Kapitel 1, Vers 11

Deutsche Übersetzung:

Erinnerung ist das Behalten vergangener Erfahrungen.

Sanskrit Text:

anu-bhūta-viṣaya-asaṁpramoṣaḥ smṛtiḥ ||11||

अनुभूतविषयासंप्रमोषः स्मृतिः ॥११॥

anu bhuta vishaya asanpramoshah smritih ||11||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • anu = aus, von
  • bhūta = Erfahrenes, Vergangenes
  • anubhūta = von Erfahrenem
  • viṣaya = Gegenstand
  • a = nicht
  • saṁ = völlig
  • asaṁ = nicht völlig, nicht ganz
  • pramoṣa = Diebstahl, Wegnehmen
  • asaṁpramoṣa = „Nicht-Diebstahl“, nicht fliehen, behalten
  • smṛti = Erinnerung

 

Kommentar

Alle vergangenen Erfahrungen kommen im Geist hoch; daher ist auch die Erinnerung eine vritti, eine der fünf Hauptformen von Gedanken.

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Kapitel 1, Vers 12

Deutsche Übersetzung:

Übung (abhyâsa) und Nichtanhaften (vairâgyâ) führen zur Ruhe des Geistes (nirodha).

Sanskrit Text:

abhyāsa-vairāgya-ābhyāṁ tan-nirodhaḥ ||12||

अभ्यासवैराग्याभ्यां तन्निरोधः ॥१२॥

abhyasa vairagya abhyam tan nirodhah ||12||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • abhyāsa = Beharrlichkeit, Enthusiasmus, Übung
  • vairāgya = Gelassenheit, Gleichmut, Wunschlosigkeit
  • ābhyāṁ = beides
  • tan = diese
  • nirodha = Ruhe, die Ruhe von allem Wandelbaren, also das Ziel bzw. der Zustand des Yoga erreicht

 

Kommentar

Das ist dasselbe, was Krishna im 6. Kapitel der Bhagavad Gita sagt. Er spricht erst davon, was Meditation ist und daß der Yogi Gleichmut entwickeln soll. Wenn er gleichmütig geworden ist gegenüber Lob und Tadel, Hitze und Kälte, Schmerz und Vergnügen, ist er reif für die Ewigkeit. Arjuna sagt darauf sinngemäß: „Oh Krishna, das schaffe ich nie. Es ist leichter, den Wind mit bloßen Händen festzuhalten als den Geist zu beherrschen.“ Krishna gibt ihm die gleiche Antwort wie Patanjali: „Ja, Arjuna, wahrlich ist es schwer, den Geist zu beherrschen, aber durch Übung und Nichtanhaften, durch abhyasa und vairagya, ist der Geist unter Kontrolle zu bringen.“

In den nächsten Aphorismen erfahren wir Näheres darüber:

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Kapitel 1, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Abhyasa (Übung) ist ständige Bemühung um diese (Ruhe des Geistes).

Sanskrit Text:

tatra sthitau yatno-‚bhyāsaḥ ||13||

तत्र स्थितौ यत्नोऽभ्यासः ॥१३॥

tatra sthitau yatno ‚bhyasah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tatra = dort, hier, um das
  • sthitau = ständig, standhaft
  • yatna = Anstrengung, Bemühung, Übung
  • abhyāsa = Enthusiasmus, Beharrlichkeit

 

Kommentar

Alle Anstrengungen, die man macht, um die Gedanken zu beherrschen, sind abhyasa. Es gibt nicht nur eine oder zwei bestimmte Übungen und auch nicht nur die hier in den Yoga Sutras aufgeführten, sondern alles, was dazu dient, den Geist zu beherrschen, ist abhyasa. Das heißt, die ständige Bemühung – wir haben keine Pause! Die Übung beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört am Abend mit dem Einschlafen auf. Irgendwann übt man sogar im Schlaf weiter…

„Ständige Bemühung“ heißt jetzt nicht, daß wir uns dauernd verkrampft anstrengen, sondern wir versuchen, diese Vorstellung Gottes, die Grundhaltung von selbstlosem Dienst und einer positiven Lebenseinstellung, den ganzen Tag über aufrechtzuerhalten, ob wir nun Geschirr spülen, meditieren, asanas machen, spazierengehen, mit unserem Kind zusammen sind, im Büro arbeiten, ein paar freundliche Worte mit dem Postboten wechseln u.s.w. Wir bemühen uns immer wieder, dieses Bewußtsein des Göttlichen aufrechtzuerhalten oder hervorzurufen und unseren Geist positiv, gleichmütig, zu stimmen.

