Kapitel 2, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Disziplin, Selbststudium und Hingabe an Gott bilden den kriya yoga.

Sanskrit Text:

tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ ||1||

तपः स्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि क्रियायोगः ॥१॥

tapah svadhyay eshvarapranidhanani kriya yogah ||1||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tapa = Askese, Disziplin, Hitze, Selbstdisziplin
  • svādhyāya = Selbststudium, sich selbst achtend
  • īśvarapraṇidhāna = Hingabe an einen persönlichen Gott, Selbstaufgabe, ohne Verhaftung an das Resultat
  • kriyā = Handlung, Yoga der Tat, Kriya-Yoga
  • yoga = Yoga

Kommentar

Der Ausdruck kriya heißt Handlung, ähnlich wie karma. Beide stammen vom selben Wortstamm kri. Kriya Yoga ist der Yoga der Handlung, d. h., es geht um Techniken und Methoden, die jeder ausführen kann; etwas, was man aktiv tun kann, ohne fortgeschritten zu sein.

Das Wort kriya yoga bezeichnet in verschiedenen Yogasystemen jeweils etwas anderes:

Im Hatha Yoga sind die kriyas die Reinigungsübungen wie neti (Nasenspülung) oder shank prakshalama (Magen-/Darmreinigung), etc.

Im Kundalini Yoga sowie bei Paramahamsa Yoganananda werden kombinierte Energietechniken als kriyas bezeichnet.

Kriya ist zunächst einmal etwas Handfestes, zu dem keine Konzentrationsfähigkeit und kein höheres Bewußtsein notwendig sind. Denn es ist schwer, kosmische Liebe zu empfinden oder die Gegenwart Gottes zu spüren. Es ist leichter, Anweisungen für bestimmte Techniken zu folgen, wie zum Beispiel: „Zieh‘ die Beckenbodenmuskeln zusammen, erzeuge den sanft hörbaren ujjayi-Klang, wiederhole geistig ‚lam, lam, lam‘ und visualisiere dabei eine Glasröhre in der Wirbelsäule, in der Licht vom unteren Ende der Wirbelsäule nach oben strömt.“ Das kann man irgendwie machen.

Im alten klassischen Bhakti Yoga sind die kriyas bestimmte Rituale, die ein indischer Hausvater, ein grihasti, ausführt, also z.B. pujas (Verehrungsritual), Ahnenverehrung, Almosen, Feuer entzünden u.s.w. Es gibt bestimmte Handlungen (kriyas), die für einen Haushalter vorgeschrieben sind; sie werden bei manchen Brahmanen auch heute noch praktiziert.

Und im Raja Yoga sind die drei kriyas tapas (Askese, Disziplin, Hitze), swadhyaya (Selbststudium) und ishvara pranidhana (Hingabe an Gott, Verehrung Gottes).

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Kapitel 2, Vers 2

Deutsche Übersetzung:

Er vermindert die kleshas (Leiden) und führt zu samadhi.

Sanskrit Text:

samādhi-bhāvana-arthaḥ kleśa tanū-karaṇa-arthaś-ca ||2||

समाधिभावनार्थः क्लेश तनूकरणार्थश्च ॥२॥

samadhi bhavana arthah klesha tanu karana arthash cha ||2||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • samādhi = Samadhi, Bewusstseinzustand der Erleuchtung, Ziel des Yoga
  • bhāvana = Ausrichtung auf
  • arthaḥ = Ziel
  • kleśa = Die Bürden; etwas, das den spirituellen Weg erschwert
  • tanū = vermindern, ausdünnen
  • karaṇa = herbeiführen, erreichen
  • arhta = Ziel

Kommentar

Kriya Yoga schafft bhâvana artha, das rechte, innige Gefühl, das samadhi herbeiführt. Indem wir kriya yoga praktizieren, entsteht die emotionelle Grundhaltung, bhâva, welche uns in die Lage versetzt, samadhi zu erreichen. Kriya Yoga vermindert die kleshas. Die kleshas sind die Ursachen des Leides.

Was sind nun die kleshas? Das wird im folgenden erklärt.

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Kapitel 2, Vers 3

Deutsche Übersetzung:

Unwissenheit, Identifikation, Anziehung und Abneigung sowie Furcht vor dem Tod sind die kleshas (Schmerz verursachenden Leiden).

Sanskrit Text:

avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ kleśāḥ ||3||

अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः ॥३॥

avidya asmita raga dvesha abhiniveshah kleshah ||3||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • avidyā = Unwissenheit, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit
  • asmitā = Selbstbezogenheit, Identifikation mit dem Körper bzw. dem Wandelbaren des Menschen
  • rāga = Gier, Anziehung, Wunsch; Glaube, dass etwas Äußeres uns glücklich machen kann
  • dveṣa = Ekel, Abneigung; Glaube, dass etwas Äußeres uns ins Unglück stürzen kann
  • abhiniveśa = tief in uns sitzende Angst, Todesangst, Lebenswille
  • kleśa = Die Bürden auf dem spirituellen Weg

Kommentar

Die fünf kleshas heißen

avidya – Nichtwissen, Unwissenheit
asmita – Egoismus, Ichhaftigkeit, Identifikation
raga – Mögen, Wunsch, Gier
dvesha – Nichtmögen, Abneigung
abhinivesha – „Anhaften“, im engeren Sinn Furcht vor dem Tod, im weiteren übertragenen Sinn Angst in jeglicher Form

Wir betrachten die kleshas zunächst näher. Dann wird es leicht verständlich, warum kriya yoga hilft, Leiden zu vermeiden.

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Kapitel 2, Vers 4

Deutsche Übersetzung:

Avidya (Unwissenheit) ist die Ursache (Quelle) von allen darauf folgenden (kleshas), ob sie nun schlafend, schwach, überwunden oder voll wirksam sind.

Sanskrit Text:

avidyā kṣetram-uttareṣām prasupta-tanu-vicchinn-odārāṇām ||4||

अविद्या क्षेत्रमुत्तरेषाम् प्रसुप्ततनुविच्छिन्नोदाराणाम् ॥४॥

avidya kshetram uttaresham prasupta tanu vichchhinn odaranam ||4||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • avidyā = Unwissenheit, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit
  • kṣetra = Acker, Feld, Quelle
  • uttara = die Folgenden, die Weiteren
  • prasupta = schlafend, latent, schlummernd
  • tanu = schwach, ausgedünnt, keimen, jung
  • vicchinnā = ausgewachsen, stark
  • udāra = mächtig, übermächtig, riesig
  • āṇām = von all diesen

Kommentar

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Kapitel 2, Vers 5

Deutsche Übersetzung:

Durch avidya (Unwissenheit) hält man das Vergängliche, Unreine, Leidvolle, das Nicht-Selbst fälschlicherweise für das Ewige, Reine, Freudvolle, das Selbst.

Sanskrit Text:

anityā-aśuci-duḥkha-anātmasu nitya-śuci-sukha-ātmakhyātir-avidyā ||5||

अनित्याशुचिदुःखानात्मसु नित्यशुचिसुखात्मख्यातिरविद्या ॥५॥

anitya ashuchi duhkha anatmasu nitya shuchi sukha atmakhyatir avidya ||5||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • anitya = Vergängliches, Unbeständiges
  • aśuci = Unreines, nicht Sauberes
  • duḥkha = Schmerz, Leid, Elend
  • an = nicht
  • ātma = das wahre Selbst
  • anātma = das nicht wahre Selbst, also das wandelbare Chitta
  • nitya = Beständiges, Ewiges
  • śuci = Reines, Sauberes
  • sukha = Glück, Glück bringend
  • ātma = das wahre Selbst, Drashtu
  • khyāti = Erkennen, Wissen, Bewusstsein
  • avidyā = Unwissen, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit

Kommentar

Der Körper ist voller Unreinheiten, schmerzvoll und nicht das Selbst. Aber wir denken: Ich bin der Körper. Und die wenigsten rechnen damit, daß sie sterben werden. Sie halten den Körper für rein, für gut, für ewig. In einer Umfrage wurden Menschen gefragt, ob sie lieber zu Hause oder im Krankenhaus sterben wollen. Die meisten sagten: „Wenn ich schon sterben muß, dann lieber zu Hause.“– als ob das die Frage wäre. Man stirbt ganz sicher irgendwann (körperlich)!

