Kapitel 2, Vers 41

Deutsche Übersetzung:

Durch die Reinigung entstehen geistige Klarheit, heiteres Gemüt, Konzentrationsfähigkeit, Kontrolle der Sinne und Eignung für die Verwirklichung des Selbst.

Sanskrit Text:

sattva-śuddhiḥ saumanasya-ikāgry-endriyajaya-ātmadarśana yogyatvāni ca ||41||

सत्त्वशुद्धिः सौमनस्यैकाग्र्येन्द्रियजयात्मदर्शन योग्यत्वानि च ॥४१॥

sattva shuddhih saumanasya ikagry endriyajaya atmadarshana yogyatvani cha ||41||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Wahrheit, Reinheit, Licht, Klarheit
  • śuddhi = Reinigung, Reinheit
  • saumanasya = heiteres Gemüt, Heiterkeit
  • ekāgrya = Konzentrationsfähigkeit, Ausrichtung, Einpünktigkeit
  • indriya = Sinne, Wahrnehmungsorgane
  • jayā = Beherrschung, Sieg über
  • ātman = das Absolute
  • darśana = Vision, Sehen
  • ātmadarśana = Selbstverwirklichung, Selbsterkenntnis
  • yogyatvāni = Eignung zu, Fähigkeit
  • ca = und, auch

Kommentar

Shaucha wird zu sattvashuddi, dem sattvigen Prinzip der Reinheit. Ein großer Teil des Yoga besteht darin, daß wir uns bemühen, sattvig zu leben, uns sattvig zu ernähren, zu kleiden, sattvige Musik zu hören, sattva zu erzeugen. Je mehr sattva, desto mehr Reinheit ist da. Und daraus entsteht auch geistige Klarheit und Heiterkeit. Du kannst auch einmal in deiner Wohnung schauen, wo ist vielleicht etwas, was nicht so sattvig ist, und wenn es ein Erbstück von der Urgroßmutter ist, ein uraltes Gemälde, auf dem eine Schlacht abgebildet ist. Natürlich mußt du dabei auch das ahimsa-Prinzip beachten – wenn etwas anderen Familienmitgliedern am Herzen liegt, dann wirft man es natürlich nicht gleich weg. Aber wenn es niemand eigentlich mag, tut man es mindestens auf den Speicher oder gibt es weiter, wenn es jemand anders haben will. So kann man in verschiedener Hinsicht schauen, die Umgebung sattvig zu machen. Das gibt Klarheit, Heiterkeit, Zielbewußtheit, Kontrolle der Sinne und macht einen geeignet für die Verwirklichung des Selbst.

Natürlich machen wir im Yoga auch noch mehr, um Reinheit zu erreichen: kriyas, asanas, pranayama, all das trägt sowohl zur Reinigung des physischen Körpers wie auch des Geistes bei.

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Kapitel 2, Vers 42

Deutsche Übersetzung:

Aus Zufriedenheit gewinnt man unübertroffenes Glück.

Sanskrit Text:

saṁtoṣāt-anuttamas-sukhalābhaḥ ||42||

संतोषातनुत्तमस्सुखलाभः ॥४२॥

santoshat anuttamas sukhalabhah ||42||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • santoṣa = von Zufriedenheit
  • anuttama = unübertroffen, unvergleichbar
  • sukha = Glück, bequem, angenehm
  • lābha = Gewinn

Kommentar

Das ist vollkommen klar. Freude kommt, wenn wir zufrieden sind. Nun gibt es aber unterschiedliche Arten von Zufriedenheit. Zufriedenheit kann sattvig, rajasig oder tamasig sein.

Tamasige Zufriedenheit wäre: „Ist ja eh alles egal.“

Rajasige Zufriedenheit ist: „Ich bin zufriedener als alle anderen“, „Ich bin besser als du, weil ich zufriedener bin“ – wenn man also daraus ein dickes Ego züchtet.