Abhyasa heißt nicht, den Geist den ganzen Tag beherrschen zu müssen. Es ist die Bemühung darum. Viele Menschen sind zu erfolgsorientiert und haben einen zu großen Perfektionsdrang. Das Bemühen ist wichtig, nicht das, was dabei herauskommt. Wir bemühen uns; dann gelingt es manchmal und es gelingt manchmal auch nicht. Kann man wirklich vollkommen sein? Man kann nur vollkommen sein, wenn man seine Ansprüche sehr niedrig ansetzt und nur wenig tut. Dann ist man darin vollkommen. Wenn man seine Ansprüche hoch setzen und viel machen will, kann man nie vollkommen sein. Unser Ziel ist die Selbstverwirklichung. Es gibt kein großartigeres Streben. Bis dahin gibt es unglaublich viel zu tun. Es ist manchmal besser, eher viel zu tun, hoch zu streben, und das weniger perfekt. Das macht auch demütig.

Darin hat Swami Vishnu seine Schüler geschult. Er hat uns manchmal mehr Aufgaben gegeben, als wir eigentlich bewältigen konnten. Es war dann nicht möglich, alles zu erledigen. Es ging einfach nicht. Wir haben uns bemüht, und oft ist es auch irgendwie hingekommen, manchmal aber auch nicht. Ich kann mich erinnern, einmal hat er den Auftrag gegeben, in drei Tagen einen Tempel zu bauen. Der Tempel stand dann auch, aber er war weit davon entfernt, perfekt zu sein! Es war kein riesiger kunstfertiger Bau mit Schnitzereien und so, sondern eine einfache Holzhütte, in die eine Krishna-Statue nach einem ausgefeilten alten Ritual hineingestellt wurde.

Diese Überlegung hilft auch für das sadhana (spirituelle Praxis). Außer den wenigen vollkommenen Meisterinnen und Meister ist man darin nicht vollkommen. Trotzdem sollte man seine Ideale deswegen nicht senken. Manche Menschen denken: „Ach, ich schaffe die Selbstverwirklichung sowieso nicht. Mir reicht es aus, wenn ich am Tag ein bißchen meditiere, mantras singe und einigermaßen gesund lebe, mich gut fühle und einigermaßen im Frieden mit meinen Mitmenschen lebe. Die vollkommene Selbstbeherrschung und die Einheit mit dem Unendlichen – das liegt für mich sowieso nicht im Bereich des Möglichen.“ Wenn man sich so programmiert, verliert man das Ziel aus den Augen. Wir können noch nicht vollkommen sein, aber wir können uns darum bemühen. Die ständige Bemühung, unseren Geist zum Göttlichen zu bringen, ist abhyasa.

Patanjali sagt in diesem Vers, wir sollen uns bemühen, „die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen“. Das muß man sich vor Augen führen. Es heißt also nicht einmal, wir sollen uns ständig bemühen, den Geist zu beherrschen, sondern wir sollen uns ständig bemühen, uns zu bemühen. Er macht es uns in gewisser Hinsicht einfach: ständige Bemühung, zur Verwirklichung zu kommen, aber ohne Verhaftung. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sich nicht ständig vorwerfen: Das hat nicht geklappt und jenes nicht, und was ich da gemacht habe, war auch nicht so gut.

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Kapitel 1, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Sie (die Übung) bekommt ein festes Fundament, wenn sie lange Zeit ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe ausgeführt wird.