Wenn wir einmal pro Woche shank prakshalama (Magen-/Darmreinigung) machen, oft fasten, nur biologisch-organisches Gemüse in optimalen Abstimmungen essen, jeden Tag neti, dhauti, basti u.s.w. machen würden, würden wir zwar den Körper recht rein halten, aber irgendwann stirbt er trotzdem. Der Körper bemüht sich von Natur aus, rein zu bleiben. Durch verschiedene Reinigungspraktiken versuchen wir, ihn dabei zu unterstützen. Die meisten Menschen machen aber eher das Gegenteil. Sie muten ihrem Körper alle möglichen schlimmen Sachen zu, und das führt eben zu Unreinheiten. Denn die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir alle möglichen Konservierungs-, Geschmacks-, Aroma- und Farbstoffe zu uns nehmen; die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir die Luft vergiften und sie dann einatmen; die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir unseren Körper zum Grab von Tierleichenteilen machen. Das alles führt zu allen möglichen Unreinheiten.

Und wie mit unserem Körper, identifizieren wir uns auch mit unserer Persönlichkeit, mit unseren Talenten, Fähigkeiten, Neigungen: „So bin ich halt“.

Man hält das Schmerzvolle für das Gute, Freudvolle. Alles Sinnliche ist letztlich nicht wirklich freudvoll, aber man denkt, dies oder jenes zu erreichen, müßte freudvoll sein.

Das sind Beispiele für avidya, Unwissenheit, fälschliche Ansicht.

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Kapitel 2, Vers 6

Deutsche Übersetzung:

Asmita (Egoismus) ist die Identifikation des Sehenden mit dem Instrument des Sehens.

Sanskrit Text:

dṛg-darśana-śaktyor-ekātmata-iva-asmitā ||6||

दृग्दर्शनशक्त्योरेकात्मतैवास्मिता ॥६॥

drig darshana shaktyor ekatmata iva asmita ||6||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dṛk = der Sehende, der Wahrnehmende, das eigentliche Selbst, Drashtu
  • darśana-śakti = Kraft des Sehens, Instrument der Wahrnehmung, das wandelbare Selbst, Chitta
  • eka = Eins
  • ekātmatā = Einheit, Identität, Identifikation
  • eva = als ob
  • asmitā = Identifikation mit dem Wandelbaren, Egoismus

Kommentar

Die tatsächliche Identifikation mit dem Körper, den Gedanken, Gefühlen, Fähigkeiten ist der nächste Schritt. Am Anfang steht avidya, die fälschliche Ansicht, und als nächstes sind wir asmita, wir kommen zu einer Identifikation unseres Ichs: „So bin ich, das bin ich“.

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Kapitel 2, Vers 7

Deutsche Übersetzung:

Raga (Mögen) ist das, was am Vergnügen haftet.

Sanskrit Text:

sukha-anuśayī rāgaḥ ||7||

सुखानुशयी रागः ॥७॥

sukha anushayi ragah ||7||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sukha = Glück, Vergnügen, Freude
  • anuśayī = darauf beruhen, vertrauen auf, resultierend, annehmen
  • rāga = Gier, Verlangen, Anziehung, Zuneigung, Mögen, das „Haben-wollen“

Kommentar

Wenn wir uns mit etwas identifizieren, halten wir etwas Bestimmtes für wünschenswert. Diese bestimmte Sache bringt uns unserer Meinung nach Vergnügen. Und was Vergnügen bringt, das wollen wir haben.

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Kapitel 2, Vers 8

Deutsche Übersetzung:

Abneigung ist das, was am Schmerz haftet.

Sanskrit Text:

duḥkha-anuśayī dveṣaḥ ||8||

दुःखानुशयी द्वेषः ॥८॥

duhkha anushayi dveshah ||8||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • duḥkha = Schmerz, Leiden, Unglück
  • anuśayī = darauf beruhen, vertrauen auf, resultierend, annehmen
  • dveṣa = Ekel, Vorurteil, Abneigung, Nichtmögen

Kapitel 2, Vers 9

Deutsche Übersetzung:

Furcht vor dem Tod ist der fortgesetzte Wunsch zu leben, von dem sogar der Weise beherrscht wird.

Sanskrit Text:

svarasvāhi viduṣo-‚pi samārūḍho-‚bhiniveśaḥ ||9||

स्वरस्वाहि विदुषोऽपि समारूढोऽभिनिवेशः ॥९॥

svarasvahi vidusho ‚pi samarudho ‚bhiniveshah ||9||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sva = eigene
  • rasa = Natur, Essenz, Kern
  • vāhī = Träger
  • viduṣa = der Gelehrte, Weise
  • api = sogar
  • samā = sehr, völlig
  • rūdha = reitend, beherrschend
  • abhiniveśa = tief in uns sitzende Angst, Todesangst, Lebenswille

Kommentar

Einen Selbsterhaltungstrieb hat sogar noch der Weise.

Jetzt könnte man sagen – und so argumentiert die westliche Psychologie –: Selbsterhaltungstrieb ist ein menschlicher Instinkt, das ist Teil des menschlichen Lebens, und das ist gut so. Aber die Yogis sagen: „Das ist eine Ursache des Leidens und man kann durchaus etwas dagegen tun.“

Patanjali gibt uns also eine Kette von Leid-Ursachen:

  • Unwissenheit ist Ursache des Leidens
  • Identifikation ist Ursache des Leidens.
  • Etwas besonders gern zu haben, ist Ursache des Leidens.
  • Etwas abzulehnen, ist Ursache des Leidens.
  • Und letztlich ist die Furcht vor dem Tod, also der Selbsterhaltungstrieb, auch Ursache des Leidens.

Wir können das jetzt sehr abstrakt oder sehr konkret sehen.

Nehmen wir die Sache mit dem Körper als Beispiel.

Avidya, Nichtwissen: Wir vergessen, wer wir wirklich sind. Wir vergessen, daß wir das unsterbliche Selbst sind, und identifizieren uns mit diesem Körper (asmita). Konsequenz davon ist raga, wir mögen etwas, und dvesha, wir mögen etwas nicht. Der Körper hat bestimmte Wünsche, Vorlieben u.s.w. Nun mögen wir dies und jenes, und bestimmte andere Dinge mögen wir nicht. Dann mögen wir natürlich auch, daß der Körper schön aussieht, daß das Haar füllig ist, glänzt, glatt oder gelockt oder wie auch immer ist. Wir mögen es nicht, wenn wir wieder ein paar zusätzliche graue Haare haben. Wir mögen es darüberhinaus, daß uns jemand sagt: „Siehst du aber gut aus!“ Wir mögen es nicht, wenn man uns sagt: „Du siehst aber mitgenommen aus heute!“ oder sonst etwas Ähnliches. Nun passiert es aber mehr oder weniger häufig, daß das, was wir mögen, nicht eintritt, und das, was wir nicht mögen, passiert. Das führt dann zu Leiden. Und schließlich abhinivesha: Wir identifizieren uns mit diesem Körper und haben Angst davor, ihn zu verlieren. Eines ist aber sicher: Wir verlieren den Körper irgendwann. Und manchmal hat man Krankheiten, schwere Krankheiten. Das bringt Menschen total durcheinander. Ihre ganze Lebensphilosophie muß sich ändern.