Sattvige Zufriedenheit ist, das Beste aus allem zu machen. Sattvige Zufriedenheit heißt nicht Untätigkeit, sondern die Gewißheit, daß, was auch immer kommen mag, letztlich zu unserem Besten ist und daß wir daraus lernen können. Sattvige Zufriedenheit führt dazu, daß wir zwar aktiv sind, etwas tun, aber dabei innerlich loslassen, wissen, wir können den Ausgang letztlich nicht bestimmen, aber wie auch immer es kommt, irgendwie ist es gut für uns.

Wir haben schon an anderer Stelle die verschiedenen Fragen durchgesprochen, die man sich selbst stellen kann, um diese innere Einstellung zu erreichen. Gerade in einer schwierigen Situation ist es wichtig, sich zu fragen: Was ist hier meine Aufgabe, was kann ich lernen und was kann ich tun, um wieder glücklich zu sein, entweder in der Situation oder wie kann oder muß ich sie ändern.

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Kapitel 2, Vers 43

Deutsche Übersetzung:

Durch tapas werden Unreinheiten aufgelöst und Kräfte des Körpers und der Sinne herbeigeführt.

Sanskrit Text:

kāyendriya-siddhir-aśuddhi-kṣayāt tapasaḥ ||43||

कायेन्द्रियसिद्धिरशुद्धिक्षयात् तपसः ॥४३॥

kayendriya siddhir ashuddhi kshayat tapasah ||43||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kāya = der Körper
  • indriya = Sinnesorgane, Sinne
  • siddhi = übernatürliche Kraft
  • aśuddhi = Unreinheit, Trübsinn
  • kṣaya = vernichten, auflösen, reduzieren
  • tapas = Selbstdisziplin, Askese

Kommentar

Tapas, Askeseübungen, führen zur Auflösung von Unreinheiten und damit zu (übernatürlichen) Kräften des Körpers und der Sinnesorgane.

Hier muß man sich bewußt sein, daß Patanjali eine regelmäßige asana– und pranayama-Praxis bereits als tapas einstufen würde. Mit asana hat Patanjali eigentlich die Meditationshaltung gemeint, also das ruhige Sitzen. Wenn wir tapas konkret als Askese ausüben, dürfen wir den Körper nicht quälen. Es gibt ja in Indien und auch im Westen die Tradition, den Körper im Namen von Askese zu quälen und zu verunstalten. Im Mittelalter gab es die Geißler, die ihren Körper mit Peitschen und Nägeln zerstört haben – das gibt es in manchen Ländern bis heute. Oder in Indien stehen manche Menschen tage-, wochen- oder jahrelang auf einem Bein, bis Teile des Körpers absterben, verwelken und verledern. Dies bezeichnet schon Krishna in der Bhagavad Gita als tamasig. Sich quälen ist also nicht damit gemeint.

Tapas sollte zur Reinigung führen. Wenn wir Askeseübungen zur Reinigung des Körpers machen, führt das zu Kräften des Körpers und der Sinne und damit zu mehr Gesundheit. Fasten zum Beispiel ist eine einfache Methode, um ein subtileres Wahrnehmungsvermögen zu entwickeln. Kalte Duschen führen zu einer Abhärtung und Kraft des Körpers, wie von der Kneippkur bekannt. Man sollte sich zum Schluß immer kalt abduschen. Das ist eine der wichtigsten vorbeugenden Maßnahmen gegen Herz-/Kreislaufkrankheiten und Erkältungen. Zuerst empfindet man es zwar als unangenehm, aber nach einer Weile nicht mehr. Einmal fiel in einem Yoga-Center die Heizung und das Warmwasser aus. Wir hatten einen Servicevertrag mit einer Firma, die in solchen Fällen die Reparatur kostenlos ausgeführt hat. Aber unglücklicherweise stand im Vertrag nicht, daß die Reparatur innerhalb von 48 Stunden erfolgen sollte, sondern innerhalb von zwei Wochen! Die Serviceleute kamen also erst nach zwei Wochen, und so lange war erstens das Zentrum kalt, und zweitens hatten wir nur kaltes Wasser. Für die Schüler haben wir mit Elektroöfen die Zimmer aufgewärmt, aber sonst war es ziemlich kalt. Die ersten Tage war das furchtbar. Nach drei Tagen empfand man das Wasser nicht mehr als kalt, sondern als angenehm. Und nach ein oder zwei Wochen brauchte ich eigentlich kein warmes Wasser mehr. Auch asanas und pranayama regelmäßig zu üben, die asanas länger zu halten, als einem Spaß macht, pranayama länger zu machen, als man zunächst Lust hat, all das führt zu Kräften des Körpers und der Sinne. Die höheren Sinne werden aktiv, und wir bekommen siddhis, übernatürliche Kräfte, wir können Subtiles wahrnehmen.