Sanskrit Text:

sa tu dīrghakāla nairantarya satkāra-ādara-āsevito dṛḍhabhūmiḥ ||14||

स तु दीर्घकाल नैरन्तर्य सत्कारादरासेवितो दृढभूमिः ॥१४॥

sa tu dirghakala nairantarya satkara adara asevito dridhabhumih ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sa = das, das gleiche
  • tu = in der Tat, jedenfalls
  • dīrgha = lange
  • kāla = Zeit
  • nairantarya = ohne Unterbrechung
  • satkāra = Ernsthaftigkeit, Sorgfalt
  • ādara = Respekt, Rücksicht auf andere
  • āsevita = geübt, befolgt, fortgesetzt
  • dṛḍha = fest, fundiert
  • bhūmi = Grund, Fundament, Erde

 

Kommentar

Viele Menschen praktizieren jahrelang Yoga, aber nur ab und zu. Wenn man ohne Unterbrechung zwanzig Jahre lang Yoga praktiziert, dann ist das Bewußtsein des Göttlichen schon etwas weiter entwickelt. Vom Yoga gibt es keine Pause. Der spirituelle Weg ist so, wie wenn man eine Kugel den Berg hochschiebt. Was passiert, wenn wir eine Pause machen und die Kugel loslassen? – Sie rollt den Berg wieder hinunter, zumindest ein Stück. Es gibt natürlich Ausnahmefälle, wo jemand plötzlich die Selbstverwirklichung erreicht, wenn entsprechende samskaras (Eindrücke im Unterbewußtsein) aus früheren Leben vorhanden sind. Aber im Normalfall müssen wir die Kugel den Berg hochschieben und dürfen sie nicht wieder loslassen. Wir sollten uns auf dem spirituellen Weg nicht eine Weile ausruhen. Lange Zeit bedeutet also bis zur Verwirklichung!

Und was heißt eigentlich „Selbstverwirklichung“? Die Antwort des Yoga lautet: yogash chitta vritti nirodhah – im Geist sind keine Gedanken mehr, wir ruhen in unserem wahren Wesen und haben die Einheit erreicht mit dem Unendlichen. Dann sind wir befreit. Kaivalya (Freiheit; reines Bewußtsein) ist erreicht. Es gibt keine Notwendigkeit mehr für uns, daß noch etwas geschieht.