Manche Menschen identifizieren sich weniger mit ihrem Körper, sondern mehr mit einem bestimmten Teil ihrer Persönlichkeit. Künstler zum Beispiel definieren sich oft über ihr Künstlertum, wie etwa ein Musiker, Dichter oder Maler: „Ich bin Musiker.“ Ein Musiker hat eine ganz bestimmte Persönlichkeit und Identifikation. Er hat bestimmte Vorlieben. Er macht zum Beispiel gern Musik. Und er spielt bestimmte Arten von Musik besonders gern. Er ist gern mit anderen Musikern zusammen. Er freut sich, wenn er für seine Musik gelobt wird. Wenn man einen Musiker, der sich sehr mit seiner Musik identifiziert, dafür lobt, was für eine schöne Krawatte er trägt, dann interessiert ihn das nicht übermäßig. Wenn er aber von einem von ihm selbst geachteten anderen Musiker gelobt wird, wie gut er gespielt hat, dann wächst er. Findet jemand sein Spiel nicht gut, dann mag er das überhaupt nicht. Er hat auch Angst davor, kritisiert zu werden, nicht anerkannt zu werden, seine Musikalität zu verlieren.

Man kann sich mit jedem Beruf identifizieren. Ein Handwerker zum Beispiel möchte alles immer ordentlich und richtig machen.

Intellektuelle Menschen identifizieren sich sehr mit ihrem Intellekt. Und dann mögen sie zum Beispiel intellektuelle Diskussionen mit anderen Menschen, die klug sind. Sie mögen es nicht, mit scheinbar dummen Menschen etwas zu tun zu haben. Sie haben große Angst davor, daß die Schärfe ihres Intellekts nachläßt. Ihre größte Angst wäre, Alzheimer oder eine ähnliche Krankheit zu bekommen. Alles andere wäre für sie vielleicht nicht so schlimm, aber wenn sie irgendwann einmal merken, sie haben etwas vergessen, sie verstehen etwas nicht so schnell, das wirft sie total aus der Bahn

Manche Menschen identifizieren sich mit ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau, Ehemann, Sohn etc. Viele identifizieren sich sehr stark mit einem anderen Menschen, beziehungsweise mit ihrem Bild von diesem Menschen. Manche identifizieren sich mit ihrem Haus, ihrer Firma, ihrem Auto, ihrer Briefmarkensammlung u.s.w.

Neben diesen allgemeinen gibt es auch negative Identifikationen. Manche Menschen halten sich für unfähig, meinen, daß sie kaum etwas können, und identifizieren sich damit. Sie mögen es, eher einfache Sachen zu tun. Und sie haben Angst vor vielen Aufgaben und vor Kritik. Sie identifizieren sich mit einer Rolle als Unglücksrabe, als Sündenbock etc.

Identifikation gibt es auch mit der spirituellen Übung: Angenommen, jemand identifiziert sich besonders mit seiner/ihrer Asanapraxis. Dann will er/sie natürlich auch ein Lob haben. Er/sie will z.B. auch den Skorpion (eine Yogastellung) können, und wehe, er gelingt nicht. Oder wenn er gelingt, dann schaut der Yogalehrer gerade nicht hin und das erwartete Lob bleibt aus. Angenommen, jemand bekommt vom Arzt gesagt: „Drei Monate lang dürfen Sie keine Rückbeugen machen“, bricht manchmal für diesen Menschen die Welt zusammen. Dabei wäre es so einfach, sich zu sagen: „Gut, dann mache ich halt mal drei Monate lang andere Übungen.“ Ich kenne Menschen, die jahrelang Yoga üben und plötzlich aus irgendwelchen Gründen bestimmte Übungen nicht mehr machen können. Das wirft manchen total aus der Bahn. Besser wäre es, dann eben andere Übungen zu machen. Und manchen wirft es auch aus der Bahn, wenn er mal weniger Zeit hat zum Üben oder es mal nicht so gut gelingt.

Auch mit anderen Aspekten des spirituellen Lebens, die eigentlich gut sind, können wir durch Anhaften zum Leid kommen. Man hat konkrete Vorstellungen über den spirituellen Weg. Nur, wir müssen uns auch hierbei vor Identifikationen hüten. Vieles auf dem spirituellen Weg kommt anders als wir erwarten.

Immer wenn man unglücklich ist, dann ist die Ursache die Identifikation mit irgend etwas. Irgendwo hat man seine wahre Natur als umfassendes Bewußtsein, als unvergängliches Sein, Wissen und Glückseligkeit vergessen. Das ist avidya. Man hat sich mit etwas identifiziert, was man nicht wirklich ist (asmita). Irgendwie hat man daraus ein Mögen (raga) und Nichtmögen (dvesha) gemacht und Angst entwickelt, etwas zu verlieren oder nicht zu können u.s.w. (abhinivesha). Und dann ist etwas eingetreten, was dem widersprochen hat, was wir mögen.

Es gibt Identifikationen verschiedener Grade. Zunächst haben wir einen Körper, einen Geist, eine Psyche, außerdem Fähigkeiten und Neigungen, mit denen wir uns identifizieren. Das ist eine Identifikation ersten Grades. Nun identifizieren wir uns aber nicht mit dem Körper, dem Geist und unseren Fähigkeiten, wie sie wirklich sind, sondern wir haben ein Bild davon, wie unser Körper, unser Geist, unsere Fähigkeiten und Neigungen, kurz unsere Persönlichkeit, sind. Das ist eine Identifikation zweiten Grades. Eine ganze Reihe von Menschen halten sich für zu dick, die, medizinisch gesehen, Normalgewicht haben. Sogar viele, die medizinisch untergewichtig sind, halten sich für übergewichtig. Man identifiziert sich mit seinem Selbstbild. Als drittes gibt es das Bild, das andere von uns haben. Und das vierte ist das Bild, von dem wir wollen, daß andere es von uns haben. Je mehr diese vier Bilder divergieren und je stärker sie verankert sind, desto mehr Spannungen gibt es.

Zu satya, Wahrhaftigkeit, gehört in diesem Sinne durchaus, authentisch zu sein und herauszufinden: Was sind meine Stärken und Schwächen, was ist meine Persönlichkeit? Und wir sollten uns so akzeptieren, dazu stehen und nicht versuchen, anders zu sein oder zu scheinen als wir eigentlich sind. Auf diese Weise nähert sich auch das Bild, das die anderen von uns haben, unserem Selbstbild. Das allein hilft, innere Konflikte abzubauen. Das ist schon ein etwas positiveres asmita.

Im Laufe der Zeit läuft die Yogapraxis typischerweise darauf hinaus, daß man ein authentischerer Mensch wird, daß man keine Angst davor hat, natürlich zu sein, zu seinen Schwächen zu stehen. Dabei hilft es natürlich auch, daran zu arbeiten, avidya zu reduzieren und zu erkennen: Ich bin weder der Körper noch der Geist, eigentlich bin ich das unsterbliche Selbst. Dieser Körper und dieser Geist sind mein Instrument. Und dieses Instrument können die anderen ruhig so sehen, wie es ist. Und ich selbst kann es ruhig auch kennenlernen. Und ich kann es auch entwickeln, es ist ja nicht fest vorgegeben. Meine Fähigkeiten, meine Möglichkeiten sind nicht festgeschrieben, ich kann vorhandene Stärken ausbauen und neue entwickeln. Das ist auch bei den asanas (Yoga-Übungen) so. Wenn man das Gefühl hat, steif und unbeweglich zu sein, heißt das noch längst nicht, daß man das auch ewig bleiben muß. Man kann an den asanas arbeiten und irgendwann wird man flexibler.

Um die kleshas zu mindern, übt man die drei Teile des kriya yoga: tapas, swadhyaya und ishvara pranidhana. Swadhyaya bedeutet Selbststudium. Selbststudium hat zwei verschiedene Aspekte. Der eine ist das Studium der Schriften, der andere ist Innenschau, Studium des eigenen Geistes: swa = Selbst, adhyaya = Studium, swadhyaya = Selbststudium. Es bezieht sich auf die beiden Seiten. Letztlich helfen einem die Schriften, sich selbst zu verstehen. Swadhyaya ist eine Weise, wie wir Leiden vermeiden können. Das heißt noch nicht, daß wir es damit ganz auflösen, aber wir können es zumindest vermindern (tanukarana). Dieses Schema der kleshas kann man sehr oft anwenden.