Darüber hinaus können wir uns natürlich angewöhnen, Dinge zu tun, die wir nicht mögen, in der etwas weiteren Interpretation von tapas. Auch das führt zu innerer Kraft (siehe Interpretation II 9).

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Kapitel 2, Vers 44

Deutsche Übersetzung:

Swadhyaya (Selbststudium) führt zur Verbindung zum persönlichen Gott.

Sanskrit Text:

svādhyāyād-iṣṭa-devatā saṁprayogaḥ ||44||

स्वाध्यायादिष्टदेवता संप्रयोगः ॥४४॥

svadhyayad ishta devata sanprayogah ||44||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • svādhyāya = Selbststudium, Lernen von sich selbst
  • iṣṭa = geliebt, gesucht
  • devatā = Gottheit, persönlicher Gott, Ideal
  • saṁprayoga = Vereinigung, Verbindung

Kommentar

Das ist zunächst einmal eine überraschende Aussage: Über swadhyaya bekommen wir Zugang zu unserer persönlichen Gottheit. Im weiteren Sinne ist swadhyaya zu verstehen als Studium der Schriften und Studium des Selbst. Hier bedeutet swadhyaya Selbstbefragung und ist der Versuch, immer mehr nach innen zu kommen, weniger zu analysieren, was meine Fehler sind als vielmehr, wer ich selbst bin. Das bringt uns in Kontakt mit Gott, mit unserem ishta devata, unserer Vorstellung von Gott – und zwar noch bevor wir Verbindung zu atman oder purusha, dem höheren Selbst, bekommen. Auf einer gewissen Stufe der inneren Erkenntnis und inneren Verwirklichung entsteht so eine Verbindung zu einem persönlichen Aspekt Gottes.

Zum anderen erhebt natürlich auch das Studium der Schriften den Geist und hilft, Kontakt zu Gott zu bekommen, so daß wir uns Gott besser hingeben können. Und da die Heiligen Schriften der verschiedenen Religionen (wie Bibel, Koran, Veden, etc.) von Gott selbst offenbart wurden, verbindet man sich über das Studium dieser Schriften mit Gott, und zwar mit dem persönlichen Aspekt Gottes. Denn nur der persönliche Aspekt kann etwas offenbaren.

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Kapitel 2, Vers 45

Deutsche Übersetzung:

Ishvara pranidhana (Hingabe an Gott) führt zur Fähigkeit, samadhi (Überbewußtsein) zu erreichen.

Sanskrit Text:

samādhi siddhiḥ-īśvarapraṇidhānāt||45||

समाधि सिद्धिःीश्वरप्रणिधानात् ॥४५॥

samadhi siddhih ishvarapranidhanat ||45||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • samādhi = überbewusster Zustand, Samadhi
  • siddhi = Leistung, Fähigkeit
  • īśvara = Gott
  • praṇidhāna = Selbsthingabe

Kommentar

Hier wiederholt Patanjali, was er im ersten Kapitel schon erläutert hat. Hingabe an Gott führt zwar nicht sofort zu samadhi, aber sie versetzt einen in die Lage, samadhi zu erreichen. Wenn wir Gott hingegeben sind, kommt samadhi-siddhi, die Fähigkeit, die Kraft für samadhi.