Im System der sieben bhumikas, den sieben Stufen der Erkenntnis, werden drei Stufen von Selbstverwirklichten erwähnt. Auf der vierten bhumika, asamshakti („durch nichts berührt“) arbeitet der Yogi das karma, das für diesen Körper vorgesehen ist, bewußt ab. Aber er weiß, nicht er handelt, sondern Gott handelt durch ihn. Ein solcher Yogi wird als jivanmukta, lebendig Befreiter, bezeichnet und hat das sogenannte Doppelbewußtsein: Zum einen ist er sich des Göttlichem hinter allem bewußt, zum anderen hat er aber auch noch ein sattviges (rein, erhoben) Ego. Er kann das ganze Universum im allgemeinen spüren und gleichzeitig parallel diesen seinen besonderen Körper und diesen seinen Geist. Der jivanmukta macht nichts mehr wirklich aus eigenem Willen, sondern weil das karma es erfordert. Sein Körper und Astralkörper haben noch ein karma, das ablaufen muß und dazu ist es notwendig, daß er zwischendurch in sein Ego hineingeht. Und er weiß, das karma dieses Körpers läuft ab als Teil des göttlichen Willens. Er spürt den Körper, kann auch Emotionen und alles andere empfinden, aber er weiß, daß dies nur ein Teil von ihm ist. So ähnlich, wie wir den ganzen Körper und gleichzeitig auch einen Finger als Teil davon spüren können. Wenn es notwendig ist, den Finger zu bewegen, dann bewege ich den Finger. Ich spüre mich zwar immer noch als der ganze Körper, aber ich bewege halt nur den Finger. Gleichzeitig geht aber auch mein Herzschlag weiter, ohne daß ich mich darum zu kümmern brauche, der Atem geht weiter, der Magen erfüllt seine Funktion u.s.w. Ähnlich ist es beim jivanmukta. Er weiß, für diesen Körper hat er eine besondere Aufgabe, aber er ist gleichzeitig auch eins mit allem. Alles läuft ab und ist der göttliche Wille. So wie die Funktionen des Körpers ablaufen, ohne daß man eigentlich etwas davon merkt, so läuft der größte Teil des Lebens, des Universums überhaupt, ab. Einiges kann der jivanmukta zwar auch beeinflussen, wenn er merkt, daß es notwendig ist oder die göttliche Energie will, daß er etwas von einem übergeordneten Standpunkt aus ausführt. Aber ansonsten bewegt er diesen kleinen Körper, diesen kleinen Geist und handelt durch sie, bis deren karma abgelaufen ist. Auf der fünften bhumika, padarthabhavani, ist nur wenig karma übrig. Wenn nur noch wenig karma da ist, dann läuft es ab, ohne daß man etwas dazutun muß. Es geschieht einfach. Das Doppelbewußtsein verschiebt sich mehr in Richtung auf das kosmische Universum. Dann handelt der Mensch tatsächlich nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern muß von außen dazu gebracht werden. Wenn man ihm dann nichts zu essen gibt, ißt er nichts mehr. Er merkt auch nichts. Solange das karma für den Körper noch da ist, wird er auch nicht sterben. Der Körper braucht dann einfach nichts. Er wird auch keine Vorträge geben, es sei denn, man bittet ihn darum. Wenn man ihn um etwas bittet, macht er es auch. Er ist eigentlich ein Spielball von dem, was Menschen oder das Schicksal von außen an ihn herantragen. Die siebte und letzte bhumika ist turiya, die endgültige Befreiung. Der Yogi tut nichts mehr, er verschmilzt mit dem Absoluten, er existiert nicht mehr als Persönlichkeit, er ist eins mit Gott, immer sat-chit-ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Ein Beispiel für den padarthabhavani-Zustand („sieht Brahman überall“) ist die Geschichte von Jada Bharata. Er war in seinem früheren Leben ein König gewesen und hatte dort bereits die Vorstufen der Selbstverwirklichung erreicht. Um nun in diesem Leben alle Anhaftungen zu vermeiden, entschied er sich, mit niemandem zu sprechen. Als er unterwegs war, begegnete er einem König, der in einer Sänfte getragen wurde. Einer der Sänftenträger hatte sich den Fuß verknackst und so baten die anderen ihn, ob er nicht die Sänfte mittragen würde. Während sie weitergingen, sprang Jada Bharata plötzlich hoch, weil auf dem Weg eine Schnecke war, die er erst spät gesehen hatte. Die Sänfte bewegte sich unsanft und der König bekam eine Beule. Das wiederholte sich noch einige Male mit verschiedenen Tieren wie Ameisen, Kröten usw., die Jada Bharata am Weg sah und nicht zertreten wollte. Schließlich sprang der König aus der Sänfte, nahm sein Schwert und rief zornig: „Weißt du nicht wer ich bin? Ich bin der Herr über Leben und Tod und du wagst es, das zu tun?“ Nun öffnete Jada Bharata zum ersten Mal den Mund und sagte: „Oh großer König, du denkst du bist Herr über Leben und Tod und kannst noch nicht einmal deinen eigenen Geist beherrschen. Du kannst vielleicht diesen Körper töten, aber das Selbst kannst du nicht töten.“

Abhyasa ist also die Bemühung über lange Zeit ohne Unterbrechung um diesen Zustand der Befreiung. Sicher wird es am Anfang Unterbrechungen geben, ab und zu denkt man an etwas anderes, manchmal muß man sich auch entspannen –, aber grundsätzlich sollte man jeden Tag meditieren, die Praktiken ausführen, über einen langen Zeitraum, ohne ein paar Wochen oder Monate auszusetzen. Es gibt Zeiten, wo wir die Praktiken intensivieren und es gibt Zeiten, wo man weniger asanas, pranayama und Meditation übt, dafür mehr im Rahmen des täglichen Lebens handelt. Aber insgesamt sollte man jeden Tag diese Praktiken durchführen und an den Gedanken, an der Bewußtheit des Göttlichen, arbeiten. Das ist wichtig. Dann wird es irgendwann tatsächlich ohne Unterbrechung sein, mit aufrichtiger Hingabe und Begeisterung, satkara, nicht nur mechanisch.