Wenn man feststellt, daß man sich irgendwie im Leiden befindet, kann man schauen: Wo habe ich mich fälschlicherweise identifiziert? Wo habe ich irgendwelche falschen Erwartungen gehabt? Wo ist etwas eingetreten, von dem ich gedacht habe, daß es nicht eintreten darf? Wo hatte ich Ängste? Dieses Analysieren und Zurückführen kann oft Leiden vermeiden, denn wenn wir etwas verstehen, können wir daran arbeiten und versuchen, es in Zukunft besser zu machen oder zu vermeiden. Das ist swadhyaya, Selbststudium, Selbsterforschung, der erste Aspekt von kriya yoga.

Vieles wird allein schon vermindert, indem wir erkennen, wo die kleshas gewirkt haben. Manchmal muß man dann über sich selbst lachen, und damit ist die Sache vorbei. Manchmal erkennt man zwar die Ursachen, aber das hilft und nützt einem trotzdem nicht so viel. Aber es verhindert die Besessenheit, wie ich es nennen möchte. Manche Menschen sind besessen von ihrem Leid, der Vorstellung, daß sie dies und jenes brauchen, um irgend etwas zu erreichen, oder von der Vorstellung einer Kränkung, weil jemand sie nicht so behandelt hat, wie sie es ihrer Meinung nach verdient bzw. erwartet haben. Diese Besessenheit kann vermindert werden, wenn man die Ursachen erkennt.

Dann kommt tapas, Askese. Tapas im weiteren Sinne bedeutet, bewußt Dinge zu tun, die man nicht mag. Das hilft, frei zu werden vor allem von raga-dvesha, Mögen und Nichtmögen. Man kann sich überlegen, welche Dinge mache ich nicht gerne, und sie dann analysieren. Manches ist ja durchaus begründet, zum Beispiel, weil es gefährlich, ungesund oder nicht sattvig ist. Und das tut man dann natürlich auch weiterhin nicht. Aber angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Bügeln, dann sollte man bügeln, und lernen, freudig zu bügeln. Oder angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Kochen. Dann sollte man kochen. Hat man eine Abneigung dagegen, Toiletten zu putzen, dann sollte man gerade das machen. Angenommen, man hat eine Abneigung dagegen, am Computer zu sitzen. Dann sollte man sich mal eine Weile damit beschäftigen. Es muß nicht für den Rest des Lebens sein, aber es sollte eigentlich nichts geben, wogegen man eine Abneigung hat, es sei denn aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen. Denn manchmal oder meistens steckt hinter der Abneigung Angst. Wenn man es ein paar Mal gemacht hat, verschwinden Angst und Abneigung. Und es gibt einem ein Riesengefühl von Freiheit, wenn man sich überwunden hat und feststellt: Ich kann es irgendwie doch, und es spielt eigentlich keine große Rolle!

Oft bringt das Schicksal uns in Situationen, wo wir Dinge tun müssen, die wir nicht mögen. Die innere Einstellung ist dann das Wichtigste. Wenn wir erkennen: „Das geschieht, damit ich mich weiterentwickle, eine willkommene Gelegenheit für tapas. Meine Aufgabe ist es, in jeder Situation glücklich zu sein, und ich kann tatsächlich in jeder Situation glücklich sein“, dann hat es eine sehr große Wirkung, die man noch verstärken kann, indem man sich bewußt dafür bereit erklärt und bewußt Situationen sucht, die man nicht mag. Es muß die innere Bereitschaft da sein, daran zu wachsen. Ansonsten kann es sich auch ins Gegenteil verkehren und zu Depression oder Ärger führen.

Das Schicksal hilft uns, öfter Dinge zu tun, die wir nicht mögen. Wenn wir einen spirituellen Lehrer haben, wird dieser dafür sorgen, daß wir Dinge zu tun haben, die wir nicht mögen. Und wir können sie selbst suchen. Daneben sollten wir es uns auch zur Aufgabe machen, die Dinge zu mögen, die wir zu tun haben. Der Dichter Tagore sagt: „In der Jugend dachte ich, das Leben sei zum Vergnügen da. Als Erwachsener dachte ich, das Leben sei für die Pflicht da. Jetzt weiß ich, Pflicht ist Vergnügen.“ Also lernen, das zu mögen, was zu tun ist.

Tapas im engeren Sinn ist Askese, zum Beispiel fasten, auf Süßigkeiten oder auf Salz verzichten, auf dem Boden schlafen. Im Yoga machen wir natürlich nur solche Askese-Übungen, die der Gesundheit förderlich sind. Auch Askese-Übungen in diesem engeren Sinne helfen, den Geist stärker zu machen.

Der dritte Aspekt von Kriya Yoga ist ishvara pranidhana, Hingabe an Gott, Vertrauen zu Gott.

Wenn wir denken, ich kann nur glücklich sein, wenn diese und jene Situation eintritt, werden wir oft unglücklich sein, denn oft geschieht es anders, als wir wollen – glücklicherweise. Wenn wir aber das Gefühl haben, alles tritt ein, so wie Gott es gerne hat und wie es für uns richtig ist, sind eigentlich die meisten kleshas mit einem Schlag verschwunden. Das können wir uns immer vor Augen führen: Was geschieht, ist irgendwie von Gott gelenkt. Gott gibt mir die Aufgaben, die notwendig sind. Gott gibt mir das, was ich brauche. Er weiß besser als ich, was ich brauche. Wir können zu Gott beten und sagen: „Bitte, gib mir das, was ich brauche. Gib mir die Lektionen, die ich zu lernen habe.“

Gott hilft uns zu wachsen. Gott gibt uns alles, was wir brauchen. Gott liebt uns. Alles ist da. Und als weiteren Schritt können wir alles, was wir tun, Gott opfern. So verschwinden Ego, raga, dvesha, abhinivesha alle zusammen. Auf diese Weise hilft dieser Aspekt des kriya yoga auch wiederum, die kleshas zu verdrängen.

Ich will jetzt den kriya yoga noch weitergehender interpetieren, nämlich als drei produktive Weisen, mit allen Arten von Problemen umzugehen. Wenn wir irgendeine Schwierigkeit, irgendein Problem haben, gibt es drei Dinge, die wir tun können:

Zum einen können wir versuchen, das Problem zu verstehen, die Ursache herauszufinden, also swadhyaya anzuwenden. Zweitens können wir versuchen, etwas zu ändern, tapas. Und drittens können wir loslassen und versuchen, die Situation anzunehmen wie sie ist, also ishvara pranidhana.

Das läuft letztlich auf den Mystikerspruch hinaus:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Gerade die Unterscheidung ist nicht so einfach. Ich habe einmal Swami Chidananda, einen engen Schüler von Swami Sivananda, gefragt, woran man erkennen kann, ob man die Situation ändern kann oder ob man sie annehmen muß. Er hat geantwortet, man müsse zuerst einmal versuchen, sie zu ändern. Wenn mehrere Änderungsversuche nichts bewirken, dann ist es ein Zeichen, sie anzunehmen, Hingabe zu üben, loszulassen und zu sagen: „ Gott, dein Wille geschehe!“

Nehmen wir einmal an, wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns unglücklich fühlen. Dann können wir zuerst überlegen: Wie stellt sich die Situation dar, warum ärgert sie mich, warum bin ich jetzt unglücklich? Das ist swadhyaya. Wenn wir zum Beispiel plötzlich mit einem Menschen in unserer Umgebung nicht mehr zurechtkommen, können wir versuchen, herauszufinden, ob die Ursache in uns selbst liegt oder bei dem anderen. Manchmal stellt man fest, der andere steht aus irgendeinem Grund gerade sehr unter Druck und ist deshalb sehr reizbar. Wenn wir das verstehen, reicht es aus, mit der Situation souveräner umzugehen. Wir verstehen und erkennen, daß wir uns eigentlich grundlos ärgern oder grundlos unglücklich sind. Wir können darüber lachen und die Situation so auflösen.