Patanjali erwähnt ishvara-pranidhana an drei Stellen in den Yoga Sutras, aber er konkretisiert es nicht übermäßig, denn er will religiöse Streitigkeiten vermeiden. Indien hatte immer eine Vielzahl von Religionen, und innerhalb des Hinduismus gab und gibt es als religiöse Hauptströmungen die Shiva-, Krishna– und Devi-Verehrer sowie zahlreiche Nebenrichtungen. Wenn Patanjali die Gottesvorstellung nun irgendwie konkretisiert hätte, hätten vielleicht die vaishnavas (Anhänger Vishnus) dem widersprochen, oder die shaivas (Anhänger Shivas) oder die shaktas (Anhänger der weiblichen göttlichen Energie). So hat er seine Aussage ganz allgemein gehalten, um keine religiösen Gefühle zu verletzen.

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Kapitel 2, Vers 46

Deutsche Übersetzung:

Die asana (Sitzhaltung) soll fest und bequem sein.

Sanskrit Text:

sthira-sukham-āsanam ||46||

स्थिरसुखमासनम् ॥४६॥

sthira sukham asanam ||46||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sthira = kraftvoll, fest, unbewegt, stabil
  • sukha = bequem, angenehm, glücklich, leicht, entspannt
  • āsana = Asana, Haltung, Sitzstellung, Körper-Praxis

Kommentar

Für die Meditation sollte die Sitzhaltung längere Zeit unbeweglich und entspannt möglich sein. Sie sollte angenehm sein. Durch Übung ergibt sich das im Laufe der Zeit.

Das gilt aber auch für die Hatha Yoga asanas. Auch sie sollten fest und angenehm sein, sie sollten keine Quälerei sein, obwohl sie auch anstrengend sein können.

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Kapitel 2, Vers 47

Deutsche Übersetzung:

Die Stellung wird durch Loslassen von Spannungen und durch Meditation auf das Unendliche gemeistert.

Sanskrit Text:

prayatna-śaithilya-ananta-samāpatti-bhyām ||47||

प्रयत्नशैथिल्यानन्तसमापत्तिभ्याम् ॥४७॥

prayatna shaithilya ananta samapatti bhyam ||47||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • prayatna = Spannung, Anstrengung, Atem
  • śaithilya = Weichheit, Entspannung, Loslassen
  • ananta = das Endlose
  • samāpatti = durch Meditation, Konzentration, Treffen
  • abhyām = beides

Kommentar

Jetzt erklärt Patanjali, wie wir die Stellung meistern, nämlich nicht mit Gewalt, sondern durch Entspannen und Meditieren. Wir lassen erst einmal los, entspannen den Körper und meditieren dann über das Unendliche.

Das gilt auch für die Hatha Yoga asanas. Wenn wir zum Beispiel in der Kobra (Yogastellung) sind, gibt es natürlich gewisse Muskeln, die wir anspannen – manche Gesäßmuskeln, mittlerer und unterer Rücken, Latissimus, ein paar Oberarmmuskeln, Trapezius –, aber das Gesicht bleibt entspannt, der Bauch ist entspannt, Zehen sind entspannt u.s.w. Wir lassen in der Stellung los und entspannen. Wenn wir dann in der asana sind, können wir uns vorstellen: Ich meditiere über das Unendliche, ich bin verbunden mit dem Unendlichen, ich bin eins mit dem Unendlichen – das ist eine schöne Weise, asanas auszuführen und Vollkommenheit darin zu erreichen.

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Kapitel 2, Vers 48

Deutsche Übersetzung:

Durch diese (Meisterung der asanas) wird man frei von den Angriffen der Gegensatzpaare.