Ist man schon längere Zeit auf dem spirituellen Weg, besteht die Gefahr, daß die Praxis irgendwann einmal mechanisch wird. Praktiziert man jahrelang jeden Tag die gleiche asana-Reihe, muß man ab einem bestimmten Punkt mit Langeweile kämpfen, oder man fängt an, während des Übens andere Gedanken zu spinnen. Dann ist es besonders wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, warum man überhaupt übt, sich zu konzentrieren, bewußt zu atmen, mantras (Sanskritwort oder -vers) zu wiederholen, eventuell auch die Praxis etwas zu ändern, damit der Geist wieder neuen Enthusiasmus bekommt. Die Praktik sollte von ganzem Herzen kommen, nicht halbherzig sein.

Bei den meisten Menschen, die regelmäßig üben, gibt es auch Trockenperioden. Und es ist besser, mechanisch zu üben als gar nicht. Es ist besser, nur dazusitzen und in der Meditation über Gott und die Welt nachzudenken – oft mehr über die Welt als über Gott –, als sich gar nicht hinzusetzen. Andere haben Phasen, wo sie in der Meditation zwischendurch einnicken. Es ist besser, dies durchzustehen als ganz aufzuhören. Man sollte dafür sorgen, daß diese Perioden nicht zu lange dauern. Dazu muß man erst einmal prüfen, ob es einen Grund dafür gibt. Es kann sein, daß man in seinem Eifer den Schlaf zu sehr reduziert hat und somit einfach mehr Schlaf braucht. Oder man ist aus irgendeinem Grund niedergedrückt. Man kann angehende Diabetes haben, die behandelt werden muß. Unreinheiten können sich im Körper angesammelt haben, so daß man mehr kriyas (Reinigungsübungen) machen sollte. Es kann aber auch sein, daß der Geist einfach gegen die Monotonie streikt. Wichtig ist, sich immer wieder zu bemühen, sich neu zu motivieren, zu versuchen, neuen Enthusiasmus aufzubringen. Anstelle der normalen Reaktion nachzugeben – die Praxis gefällt einem nicht, also wird aufgehört oder etwas ganz anderes gemacht –, ist es klüger, sich zu überlegen, was man tun könnte, um die Praktiken (wieder) befriedigender zu machen.

Es heißt ja, alle Antworten sind eigentlich in uns. Die Kunst ist, die richtigen Fragen zu stellen, dann kommen auch die Antworten. Schon allein dadurch, daß man regelmäßig praktiziert, entsteht im Lauf der Zeit ein immer stärkerer Wunsch danach. Man fühlt sich einfach nicht mehr wohl, wenn man einmal nicht geübt hat. Oft passiert es, daß das Energieniveau sinkt, wenn die Praktiken eine Weile etwas reduziert wurden, weil man einfach weniger Zeit hatte. Hat man weniger Energie, sinkt auch die Motivation zu praktizieren und so bewegt man sich in einer Abwärtsspirale. Man hat keine Lust, zu praktizieren, sondern eher das Gefühl, sich mal ausruhen und entspannen zu müssen, weil man so hart gearbeitet hat. Gut, das kann man sich auch mal kurze Zeit gönnen. Aber dann muß man viveka, die Unterscheidungskraft, einschalten und sich klarmachen, daß der Wunsch, weniger zu praktizieren, daher kommt, daß man eine Weile weniger praktiziert hat und infolgedessen das Energieniveau gesunken ist. Und wie bringe ich das Energieniveau wieder hoch? Nicht, indem ich weiterhin nichts mache, sondern indem ich wieder vermehrt praktiziere. Und wenn die eigene Anstrengung nicht ausreicht, sucht man sich eben Hilfe und geht zum Beispiel eine Weile in einen ashram, an einen Ort, wo die gesamte Energie und Atmosphäre hilfreich, unterstützend und aufbauend wirken.