Es kann aber auch sein, daß wir etwas ändern müssen. Dann sollten wir handeln, also tapas anwenden. Zum Beispiel mit dem Menschen sprechen, notfalls einen Dritten zu Rate ziehen, aktiver werden, Lebensumstände ändern, was auch immer. Und da braucht man auch keine Hemmungen zu haben. Manche Menschen, die zu schüchtern sind, etwas zu unternehmen, machen dann nichts und versuchen, die Situation zu akzeptieren als Entschuldigung für ihre Untätigkeit. Aber sie akzeptieren die Situation nicht wirklich von innen her, sondern sie sind einfach nur zu ängstlich oder zu bequem, etwas zu tun.

Und wenn man nichts ändern kann, dann kommt ishvara pranidhana: Es ist der Wille Gottes. Loslassen. „Dein Wille geschehe.“

Man kann diese drei Verhaltensweisen in allen Situationen anwenden, in denen etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen. Wir können dann erst mal im Rahmen von swadhyaya schauen: Wie könnte diese Situation mit den kleshas zusammenhängen? Als zweites können wir uns fragen: Was kann ich jetzt tun (tapas)? Und je nachdem kann man vielleicht feststellen: Die Situation ist eigentlich gar nicht so schlimm. Ich habe sie nur durch meine Gedanken aufgebauscht und mich verrückt gemacht, falsche Erwartungen gehabt und wenn ich das verstehe, kann ich die Situation annehmen, wie sie ist (ishvara pranidhana).

Manchmal erkennt man: Eigentlich habe ich falsche Erwartungen, aber die Situation befriedigt mich trotzdem nicht. Dann kann ich schauen, was ich ändern kann. Manchmal muß man dann wieder swadhyaya anwenden, um sich zu fragen: Wie könnte ich in der Situation wieder glücklich sein? Und dann kommt oft die Antwort. Eigentlich sind ja die Antworten meistens schon in uns. Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen. Meine magischen drei Fragen sind immer:

  • Was ist meine Aufgabe bzw. meine Pflicht in der Situation?
  • Was kann ich daraus lernen?
  • Was muß ich tun, um in der Situation wieder glücklich zu sein?

Kriya Yoga beschreibt also drei positive, konstruktive Weisen, mit einer schwierigen Situation umzugehen.

Menschen haben fünf negative Weisen, mit denen sie einer schwierigen Situation begegnen:

Das erste ist, sie einfach zu leugnen, nach außen und nach innen so zu tun, als ob nichts sei. Man leidet zwar darunter, verdrängt es aber, tut so, als hätte man kein Problem

Die zweite, noch unproduktivere Art ist es, sich nur über etwas zu ärgern und wütend zu sein, aber nichts zu tun.

Die dritte ist Depression, Resignation, Niedergeschlagenheit, das Gefühl, nichts tun zu können, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein.

Die zwei weiteren, nicht sehr produktiven Verhaltensweisen, nämlich unreflektiertes Fliehen und Kämpfen kommen direkt aus dem Flucht- und Kampfmechanismus.. Manche Menschen werden sofort aggressiv, wenn ihnen etwas nicht paßt. Sie fangen an herumzubrüllen, Streit zu suchen, reizbar zu werden, andere zu bekämpfen. Andere entfliehen sofort, statt sich der Situation zu stellen.

Kriya Yoga ist also der Dreischritt: bewußt machen – tätig werden – loslassen. Und dies versetzt uns in die Lage, Leiden zu vermeiden, und damit ein erfülltes, freudevolles Leben zu führen.

Die richtige Entscheidung zu treffen, richtig zu handeln, an der richtigen Stelle loslassen, ist eine Gratwanderung, die man mit viel Gebet begleiten muß. Ich sagte vorher, daß man auch an den spirituellen Praktiken nicht hängen sollte. Trotzdem ist es wichtig, täglich spirituelle Praktiken wie Meditation, asanas und pranayama zu machen. Nur so bekommt man Zugang zur Intuition, erhält, wie es Patanjali im ersten Kapitel sagt, „erleuchtete Innenschau“. Nur so kann man tatsächlich alle Handlungen des täglichen Lebens spiritualisieren. Ohne eigene spirituelle Praxis macht man auch aus den eigenen Pflichten kein Karma Yoga. Dann ist es nur Schaffen. Und vom Schaffen allein erreicht man nicht die Selbstverwirklichung. Es ist nicht das Ziel des Lebens, einfach nur zu schaffen, sondern das Ziel des Lebens ist die Selbstverwirklichung.

Eine enge Schülerin von Swami Vishnu hat uns einmal erzählt, wie Swami Vishnu ihr das einmal sehr drastisch klar machte. Sie hatte gerade ein neues Yoga-Zentrum für Swami Vishnu-devananda eröffnet und dabei richtig geschuftet. Eines Tages kam Swami Vishnu zu Besuch und hat zu ihr gesagt: „Du arbeitest wie ein Esel. Und weißt du, Esel mögen von morgens bis abends arbeiten, aber sie erreichen nicht die Verwirklichung.“

Arbeit und Pflichterfüllung sind gut und wichtig – aber sie sind nicht das Ziel des Lebens. Das Ziel ist die Selbstverwirklichung! Es ist die innere Einstellung, die zählt und die wichtig ist. Und um diese Einstellung zu erzeugen, brauchen wir asanas, pranayama und Meditation (oder andere spirituelle Praktiken). Nur wenn wir das regelmäßig machen, haben wir die Kraft, unsere Einstellung so zu ändern, daß wir etwas lernen und uns im täglichen Leben auch für andere einsetzen können. Und Meditation ist sowieso unabdingbar. Swami Sivananda schrieb in seinem Buch „Göttliche Erkenntnis“: „Ein tugendhaftes Leben allein ist nicht ausreichend für die Selbstverwirklichung. Tugendhaftes Leben bereitet den Geist nur darauf vor.“ Man muß innere Stärke aufbauen durch die Praktiken. Es nützt niemandem etwas, wenn man ausgelaugt ist.

Wenn einmal die Notwendigkeit besteht, vorübergehend für kurze Zeit auf die eigene Praxis zu verzichten aus Gründen des selbstlosen Dienstes, muß man sehr darauf achten, dies nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Es besteht die Gefahr, daß man die Praxis nicht wieder aufnimmt und den Dreh nicht mehr kriegt. Deshalb sollte man sich im allgemeinen strikt an seine Praxis halten. Hier darf man, im Gegensatz zu dem von mir oben Gesagten, ruhig eine gewisse Starrheit an den Tag legen. Man braucht die Praxis letztlich für andere, denn wenn man sich erschöpft und seine Batterien nicht mehr auflädt, dient man niemandem damit.

Als spiritueller Aspirant kann man alles Gott opfern und sagen: „Alles, was ich mache, ist letztlich dazu da, daß ich anderen helfen kann. Ich muß darauf achten, daß der Körper funktioniert, dazu muß ich gesund sein. Und ich muß asanas und pranayama machen, damit ich das prana habe, anderen richtig zu helfen. Ich muß meditieren, damit ich auch die Einsicht, die Feinfühligkeit und das Gefühl der Gegenwart Gottes habe. Außerdem muß ich ab und zu mal spazierengehen, damit der Geist offen ist und der Körper gesund bleibt. Es kann auch dazu gehören, daß ich mal ins Kino gehen muß, um den Geist auf andere Weise zu entspannen, so daß ich dann wieder in der Lage bin, anderen besser zu dienen.“ Mit dieser Einstellung kann man alles Gott und dem Dienst an anderen opfern.