Sanskrit Text:

tato dvaṅdva-an-abhighātaḥ ||48||

ततो द्वङ्द्वानभिघातः ॥४८॥

tato dvandva an abhighatah ||48||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tata = davon (von der Beherrschung der Haltung)
  • dvaṅdva = Gegensatzpaare
  • an = nicht
  • abhighāta = Angriffe, Niederlage
  • anabhighātaḥ = Freiheit von Angriffen, Sieg, Herrschaft

Kommentar

Die dvandvas, Zweiheiten – von dva, zwei – greifen einen nicht mehr an. Wenn wir die asana mit dieser inneren Einstellung ausführen, werden wir nicht mehr so schnell berührt von den Gegensatzpaaren wie Hitze und Kälte, Vergnügen und Schmerz, Lob und Tadel, angenehm und unangenehm, gutes Essen oder schlechtes Essen, fades oder versalzenes Essen u.s.w.

Wir lernen es, in der Meditation reglos zu sitzen. Wenn uns eine Fliege über die Nase kriecht, was machen wir? – Ruhig sitzenbleiben. Wenn uns langsam eine Stechmücke ansaugt, schenken wir ihr in der Meditation Liebe und einen Tropfen Blut, so daß sie damit glücklich werden kann. Wenn wir allerdings eine Allergie haben gegen Moskitos, was machen wir dann? – Dann verjagen wir ihn. Und wenn uns die Hüfte weh tut, was machen wir? Wir bleiben ruhig sitzen. Und wenn sie extrem wehtut, was machen wir? Wir bewegen uns. Es gibt Grenzen, man muß abwägen und den gesunden Verstand einschalten, denn wir wollen uns nicht irgendwie schädigen. Aber wir lassen los, wir bleiben ruhig sitzen, so weit es möglich ist und so lernen wir Gleichmut.

Bei Seminaren gibt es häufig Glaubenskriege unter den Yogaschülern. Es gibt die Partei der Fenster-auf- und die der Fenster-zu-Anhänger. Und die können sich richtig streiten. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß schlechte Luft auf Sauerstoffmangel zurückzuführen sei. Der Mensch verbraucht gar nicht so viel Sauerstoff. Selbst bei geschlossenen Türen und Fenstern gibt es in der Regel noch genügend Luftaustausch und der Sauerstoffgehalt in der Luft nimmt nicht wirklich ab. Was man riecht, ist nicht der Mangel an Sauerstoff, sondern die Ausdünstungen der Menschen. Bei schlechter Luft ist immer noch genügend Sauerstoff da, aber es sind Geruchspartikel in der Luft und die sind nicht so schädlich! Umgekehrt erkältet man sich auch nicht von Kühle. Es gibt ausreichend Versuche, die zeigen, daß ein Mensch allein davon, daß er im Kalten sitzt, keine Erkältung bekommt. Ein bißchen zu frieren, ist nicht so schlimm, und wenn es mal ein bißchen riecht, ist es auch nicht schlimm. Wir können also ruhig sitzenbleiben und diesen Gleichmut inmitten der dvandvas entwickeln.

Natürlich gibt es auch kompliziertere dvandvas, Gegensatzpaare, die nicht so leicht aufzulösen sind.

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Kapitel 2, Vers 49

Deutsche Übersetzung:

Die nächste Stufe ist pranayama, die Beherrschung der Bewegung von Einatmung und Ausatmung.

Sanskrit Text:

tasmin sati śvāsa-praśvāsyor-gati-vicchedaḥ prāṇāyāmaḥ ||49||

तस्मिन् सति श्वासप्रश्वास्योर्गतिविच्छेदः प्राणायामः ॥४९॥

tasmin sati shvasa prashvasyor gati vichchhedah pranayamah ||49||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasmin = nach dieser, nach Asana
  • sati = gewesen, erreicht
  • śvāsa = Einatmung
  • praśvāsa = Ausatmung
  • gati = Bewegung, physische Bewegung
  • viccheda = Überschreiten, Transzendenz, Unterbrechung, Anhalten, Aufhören, Beherrschung
  • prāṇa = Lebensenergie
  • yāma = Binden, Regulieren
  • āyāma = Lösen, Befreien
  • prāṇāyāma = Harmonie mit der Lebensenergie, Atemübungen des Yoga

Kapitel 2, Vers 50

Deutsche Übersetzung:

Pranayama ist Einatmung, Ausatmung oder Anhalten des Atems; es wird durch Ort, Zeit und Dauer reguliert und fortschreitend verlängert und verfeinert.