Swami Sivananda hat in einem seiner Bücher geschrieben: „Es mag Tage geben im Leben eines Aspiranten, wo er keine Zeit hat zu essen. Es mag Tage geben, wo er keine Zeit hat zu schlafen. Aber es sollte keinen Tag geben, wo er keine Zeit hat zu meditieren. Denn ein Tag ohne Meditation ist wie zwei verlorene Tage.“ Die Kugel, die wir hochschieben, rollt dann ein ganzes Stück wieder hinunter. Paramahamsa Yogananda war da noch radikaler. Er sagt, ein Tag ohne Meditation ist eine Woche Rückschritt. Das ist zwar nicht so ganz wörtlich zu nehmen, aber es ist schon sehr wichtig, jeden Tag zu meditieren. Mit den asanas mal einen Tag auszusetzen, ist nicht ganz so tragisch. Aber die Meditation sollte man wirklich täglich üben – ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe.

Als Shri Karthikeyan, ein Meister aus dem Sivananda-Ashram in Rishikesh, der unser Seminarhaus ein-, zweimal im Jahr besucht und Vorträge hält, das letzte Mal hier war, ist mir nochmals richtig klargeworden, für wie wichtig satsang, das Zusammensein mit Weisen und anderen spirituellen Menschen, im traditionellen Yoga gehalten wird. Dem Yoga wird oft vorgeworfen, er mache einsam oder sei Nabelschau. Aber im klassischen Yogasystem ist das überhaupt nicht der Fall. Vielen Menschen mit emotionalen und schweren anderen Problemen hat Shri Karthikeyan empfohlen, ein paar Wochen hierher in den ashram zu kommen. Wenn man eine Weile hier ist, verschwinden die Probleme von selbst. Die Umgebung und der Umgang mit positiven, spirituellen Menschen, in Verbindung mit einem disziplinierten Tagesablauf, heilen sehr stark.

Dabei mußte ich daran denken, daß wir hier tatsächlich öfter wirklich verzweifelte Menschen haben. Sie haben eine Trennung oder sonstige psychische Krisen hinter sich bzw. stecken mittendrin, wissen nicht, was sie im Leben wollen oder leiden unter körperlichen oder seelischen Krankheiten. Nach ein paar Wochen kann man guten Gewissens sagen, daß sie mit einem ganz neuen Lebensgefühl wieder hinausgehen. Gerade Menschen mit großen psychischen Schwierigkeiten leben in einer spirituellen Umgebung mit positiven Menschen richtig auf.

Auf der psychischen Ebene ist satsang also etwas sehr Wichtiges. Leider bietet unsere Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht sehr viel. Es gibt zwar die stationäre Therapie, aber dort ist die Mehrheit der Menschen psychisch gestört. Alkoholiker sind dann zum Beispiel nur mit Alkoholikern zusammen, so daß es auch eine riesige Rückfallrate gibt. Es ist schon allein nützlich und wohltuend, eine Weile lang aus der gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden, um seinen Geist in neue Bahnen zu lenken und zu schulen. Aber eigentlich wäre es gut, wenn es mehr Gemeinschaften von positiven Menschen gäbe, wo Menschen in psychischen und sonstigen Schwierigkeiten einfach dazustoßen und eine Zeitlang mitleben könnten. Das war früher in Großfamilien durchaus üblich. Wenn es beispielsweise einem Kind nicht gut ging, lebte es ein paar Wochen woanders, vielleicht bei der Großmutter oder wurde von einem anderen Teil der Familie eine Weile aufgenommen, um sich zu erholen und ihm etwas Distanz zu verschaffen. Es wäre schön, wenn es so etwas auch für Erwachsene gäbe – ein positives, erhebendes Umfeld. Das gilt auf der emotionalen und noch mehr auf der spirituellen Ebene. Wenn es einem spirituell nicht so gut geht, muß man die Gesellschaft anderer spiritueller Menschen suchen, idealerweise für ein paar Tage oder Wochen in einen ashram, ein Kloster oder eine spirituelle Gemeinschaft ziehen. Das erhebt.