Wenn wir das alles tun, kommen wir nicht mehr ins Leiden. Wir lernen auch, von der Unwissenheit (avidya) wegzukommen. Wir hören auf, aus dem Ego zu handeln (asmita). Wir handeln nicht mehr nur aus Mögen und Nichtmögen, raga und dvesha. Und wir brauchen auch keine Angst mehr zu haben (abhinivesha). Wir haben das Vertrauen, daß letztlich alles zum besten ist. Das ist in ishvara pranidhana eingeschlossen.

Bei einem tieferen swadhyaya erkennt man letztlich, wer man wirklich ist, nämlich das unsterbliche Selbst. Daraus entwickelt man Vertrauen, Dinge tun zu können. Und Dinge zu tun, die einem am Anfang keinen Spaß machen, also tapas zu üben, bedeutet bei weitem nicht, zu leiden. Im Gegenteil, unsere moderne vergnügungssüchtige Gesellschaft ist eigentlich ein Rezept zum Leiden. Es gilt ethnopsychologisch als gesichert, daß es in keinem anderen Kulturkreis so viele deprimierte Menschen gibt wie in unserer westlichen Gesellschaft. In manchen ursprünglichen Lebensgemeinschaften ist Depression völlig unbekannt.

Das erinnert mich daran, wie ich Shri Karthikeyan einmal gebeten habe, ein Seminar über Gedankenkraft und positives Denken zu halten. Er hat gesagt, über Gedankenkraft, ja, das kann er sich vorstellen, aber „positives Denken“, da würde er sich immer fragen, was eigentlich „negatives Denken“ sein solle. Er käme jetzt seit fünfzehn Jahren in den Westen und würde sich immer wieder mit Leuten darüber unterhalten, was sie eigentlich unter negativem Denken verstünden. Gut, es gibt negative Situationen, dann muß man die Ursache herausfinden. Manchmal haben Menschen unerfüllte Wünsche, dann muß man das entweder akzeptieren oder etwas ändern, aber er würde viele Menschen treffen, die grundlose Depressionen hätten. Das gäbe es in Indien nicht.

Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das wohl auch. Wenn man die Inder anschaut, scheinen sie auch unter schwierigen Bedingungen immer fröhlich zu sein. Sie mögen in einer kleinen Hütte wohnen, die nur aus einem Zimmer besteht, wo tagsüber vorn eine Werkstatt oder ein Laden ist und hinten zehn Kinder – wenn man frühmorgens mit dem Bus vorbeifährt, sieht man, wie die Tür aufgeht, eine Art Fenster klappt auf, Waren werden ins Fenster gestellt, und nacheinander kommen ein Kind heraus, zwei Kinder, drei Kinder, vier, fünf, sechs, sieben, acht, dann die Mutter, der Vater, Großmutter, Urgroßmutter … unvorstellbar, wie die alle da drin wohnen können –, aber sie kommen lachend heraus, um sechs Uhr morgens! Wenn man dagegen morgens um sieben in Frankfurt mit der U-Bahn fährt, dann kommen die Leute aus ihren 30-100 Quadratmeter-Wohnungen, und sie sehen nicht fröhlich und glücklich aus. Wenn bei uns zwei Menschen in einer Einzimmerwohnung mit 25 Quadratmetern leben, gilt das schon als asozial. Und im Verhältnis zu Indien ist das Luxus. Dort steckt eine andere Lebensphilosophie dahinter.

Die Philosophie, daß die Welt nur zum Genießen da ist, macht den Menschen nicht glücklich, ebensowenig wie die blinde Pflichtphilosophie.

Aber das Bewußtsein, daß das Leben dazu da ist, zur Selbstverwirklichung zu kommen, macht uns auch im Westen zu glücklichen Menschen.

Auch wenn Dinge schiefgehen, sind sie in Ordnung. An etwas Anstrengendem wachsen wir. Wie Swami Vishnu einmal gesagt hat: Ein Yogi kann sich immer freuen. Wenn die Dinge so ausgehen, wie man es gerne hätte, freut man sich sowieso und ist Gott dankbar. Wenn sie anders ausgehen, freut man sich über die Lektion, die man lernen kann, und die Gelegenheit, tapas zu üben und geistige Stärke zu entwickeln. Das ist wirklich ein Rezept zum Glück. Es ist nicht leicht, den Geist davon zu überzeugen. Aber diese Einstellung immer aufrechtzuerhalten und von neuem zu schaffen, ist eine Übung, die möglich und sehr befriedigend ist.

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Kapitel 2, Vers 10

Deutsche Übersetzung:

Die subtilen Formen (der schmerztragenden Leiden) können durch das Zurückführen auf ihren Ursprung vermieden werden.

Sanskrit Text:

te pratiprasava-heyāḥ sūkṣmāḥ ||10||

ते प्रतिप्रसवहेयाः सूक्ष्माः ॥१०॥

te pratiprasava heyah sukshmah ||10||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • te = sie, die Kleshas
  • prati = zurück, dagegen, gegen
  • prasava = Ursprung, Ursache, Keim, Keimen
  • heyaḥ = zu Vermeidendes, zu Überwindendes
  • sūkṣma = subtil, fein

Kommentar

Das heißt im Grunde genommen, kleinere Störungen behandelt man mit swadhyaya oder indem man die kleshas durchgeht.

Nehmen wir das Beispiel Angst. Manche Menschen haben Angst, wenn sie ein Referat, einen Vortrag oder eine Yogastunde halten sollen. In diesem Fall ist natürlich die einfachste Sache ishvara pranidhana, ich mache es als Verehrung Gottes, ich bin Instrument Gottes, und ich habe es deshalb als Aufgabe, weil Gott es eben will. Wenn Gott wollte, daß ein Vollkommener jetzt diesen Vortrag hält, dann hätte er einen Vollkommenen hergeschickt. Gott hat gerade mich in diese Situation hineingeschickt, weil es für die Menschen in der Situation am besten ist, jemanden mit meinem Wissen bzw. Unwissen zu haben. Das hat mir immer sehr oft geholfen und hilft mir auch heute noch.

Eine andere Möglichkeit, mit verschiedenen Ängsten umzugehen, ist, zu versuchen, die Ursache herauszufinden, zu fragen: Warum habe ich jetzt Angst, oder warum bin ich unzufrieden? Dann kann es sein, man stellt fest, ich hatte einen Wunsch, der nicht in Erfüllung gegangen ist, oder es gab etwas, was ich unbedingt vermeiden wollte, und genau das ist eingetreten. Meine Angst kommt also aus einer Identifikation mit einem Wunsch oder aus dem Wunsch, etwas zu vermeiden. Die Ursache davon ist eigentlich nur eine dumme Unwissenheit und das Ganze nur ein großer Irrtum. Wenn wir das erkannt haben, ist es kein Problem mehr. Also es hilft schon einiges, die Ursachen herauszufinden.

Aber das nützt nicht immer. Manche Menschen verbringen zu viel Zeit mit der Ursachenforschung. Das ist einer der Irrtümer der westlichen Psychologie, die davon ausgeht, daß alle Probleme bekämpft werden können, wenn man nur die Ursache kennt. Dann geht man zurück in die Kindheit und kommt zum Schluß, mein Vater und meine Mutter sind das Problem. Dann hat man ein neues Problem. Sich nur mit Vater und Mutter zu beschäftigen, hat die Menschen auch nicht dauerhaft glücklich gemacht. Also geht man noch weiter zurück, zu den Geburtstraumata. Und man stellt fest, die Probleme und Themen, mit denen man im Leben kämpft, waren tatsächlich auch bei der Geburt schon da. Da gibt es dann zum Beispiel die Urschrei-Therapie oder Rebirthing, das ja ursprünglich dazu diente, die Geburt wiederzuerleben. Aber auch das hat die Menschen nicht vollkommen befreit. Deshalb ist man noch weiter zurückgegangen, um herauszufinden, ob irgend etwas passiert ist, während das Kind im Mutterleib war. Auch das reichte nicht aus. Also ging man zurück in das frühere Leben, in zehn Leben, in hundert Leben, in tausend Leben. Manchmal hilft das. Yogis sind zwar keine Befürworter von Zurückgehen in frühere Leben, aber ich kenne Reinkarnationstherapeuten, die behaupten, manchmal helfe es den Klienten, zu erkennen, daß ein bestimmtes Lebensmuster deshalb da ist, weil sie in früheren Leben in dieser Beziehung etwas getan oder erlebt haben. Bei kleineren Sachen kann diese Erkenntnis allein schon hilfreich sein. Aber viele Menschen gehen zuviel in die Ursachenforschung und verlieren sich darin. Wenn die Ursachen für eine Situation nicht so leicht erkennbar sind, gut, dann lassen wir es halt, dann müssen wir uns auf andere Weise helfen.

