfte sind nicht das Hauptkriterium zur Beurteilung eines Meisters.

Es wird keinen Meister geben, der nicht irgendwelche übernatürlichen Kräfte irgendwann einmal manifestiert. Er kann gar nicht anders. Selbst wenn er es abstreitet. Man braucht nur mit Schülern eines Meisters zu sprechen, dann erfährt man alles mögliche, was in Gegenwart des Meisters geschehen ist. Ich habe einiges mit Swami Vishnu erlebt. Und uns hat er immer erzählt, er hätte keine siddhis – das war schon fast nicht mehr satya! Aber er hat diese Kräfte nicht bewußt angewendet. Er hat nicht versucht, etwas zu machen. So etwas geschieht bei Meistern einfach. Wenn der Geist zu einer gewissen Konzentration fähig ist, kann man gar nicht anders, dann geschehen Wunder von selbst.

Und es gibt andere Menschen, die aus irgendwelchen der oben genannten Gründe bestimmte Fähigkeiten haben, aber keine Meister sind. Wenn jemand einem etwas über die eigene Vergangenheit sagen kann oder das persönliche mantra errät, oder aus der Hand heraus etwas manifestiert, heißt das nicht notwendigerweise, daß er ein Meister ist. Es gibt genügend Scharlatane. Und manchmal sind es auch einfach nur Taschenspielertricks.

In seiner Jugend hat Swami Vishnu sich hobbymäßig mit Zauberkünsten beschäftigt. Im Sivananda-Ashram gab es regelmäßig Bunte Abende. Im Rahmen eines solchen Abends hat Swami Vishnu einmal ein paar Zaubertricks aufgeführt. Anschließend hat Swami Sivananda ihn gebeten, ihm zu zeigen, wie das funktioniert, und Swami Vishnu hat ihm die Tricks dahinter gezeigt. Daraufhin hat Swami Sivananda gesagt: „Du als swami solltest von heute an niemals mehr solche Zaubertricks vorführen. Du magst sagen, es sind Zaubertricks, aber die Leute werden denken, daß es siddhis sind. Und es kann sein, daß du irgendwann einmal in Versuchung gerätst.“ Deshalb hat Swami Vishnu diese Zaubertricks danach nie mehr vorgeführt.

Swami Vishnu hat uns immer davor gewarnt, zu leichtgläubig zu sein. Auch später noch hat er oft Pseudomeister, die irgendwelche angeblichen übernatürlichen Kräfte demonstrierten, mit Video aufgenommen, das Video dann im Zeitlupentempo abgespielt und so versucht, den Trick dahinter herauszufinden.

Am Anfang des dritten Kapitels hat Patanjali generell gesagt: Durch Anwendung von samyama erreichen wir prajna, direktes Wissen, und jaya, Herrschaft, über alles. Nun kommt er zu den praktischen Anwendungen und zeigt uns auf, wie wir samyama auf bestimmte Dinge anwenden können.

Das klingt teilweise ganz phantastisch. Er beschreibt zum Beispiel, wie wir die Vergangenheit und die Zukunft erkennen können, hellsichtig werden, wie wir die Sprache der Wesen verstehen können, ohne die Sprache systematisch zu lernen, wie wir frühere Leben kennenlernen oder die geistigen Vorstellungen eines anderen wissen können – also Telepathie –, wie wir unsichtbar und unhörbar werden können, wie wir die Zeit unseres Todes erkennen können, wie wir bestimmte Eigenschaften und Kräfte in uns entwickeln, Subtiles wahrnehmen können, wie wir die Welt erkennen, Astrologie, Anatomie und Physiologie verstehen können, ohne sie studieren zu müssen, wie wir Hunger und Durst beherrschen, Kontakt zu höheren Wesen aufnehmen können, intuitive Sinne entwickeln können, wie wir levitieren und Übernatürliches hören können u.s.w.

Diese Verse sind aber nicht nur Anleitungen für übernatürliche Kräfte, sondern enthalten auch praktische Anweisungen und Anwendungsmöglichkeiten für das Leben jedes Aspiranten.

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