Kapitel 4, Vers 4

Deutsche Übersetzung:

Chittas (Gemüter) werden vom Ego geschaffen.

Sanskrit Text:

nirmāṇa-cittāny-asmitā-mātrāt ||4||

निर्माणचित्तान्यस्मितामात्रात् ॥४॥

nirmana chittany asmita matrat ||4||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • nirmāṇa = schaffen, erzeugen, entstehen
  • cittāni = Chitta, alles Wandelbare des Menschen, Geist, Verstand
  • asmitāḥ = Selbstbezogenheit, Egoismus, Identifikation mit dem Wandelbaren
  • mātrāt = allein daraus

Kommentar

Für diese drei Verse [Kommentar von Sukadev zu Vers 4, 5 und 6] gibt es zwei Interpretationen. Swami Vishnu interpretiert sie so:

Unser chitta, der Geist im Sinne von Gemüt, kommt vom Ego her. Das Gemüt beginnt letztlich mit dem Ego. Solange wir im Ego sind, sind wir im individuellen Gemüt. Es gibt sehr viele verschiedene chittas – nämlich so viele, wie es Wesen gibt –, aber all diese verschiedenen Gemüter sind Bestandteil des einen kosmischen Geistes.

Im ersten Kapitel (I 17) haben wir eine besondere Meditationstechnik kennengelernt, die in den Stufen von savitarka, nirvitarka, savichara, nirvichara und sananda zu sasmita führt, wo man versucht, aufzuhören, sich mit dem Individuum zu identifizieren.

Nicht einmal auf der physischen Ebene sind wir tatsächlich so getrennt, wie wir immer glauben. Sobald wir zwei Minuten lang nicht atmen, sind wir schon tot – gut, erfahrene pranayama-Yogis können die Luft auch schon mal drei Minuten lang anhalten, aber nach fünf Minuten ist man normalerweise tot. Wir sind also über den Atem verbunden, nicht nur untereinander, sondern mit dem ganzen Universum. Das physische Universum bildet ein organisches Ganzes und wird deshalb in der vedanta als viratswarupa bezeichnet.

Auch auf der emotionalen, psychisch-geistigen Ebene sind wir miteinander verbunden. Wir denken nicht im luftleeren Raum. Unsere Gedanken und Gefühle sind nicht nur beeinflußt von dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, von unserer persönlichen Vergangenheit und unseren Gehirnfunktionen, sondern sie sind auch bestimmt durch andere Gemüter, durch individuelle und kollektive Gedankenschwingungen. Alle zusammen bilden wir das kosmische Gemüt, hiranyagarbha.

Auf der Kausalebene sind wir erst recht nicht getrennt. Gerade auf dieser Ebene stehen wir alle miteinander in Verbindung als ishvara. Ishvara steht für verschiedene Manifestationen Gottes: Viratswarupa, die ganze physische Welt als physischer Körper Gottes. Hiranyagharba, alle Gemüter als zusammenhängende Teile des kosmischen Gemütes. Ishvara, alle Kausalkörper als Teil des universellen Kausalkörpers. Das ist vedanta-Philosophie.

Die samkhya-Philosophie sagt dasselbe mit anderen Worten. Aus dem einen Gemüt, mahat, sind die einzelnen chittas als individuelle Gemüter entstanden. Aber alle diese chittas werden letztlich beherrscht von dem einen kosmischen Geist, eka (= ein).

Wenn uns das bewußt ist, können wir letztlich auch unser eigenes Gemüt Gott opfern. Wir können sagen: „Oh Gott, du bist alles und überall. Du bist auch mein eigenes Gemüt. Du manifestierst dich auch durch meine Gedanken und Emotionen, und auch diese stelle ich dir zur Verfügung. Und all meine Schwächen bist du ja auch. Also stelle ich auch sie zur Verfügung. Und was auch immer ich heute tue, mit Körper, Gedanken, Emotionen, aus meiner eigenen Natur, aus meinem Selbst, aus meinen Verhaftungen heraus, all das opfere ich dir, denn du wirkst durch mich.“

So können wir uns von allen Schuldkomplexen und auf die falsche Ebene gesetzten Vollkommenheitsansprüchen befreien. Denn die physische Welt ist unvollkommen, in ständiger Veränderung. Selbst unsere unvollkommenen Gedanken und Emotionen sind Manifestationen des Göttlichen. Und sogar wenn wir mal aus der Rolle gefallen sind – natürlich sollten wir versuchen, das zu vermeiden –, können wir auch das Gott opfern und sagen: „Oh Gott, du hast dich jetzt so manifestiert, und auch das opfere ich dir.“ Wenn etwas schiefgegangen ist: „Bitte, Gott, kümmere du dich darum.“ Damit gibt man ohne Zweifel eine gewisse Verantwortung ab, und das ist gut so. Aber wir geben nicht alle Verantwortung ab. Vorher und gleichzeitig bemühen wir uns natürlich, uns zu entwickeln, aus Fehlern zu lernen.