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Kapitel 2, Vers 11

Deutsche Übersetzung:

Die aktiven Formen (der schmerztragenden Leiden) können durch Meditation vermieden werden.

Sanskrit Text:

dhyāna heyāḥ tad-vṛttayaḥ ||11||

ध्यान हेयाः तद्वृत्तयः ॥११॥

dhyana heyah tad vrittayah ||11||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dhyāna = Meditation, Versenkung
  • heyaḥ = zu Vermeidendes, zu Überwindendes
  • tat = deren, dessen, diese
  • vṛtti = Wellen, Gedankenwellen, Trübungen des Chitta

Kommentar

Die besonders starken vrittis (Gedankenwellen) können vermieden werden, indem wir regelmäßig meditieren. Meditation hilft uns, weniger tief ins Leiden hineinzugehen.

Es gibt interessante wissenschaftliche Untersuchungen, die ergeben haben, daß Menschen, die meditieren, glücklicher, erfolgreicher, ausgeglichener, gesünder sind als Menschen, die nicht meditieren. Wenn jemand drei bis fünf Jahre meditiert hat, geht es ihm ein gutes Stück besser als vorher. Auch die Wahrscheinlichkeit, in der Psychiatrie zu landen, ist interessanterweise bei Menschen, die regelmäßig meditieren, erheblich geringer. Das widerspricht einigen psychologischen Lehrbüchern, in denen es heißt, Meditation könne zwar hilfreich sein, aber man müsse vorsichtig sein damit, um nicht ein Fall für die Psychiatrie zu werden. Oder man dürfe keinesfalls allein meditieren, sondern nur mit einem guten Lehrer. Es ist sicher nützlich, die Meditation unter Anleitung zu lernen. Aber nachher muß man schon regelmäßig allein weiter meditieren, um dauerhaften Erfolg zu haben. Das Meditieren scheint insgesamt eine harmonisierende Wirkung auf die Psyche zu haben. Durch regelmäßige Meditation kann man die aktiven Auswirkungen der kleshas vermeiden.

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Kapitel 2, Vers 12

Deutsche Übersetzung:

Karma hat seine Wurzeln in den kleshas (schmerzverursachende Anhaftungen) und wird in diesem und in zukünftigen Leben ausgearbeitet.

Sanskrit Text:

kleśa-mūlaḥ karma-aśayo dṛṣṭa-adṛṣṭa-janma-vedanīyaḥ ||12||

क्लेशमूलः कर्माशयो दृष्टादृष्टजन्मवेदनीयः ॥१२॥

klesha mulah karma ashayo drishta adrishta janma vedaniyah ||12||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kleśa = Bürden auf dem spirituellen Weg
  • mūla = Wurzel, Ursache, Grundlage
  • karma = Handlung und Folgen
  • aśaya = Überbleibsel, Neigungen
  • dṛṣṭa = sichtbar, gegenwärtig
  • adṛṣṭa = unsichtbar, zukünftig
  • janma = Leben, Welt, Bereich
  • vedanīya = erfahren, bemerken

Kommentar

Die kleshas sind die Ursache (mûlah) des karmas. Das Gesetz des karma besagt, daß wir für jede Handlung, mit der wir uns identifizieren, Früchte ernten. Und solange wir noch viel karma abzuarbeiten haben, erreichen wir nicht kaivalya, die Befreiung. Solange wir also aus den kleshas heraus handeln, schaffen wir karma. Wenn wir handeln, weil wir etwas Konkretes für uns selbst wollen (raga), schaffen wir karma. Wenn wir handeln, um etwas Konkretes zu vermeiden, das uns unangenehm ist (dvesha), schaffen wir karma. Wenn wir aus Angst handeln (abhinivesha), schaffen wir karma. Wenn wir uns identifizieren (asmita), während wir handeln, schaffen wir karma. Und solange wir nicht wirklich wissen, wer wir sind (avidya), schaffen wir auch karma. Nur wenn wir uns nicht identifizieren, schaffen wir kein karma.

Je nachdem, wie stark die kleshas sind, wirkt das karma stärker oder schwächer. Eigentlich kann nur ein Selbstverwirklichter kein karma neu schaffen. Jeder andere hat beim Handeln immer eine Spur von Ego dabei – fast immer. Eine vollkommen ego-lose Handlung ist erst dem Selbstverwirklichten möglich.

Aber wir können uns bemühen, weniger ego-behaftet zu handeln. Wir können unserem Mögen und Nichtmögen weniger nachgeben. Wir können weniger in der Vorstellung handeln, ich bin großartig, ich mache all das. Wir können mehr Handlungen tun, einfach weil sie notwendig sind. Wir können versuchen zu handeln, um Gott zu dienen. Wir versuchen, zu handeln, um auf dem spirituellen Weg weiterzukommen. Wir handeln, um das karma auszuarbeiten. Am besten ist die Vorstellung, wir handeln, um ein Instrument Gottes zu sein oder um anderen zu helfen. Wenn wir diese Einstellung haben, dann handeln wir nicht aus raga oder dvesha heraus und brauchen auch keine Angst zu haben.

Und vor allen Dingen: Wenn wir wissen, ich bin nicht wirklich der Handelnde, sondern ich stelle diesen Körper und diesen Geist mit all ihren Unvollkommenheiten in den Dienst Gottes, ich stelle ihn Gott zur Verfügung und Gott kann die Unvollkommenheiten so benutzen, daß etwas Gutes für uns und alle dabei herauskommt, dann bindet uns die Handlung nicht.

Mephisto sagt im Faust, er sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Vers 1336 f). Mephisto steht ja für den Teufel, für das Schlechte. Und selbst das Schlechte ist letztlich ein Instrument in den Händen Gottes und hat seinen Sinn.

Gott hat uns mit all unseren Unvollkommenheiten in eine bestimmte Situation hineingesetzt, weil das von einer höheren Warte aus richtig ist. Wenn er in derselben Situation jemand anders gewollt hätte, der vollkommen ist, dann gäbe es an dieser Stelle jetzt jemanden, der vollkommener wäre als wir.

Wir wollen nicht aus den kleshas heraus handeln, sondern aus anderen Motiven. Das muß man sich wieder und wieder vor Augen führen. Das ist ganz wesentlich und, im Grunde genommen, auch ganz einfach. Man muß es nur immer wieder betonen, weil es dem Zeittrend so entgegensteht.

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Kapitel 2, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Solange die Wurzeln verbleiben, wird das karma in Form von verschiedenen sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen reifen.

Sanskrit Text:

sati mūle tad-vipāko jāty-āyur-bhogāḥ ||13||

सति मूले तद्विपाको जात्यायुर्भोगाः ॥१३॥

sati mule tad vipako jaty ayur bhogah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sati = da sein
  • mūla = Wurzel, Grund, Ursprung
  • tat = dessen, von ihm
  • vipāka = Frucht, Ergebnis, Reife, Gereiftes
  • jāti = Klasse, Kaste, soziale Schicht, Art, Qualität
  • āyu = Leben, Lebensspannen, Dauer
  • bhoga = Genuss, Glück, Vergnügen

Kommentar

Solange wir aus den kleshas heraus handeln, gibt es karma. Das karma führt zu den sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen. Und wir haben uns das karma letztlich selbst geschaffen. Das werden wir gleich genauer behandeln.

