Kapitel 2, Vers 36

Deutsche Übersetzung:

Wenn Wahrhaftigkeit fest begründet ist, erlangt man die Frucht der Handlung, ohne zu handeln.

Sanskrit Text:

satya-pratiṣthāyaṁ kriyā-phala-āśrayatvam ||36||

सत्यप्रतिष्थायं क्रियाफलाश्रयत्वम् ॥३६॥

satya pratishthayam kriya phala ashrayatvam ||36||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • satya = Wahrhaftigkeit
  • pratiṣṭha = fest, beständig, stabil
  • kriyā = Handlung, Aussage
  • phalā = Frucht, Ergebnis, Resultat
  • āśrayat = Grundlage, Basis, Stütze

Kommentar

Mit anderen Worten, unsere Gedanken werden so stark, daß die Dinge allein durch unsere Gedanken geschehen.

Manche Menschen bauen ein riesiges Lügengeflecht um sich herum auf. Sie sagen etwas, denken etwas anderes und handeln nochmals anders. Dadurch entsteht eine große innere Spannung, man verzettelt sich, und der einzelne Gedanke ist sehr schwach.

Im Rahmen der kleshas hatten wir davon gesprochen, daß man ein bestimmtes Selbstbild von sich hat. Gleichzeitig denkt man, andere haben ein anderes Bild von einem, und als drittes will man außen ein anderes Selbstbild schaffen als man glaubt, daß die anderen von einem haben. Das führt zu Schwäche. Zu sich selbst zu stehen, sich selbst besser kennenzulernen, authentisch zu sein, gibt Stärke und Kraft. Das ist sogar in der Welt der Politik möglich. Von Bismarck heißt es, er habe offen und klar gesagt, was er wollte. Das hat ihm niemand geglaubt, denn es war in dieser Diplomatenwelt unvorstellbar und außergewöhnlich, daß jemand direkt ist – deshalb war er so erfolgreich.

Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn wir gewöhnt sind, uns immer an die Wahrheit zu halten und dann einmal versehentlich die Unwahrheit sagen, ist unser Geist so stark, daß diese Unwahrheit eintritt.

In der indischen Mythologie gibt es darüber sehr schöne Geschichten, wie etwa die von König Parikshit und dem Sohn des Weisen, der gewöhnt war, sein Leben lang nur die Wahrheit zu sagen und dessen Gedanken daher so stark waren, daß jedes Wort sich erfüllen mußte. Weil der König unfreundlich seinem Vater gegenüber gewesen war, verfluchte er den König und sagte: „Dieser König wird in sieben Tagen an einem Schlangenbiß sterben.“ Der König ließ sich nun unter Beachtung aller möglichen Sicherheitsvorkehrungen ein neues Haus auf Pfählen bauen. Als er am siebten Tag hinaufstieg und ihm Essen gereicht wurde, war in einer Frucht eine Schlange, die ihn biß, und er starb daran.

Wenn wir wahrhaftig sind, bekommen unsere Gedanken eine sehr starke Kraft, und unsere Worte auch. In Arabien gibt es ein Sprichwort: „Bevor du etwas sagst, überprüfe erstens, ob es wahr ist, zweitens, ob es freundlich ist, und drittens, ob es notwendig ist. Und nur dann, wenn es wahr, hilfreich und notwendig ist, dann sage etwas.“ Man sollten keine Unwahrheit sagen, aber auch keine Wahrheit, die andere kränkt. Man sollte überflüssiges Geschwätz vermeiden, ohne deshalb gleich zum Einsiedler zu werden.

Satya, Wahrhaftigkeit, soll also gemildert sein durch ahimsa, Nichtverletzen. Wenn verschiedene ethische Prinzipien miteinander in Konflikt stehen, heißt es immer: ahimsa parama dharma – Nichtverletzen ist die höchste Pflicht. Aber Nichtverletzen ist relativ. Eine Mutter muß beispielsweise ihrem Kind auch ab und zu mal etwas verbieten, es erziehen. Für das Kind ist es verletzend, wenn es einen Abend Fernsehverbot bekommt, keinen Nachtisch, oder sonst eine „Strafe“, aber zum Wohl des Kindes kann es notwendig sein, so vorzugehen. Manchmal muß zum Wohl eines langfristigen ahimsa (Nichtverletzen) ein kurzfristiges himsa (Verletzen) in Kauf genommen werden.

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