Krishna sagt das in der Bhagavad Gita (XVIII 66) wie folgt:

sarvadharmân parityajya
mâm êkam sharanam vratja
aham tvâ sarvapâpêbhyô
môksha ishyâmi mâ shuksha

Sarvadharmân parityajya: Gib alle Pflichten auf. Das beinhaltet auch, alle Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ aufzugeben
Mâm êkam sharanam vratja: Nimm zu mir allein Zuflucht.
Aham tvâ sarvapâpêbhyô: Ich werde dich befreien (moksha) von sarva papa, von allen Sünden und Fehlern.
Môksha ishyâmi mâ shuksha: Mach dir keine Sorgen. Du kommst zur Befreiung.

Eigentlich ist das ja eine anarchistische Aussage: Du kannst machen, was du willst, es spielt keine Rolle. Opfere einfach alles Gott. Gott wird dich von allem befreien. Deshalb macht Krishna anschließend sofort die Einschränkung: „Gib das niemandem weiter, dem es nicht darum geht, zu Gott zu kommen, erzähle dies niemandem, der sich nicht bemüht, zur Vollkommenheit zu gelangen, und erzähle es niemandem, der sich nicht selbst beherrscht.“ (BhG XVIII 67) Denn das gilt nur für Menschen, die sich um Vollkommenheit, Selbstbeherrschung, Dienst am Nächsten und Hingabe an Gott bemühen. Diese vier Kriterien müssen erfüllt sein, dann können wir irgendwann loslassen, die Entscheidung Gott überlassen und unserem Intellekt eine Pause gönnen.

Wem es um all das geht, wer versucht, an sich selbst zu arbeiten, sich Gott hinzugeben, anderen Gutes zu tun, wer nach Befreiung strebt, dem kann man das sagen, denn er bemüht sich ernsthaft, im richtigen Geist, und anschließend kann er sagen: „Oh Gott, was auch immer ich getan habe, überlasse ich dir, einschließlich all meiner Unvollkommenheiten.“ Zuerst bemüht man sich, und dann läßt man los. Das ist das Beste. Es gibt kein besseres Rezept für geistige Entwicklung und Zufriedenheit. Nicht so gut machen, wie man denkt, daß man es können müßte, auch nicht so gut, wie ein anderer es tatsächlich oder vermeintlich machen kann, sondern mit der inneren Einstellung: Ich bin jetzt in diese Situation hineingestellt worden als Teil Gottes, weil meine Fähigkeiten und Möglichkeiten in dieser Situation und in diesem Augenblick die richtigen sind. Wäre ich nicht der Richtige, hätte Gott jetzt jemand anderen dorthin gestellt.

Wir bleiben uns der Tatsache bewußt, daß letztlich alle chittas von dem Einen kontrolliert werden. Und der chitta, der aus dhyana (Meditation, Kontemplation) geboren ist, ist frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten samskaras. Wenn jemand in der Meditation zu höheren Bewußtseinsebenen kommt, ersetzt die Erfahrung der Meditation seine alten samskaras und er erfährt eine grundlegende Veränderung seines Charakters. Wer zur Selbstverwirklichung kommt, wird frei von Unvollkommenheiten. Es geht schon darum, sich von diesen Unvollkommenheiten zu befreien, aber ohne Besessenheit, ohne Fanatismus und ohne sich ein schlechtes Gewissen einzureden.

Diese drei Verse haben noch eine andere, etwas eigenartige Bedeutung, die man in manchen Kommentaren findet:

Ein spiritueller Meister hat auch die Fähigkeit, aus seinem eigenen Geist andere chittas zu schaffen, um so karma schneller auszuarbeiten. Er manifestiert sich also in mehreren Körpern gleichzeitig. Wenn man ein solches chitta allein aus der Meditation schafft, ohne es mit früheren samskaras zu verbinden, hat dieses Gemüt keine samskaras und man kann das karma vorurteilsfrei ausarbeiten.

Die beiden nächsten Verse haben wir schon behandelt (siehe Kommentar zu II 14):

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