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Kapitel 2, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Sie haben Vergnügen oder Schmerz als ihre Frucht, je nachdem, ob ihre Ursache Tugend oder Laster ist.

Sanskrit Text:

te hlāda paritāpa-phalāḥ puṇya-apuṇya-hetutvāt ||14||

ते ह्लाद परितापफलाः पुण्यापुण्यहेतुत्वात् ॥१४॥

te hlada paritapa phalah punya apunya hetutvat ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • te = sie
  • hlāda = vergnüglich, genussvoll
  • paritāpa = schmerzhaft, leidvoll
  • phalāḥ = Frucht, Gereiftes, Reife
  • puṇya = erfolgreich, verdienstvoll
  • apuṇya = missglückt
  • hetutvāt = Ursache, verursacht durch

Kommentar

Wenn wir aus einer positiven Motivation heraus handeln, andern etwas Gutes tun wollen und uns dabei mit der Handlung identifizieren, uns toll fühlen, weil wir etwas so Großartiges gemacht haben, dann führt das zu Vergnügen.

Wenn wir handeln, um einem anderen Menschen zu schaden, eins auszuwischen: „Das lasse ich mir nicht gefallen, dem werde ich’s zeigen“, am besten hinten herum, damit es keiner merkt, um seine Existenz zu zerstören – erschießen werden wir ja hoffentlich in unserer Gesellschaft niemanden, aber jemanden schlecht zu machen oder zu versuchen, ihm das wegzunehmen, was ihm am liebsten ist, das ist durchaus verbreitet –, wenn also das die Motivation der Handlung ist, dann führt das in der Konsequenz zu Schmerz.

Es gibt positives und negatives karma. Das gilt aber nur für Nicht-Yogis. In IV 7 sagt Patanjali: „Für einen Yogi ist karma weder weiß noch schwarz, für andere ist es dreifach.“

Normalerweise gibt es gutes, schlechtes und gemischtes karma. Wenn man eine Million Euro in der Lotterie gewinnt, ist das gutes oder schlechtes karma? Üblicherweise hält man das für Glück. Wenn man tiefer blickt, kann es aber eher negativ sein. Eine Studie über Lottomillionäre hat herausgefunden, daß bei ihnen die Selbstmordquote besonders groß ist. Es gibt fast keine Bevölkerungsschicht mit einer so hohen Selbstmordrate. Als Grund wird angenommen, daß Lottomillionäre schlagartig aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen werden. Sie gestalten ihr Leben um, ihr Selbstbild ist nicht mehr das gleiche, sie können ihren Freunden nicht mehr trauen, vernachlässigen ihre bisherigen Freunde oder werden von ihnen verlassen, und schließlich fühlen sie sich vollkommen unglücklich. Ausnahmen sind insbesondere diejenigen, die einen großen Teil ihres Gewinns gespendet oder trotz des Gewinnes ihr Leben nicht in großem Stil verändert haben. Dieses Beispiel zeigt, daß das, was man positives karma nennen würde und was die Menschen millionenfach anstreben, eigentlich gar kein Glück ist.

Oder umgekehrt: Was ist normalerweise ein offensichtliches Unglück? Beispielsweise, wenn man nach Hause kommt und es wurde eingebrochen: Fernseher, Radio, Stereoanlage, Schmuck, alles materiell Wertvolle ist weg. Das erscheint als Unglück. Aber vielleicht ist es in Wirklichkeit ein Glück.

Für einen Yogi gibt es weder positives noch negatives karma. Er nimmt mit Gelassenheit alles an, was kommt, und versucht, etwas daraus zu lernen, daran zu wachsen.

Nun folgt ein Vers, den wir gar nicht gerne hören:

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Kapitel 2, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Menschen mit Unterscheidungskraft erkennen, daß wegen der Vergänglichkeit, neuen Wünschen und Konflikten zwischen den Eigenschaften der Natur und den Gedanken alles leidhaft ist.

Sanskrit Text:

pariṇāma tāpa saṁskāra duḥkhaiḥ guṇa-vṛtti-virodhācca duḥkham-eva sarvaṁ vivekinaḥ ||15||

परिणाम ताप संस्कार दुःखैः गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः ॥१५॥

parinama tapa sanskara duhkhaih guna vritti virodhachcha duhkham eva sarvam vivekinah ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pariṇāma = Anhaften an Veränderung, Wandel
  • tāpas = Sehnsucht, Verlangen
  • saṁskāra = Prägungen, Neigungen
  • duḥkha = Schmerz, Leid
  • guṇa = drei Grundeigenschaften der Materie, Natur
  • vṛtti = Welle, Gedankenwellen, Schleier, Vorurteil, Trübung
  • virodhā = Widerspruch, Konflikt
  • ca = und
  • duḥkha = Schmerz, Leid
  • eva = nur, eben
  • sarvaṁ = alles, überall, immer
  • vivekina = für den, der Unterscheidungskraft entwickelt hat, für den Unterscheidungsfähigen

Kommentar

Dieser Vers wird auch zusammengefaßt als

Sarvam Duhkham Vivekinah

Für einen Menschen mit Unterscheidungskraft (viveka) ist alles (sarvam) Leid (duhkha).

Das klingt sehr negativ, oder? Aber auch die erste der edlen Wahrheiten Buddhas ist: „Alles Leben ist Leiden.“

Patanjali sagt hier klar: Letztlich führt jede Handlung, die wir aus den kleshas heraus machen, zu Leiden. Das Wort karma hat im Sanskrit zwei Bedeutungen. Es heißt sowohl Handlung als auch Situation, das heißt, es umfaßt alles, was wir tun, und alles, was auf uns zukommt oder da ist. Und alles bringt Schmerz. Warum?

Wir haben schon vor oder bei der Wunscherfüllung eine Vorahnung des Verlustes. Wenn wir etwas bekommen, haben wir Angst, wir könnten es verlieren. Sobald wir etwas haben, kommt schon der nächste Wunsch und neue Unruhe. Aus der Beziehung zwischen dem Geist und den drei Eigenschaften der Natur (gunas) entstehen Konflikte.

Der Geist wird immer durch die drei gunas beeinflußt. Sogar ein Selbstverwirklichter hat ab und zu noch tamasige (träge, deprimiert) und rajasige (unruhig, aufgeregt) Gemütszustände, mit denen er sich allerdings nicht identifiziert. Sattva überwiegt bei ihm. Aber wir als Aspiranten befinden uns oft in tamasigen und rajasigen Geisteszuständen. Darüber hinaus gibt es Situationen, die nicht zu unserem Gemütszustand passen. Unser Geist und Gemüt befinden sich in ständiger Veränderung. Wenn wir das wissen, geben wir die Vorstellung auf, daß wir jemals die hundertprozentig ideale Situation finden werden und dann glücklich werden, wenn wir unsere äußere Situation ausreichend manipulieren.

Jede Situation führt dann zum Leiden, wenn wir nur das Äußere darin sehen und suchen. Umgekehrt gilt natürlich, wenn wir wissen, daß das Suchen nach Glück im Äußeren zum Leid führt, und deshalb nicht mehr mit einer solchen Besessenheit danach streben, können wir Leid vermeiden. Indem wir erkennen: Sarvam duhkham vivekinaha brauchen wir nicht mehr so zu leiden. Ist das nicht paradox? Ein Mensch, der dem Glück immer hinterherläuft, ist traurig und verzweifelt, weil er es nicht findet. Derjenige, der weiß, es gibt kein äußeres Glück, ist glücklich. Ein Teil unseres Geistes glaubt es vielleicht doch nicht so ganz, so daß wir trotzdem auch hinterherrennen, so quasi aus sportlichem Ehrgeiz; und wenn wir es nicht erreichen, sagen wir nur: „Siehst du, Patanjali hat doch Recht gehabt“.

Jetzt kommt ein sehr schöner Vers, einer meiner Lieblingsverse:

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