Sanskrit Text:

bāhya-ābhyantara-sthambha vṛttiḥ deśa-kāla-sankhyābhiḥ paridṛṣṭo dīrgha-sūkṣmaḥ ||50||

बाह्याभ्यन्तरस्थम्भ वृत्तिः देशकालसन्ख्याभिः परिदृष्टो दीर्घसूक्ष्मः ॥५०॥

bahya abhyantara sthambha vrittih desha kala sankhyabhih paridrishto dirgha sukshmah ||50||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bāhya = Äußeres, Ausatmen
  • abhyantara = Inneres, Einatmen
  • stambha = Festigkeit, Ruhe, Unterdrückung, Anhalten
  • vṛtti = Welle, Gedanke, Bewegung, Gedankenwellen
  • deśa = Ort, Technik
  • kāla = Zeit
  • saṁkhyābhi = Anzahl, Mathematik
  • paridṛṣṭa = gemessen, reguliert, genau beobachtet, geprüft
  • dīrgha = verlängert, lange
  • sūkṣma = subtil, verfeinert, fein

Kommentar

Dieser Vers ist in seiner Einfachheit genial. Darin sind alle pranayama-Techniken zusammengefaßt. Denn eigentlich bestehen alle Atemübungen darin, daß man einatmet, anhält und ausatmet. Es gibt Ort, Zeit und Dauer. Ort: zum Beispiel durch das linke Nasenloch einatmen, durch das rechte Nasenloch ausatmen, durch den Mund ausatmen, tiefe Bauchatmung, Bauch- und Brustatmung – das sind verschiedene Orte der Atmung. Zeit: zum Beispiel vier Sekunden lang einatmen, sechzehn Sekunden lang anhalten, acht Sekunden ausatmen. Und Dauer: Wir können vier Runden machen, oder eine halbe Stunde oder zwei Stunden lang üben. Damit sind alle Atemübungen beschrieben. Alle Atemübungen bestehen aus einer entsprechenden Veränderung von Ort, Zeit und Dauer der Ein- und Ausatmung und des Anhaltens.

Und jetzt sagt Patanjali, das pranayama wird fortschreitend verlängert. Man macht mehr und mehr pranayama, gut, vielleicht nicht das ganze Leben lang immer mehr, sonst würde man irgendwann nur noch Atemübungen machen. Aber man beginnt mit der pranayama-Praxis ganz sanft, erhöht die Menge und Dauer langsam und schrittweise. Auch das Atemanhalten wird im Laufe der Zeit typischerweise immer länger.

Der nächste Schritt ist besonders wichtig: es wird verfeinert, wird subtiler. Am Anfang ist es wichtig, wie man die Hand hält, ob die Schultern gerade und locker sind und nicht hochgezogen, ob das Kinn richtig zur Brust gesenkt ist u.s.w. Irgendwann ist das nicht mehr so wichtig, der Körper ist richtig in der Stellung, wir brauchen uns nicht mehr darum zu kümmern. Das pranayama wird feiner, subtiler, und es wird immer wichtiger, wie man sich konzentriert. Man nimmt das prana mehr und mehr wahr, und schließlich sitzt man einfach da und steuert das prana. Man braucht dann gar keine großartigen äußeren Dinge mehr zusätzlich zu machen. Man hält zwar trotzdem noch die Luft an, atmet auch an der richtigen Stelle aus, aber das ist dann nicht mehr das Wichtige. Das Wichtige wird die subtile Lenkung von prana.

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