Kapitel 1, Vers 35

Deutsche Übersetzung:

Wenn die höheren Sinne aktiv werden, kommt Festigkeit des Geistes.

Sanskrit Text:

viṣayavatī vā pravṛtti-rutpannā manasaḥ sthiti nibandhinī ||35||

विषयवती वा प्रवृत्तिरुत्पन्ना मनसः स्थिति निबन्धिनी ॥३५॥

vishayavati va pravritti rutpanna manasah sthiti nibandhini ||35||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viṣayavatī = die Sinne betreffend
  • vā = oder, auch
  • pravrtti = Funktion, Tätigkeit
  • utpannā = erhoben, entstanden, gekommen von;
  • manas = Geist, Verstand, Gemüt
  • sthiti = Festigkeit, Stabilität
  • nibandhanī = Bildung von, hilfreich bei der Herstellung von

 

Kommentar

Wenn man meditiert, können auch höhere Sinne aktiv werden. Ein Beispiel dafür sind die anahata-Klänge, innere Klänge im linken oder rechten Ohr. Bei den meisten sind sie im rechten Ohr stärker. Bei manchen sind sie ziemlich gleichmäßig in beiden Ohren. Auf diese Klänge kann man sich konzentrieren, entweder, indem man einfach ganz bewußt diese schönen Klänge wahrnimmt oder versucht, den nächst subtileren Klang darin herauszuhören. Dieser subtilere Klang wird dann langsam stärker. Dann versucht man wieder, den nächst höheren Klang herauszuhören und so werden die Klänge immer subtiler, erhabener und schöner. Das kann den Geist ganz wunderbar konzentrieren.

Als Yogalehrer muß man wissen, daß es diese anahata-Klänge gibt und daß Tinnitus, eine Gehörkrankheit, etwas ganz anderes ist. Manche Menschen hören anahata-Klänge und halten sie für Tinnitus. Tinnitus ist ein sehr unangenehmes, lautes Ohrenrauschen, Ohrensausen. Tinnitus-Geräusche werden unter Streß stärker und bei Entspannung schwächer. Anahata-Klänge hingegen sind eher sanft und werden in der Ruhe stärker. Am meisten verbreitet ist wahrscheinlich ein ganz hoher Klang, ähnlich wie er früher beim Testbild für das Fernsehen zu hören war. Er wird um so stärker, je ruhiger der Mensch ist, zum Beispiel in einer sehr ruhigen Meditation, in einer spirituellen Umgebung, in einer Kirche oder wenn man mit einem Menschen ein spirituelles Gespräch führt. Für manche Menschen ist das ein Hinweis auf eine echte Herzenskommunikation. Wenn die Herzenskommunikation da ist und man nicht nur Worte austauscht, kommt dieser wunderbare Klang, und man spürt, das gegenseitige prana tauscht sich aus beziehungsweise die beiden pranas verbinden sich mit dem göttlichen prana. Bei ein paar Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über dem Versuch, im Tinnitus-Geräusch den anahata-Klang herauszuhören, die Tinnitus-Geräusche schön geworden. Und ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die anahata-Klänge gehört und sie für Tinnitus gehalten haben.

Es gibt auch das höhere Sehen. Man sieht bei geschlossenen Augen Bilder oder ein Licht im dritten Auge, worauf man sich konzentrieren und so den Geist festigen kann. Auf gleichmäßige, schöne, nach oben ziehende, wonnevolle innere Lichter kann man sich konzentrieren. Konkreten Bildern, Szenen aus einem Leben oder Fantasiebildern würde man nicht folgen, denn das ist kein höherer Sinn, sondern die Fantasie, Luftschlösser, was auch immer. Natürlich könnte man auch solche Bilder verfolgen, aber das führt nicht in eine so tiefe Meditation.

Früher dachte ich, ich sehe kein inneres Licht, bis mir jemand gesagt hat: „Schließe mal die Augen und schaue, was du siehst.“ Da ist mir aufgefallen, daß ich bei geschlossenen Augen eigentlich immer irgendwelches Licht sehe! Ich habe das nur nie für etwas Besonderes gehalten. Viele – aber keineswegs alle – Menschen sehen Licht, wenn sie die Augen schließen. Wenn man keine Klänge hört oder kein Licht sieht, ist das nicht etwa ein Zeichen mangelnden spirituellen Fortschritts. Es bedeutet einfach nur, daß dieser Sinn nicht aktiv ist. Wenn man will, kann man es auch trainieren. Es ist aber nicht notwendig.

Seltener ist es, daß Menschen subtile Gerüche riechen, zum Beispiel den Duft wunderbarer Räucherstäbchen. Ein Nektargeschmack im Mund ist ebenfalls möglich.

Häufiger wiederum kommt es vor, daß man ein überaus beglückendes, wonnevolles Gefühl hat. Man spürt zum Beispiel das ajna chakra („drittes Auge“; Energiezentrum) oder das Herz, man spürt, daß von oben Energie oder Licht in einen hineinströmt. Auch auf solche Gefühle kann man sich konzentrieren.

Viele Menschen erleben eines dieser fünf Phänomene. Manche Menschen sind insgesamt mehr auf das Fühlen ausgerichtet; sie fühlen dann auch eher die chakras (Energiezentren). Manche sind mehr über das Hören orientiert und hören eher innere Klänge. Und wer mehr über das Sehen orientiert ist, sieht vielleicht auch schneller innere Bilder oder ein inneres Licht.

Wenn diese höheren Sinne aktiv werden, dann wird die Festigkeit des Geistes leicht begründet.

Es ist eine leichte Technik, sich darauf zu konzentrieren, und zum anderen ist es auch eine gute Hilfe gegen Zweifel, weil man eben erkennt und erfährt, daß es tatsächlich höhere, sehr angenehme Formen der Wahrnehmung gibt. Und wenn die Wahrnehmung noch weiter geht, sich zu einer Intuition entfaltet und man tatsächlich Dinge wahrnimmt, die an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, in der Zukunft oder in der Vergangenheit, geschehen, dann weiß man einfach: Es gibt solche übersinnlichen Dinge. Oder wenn man in der Meditation den physischen Körper verlassen hat, dann weiß man ganz sicher: Ich bin nicht der physische Körper, egal, was die Wissenschaftler über das Gehirn und sonstige Sachen erzählen. Man hat den Körper von oben gesehen. Da gibt es dann nichts mehr zu diskutieren.

Vom absoluten Standpunkt aus gibt es natürlich weder astralen noch physischen Körper, alles ist eine Illusion, jagan mithya, die ganze Welt ist unwirklich. Aber vom relativen Standpunkt aus können wir in der Meditation erfahren, daß es eine astrale Welt gibt, eine subtile Wirklichkeit, unabhängig davon, was andere Menschen uns erzählen und wie unser eigener Geist rational argumentieren will. Deshalb hilft auch das zu einer Festigkeit des Geistes. Aber man muß auch nicht enttäuscht sein, wenn man bisher noch keine höheren Sinne gespürt hat. Es ist nur eine von vielen Techniken, die Patanjali erwähnt.

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