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Kapitel 1, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Vairagya (Nichtanhaften), ist der Bewußtseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten aufgehört hat.

Sanskrit Text:

dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam ||15||

दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसंज्णा वैराग्यम् ॥१५॥

drishta anushravika vishaya vitrishnasya vashikara sanjna vairagyam ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dṛṣṭa = gesehen, sichtbar
  • ānuśravika = gehört von anderen
  • viṣaya = Objekt, Dinge
  • tṛṣṇa = Gier, Durst
  • vitṛṣna = Durstlosigkeit
  • vitṛṣṇasya = der Durstlose
  • vaśikāra = Gleichgewicht, der gleiche
  • saṁjñā = Bewusstsein, mit Wissen
  • vairāgya = Gelassenheit, Gleichmut, Verhaftungslosigkeit

 

Kapitel 1, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Der höchste Zustand des Nichtanhaftens entsteht durch Erkenntnis des Selbst und ist frei von Gier nach den Eigenschaften der Natur.

Sanskrit Text:

tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam ||16||

तत्परं पुरुषख्यातेः गुणवैतृष्ण्यम् ॥१६॥

tatparam purusha khyateh guna vaitrishnyam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = dessen, das
  • paraṁ = höchste
  • puruṣa = das wahre Selbst, das unwandelbare Selbst
  • khyāti = Verständnis, Verwirklichung, Bewusstheit, Erfahrung
  • guṇa = die drei Grundeigenschaft der Natur
  • vaitṛṣṇya = ohne Durst, durstlos

 

Kommentar

Vairagya (Wunschlosigkeit) ist eines der vier Mittel zur Befreiung, eines der Charakteristika im subecha-Zustand (Sehnsucht, Suche nach Wahrheit), der ersten Stufe der sieben bhumikas. Zu subecha gehören:

  • viveka, Unterscheidungskraft,
  • vairagya, Nichtanhaften oder Wunsch- bzw. Leidenschaftslosigkeit,
  • shatsampat, die sechs edlen Tugenden, und
  • mumukshutva, tiefes Verlangen nach Befreiung.

Hier greift Patanjali besonders vairagya heraus. In den vorherigen Versen hat er gesagt, daß die Kontrolle der vrittis durch abhyasa und vairagya herbeigeführt wird. Vairagya wird auf einer Ebene erreicht durch Willensanstrengung und zum zweiten auf einer tieferen Ebene als Zustand von Nichtanhaften, der aus dem Bewußtsein des purusha kommt. Purusha ist das eine Selbst Gottes. Wenn man in diesem Bewußtsein ist, entsagt man den drei Eigenschaften der Natur. Das funktioniert auch, wenn man noch nicht im höchsten Zustand ist. Wenn man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt ist, wenn das Göttliche spürbar wird oder durchschimmert, dann fallen verschiedene Wünsche von selbst weg. Das kennst du vielleicht aus eigener Erfahrung. Irgendwann hast du mit Yoga angefangen, vielleicht, um gesund zu werden oder zu bleiben, weil es Spaß gemacht hat, um Spannungen loszuwerden, aus Neugier, um etwas gegen Streß zu unternehmen oder weil du einfach das Gefühl hattest, es wäre gut, mal einen Yogakurs zu machen. Den ersten Yogakurs machen Leute aus den verschiedensten Gründen. Manchmal wird man auch irgendwie geführt und weiß nicht warum. Manchmal hat man ein konkretes Problem und manchmal schleppt einen ein Freund oder eine Freundin hin. Anschließend hilft einem das Yoga, etwas mehr zu sich selbst zu kommen. Und plötzlich fallen alle möglichen Sachen ab. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Phänomen, daß etwa drei Viertel der Menschen, die Yoga üben, von selbst aufhören zu rauchen, ohne daß sie sich darum bemühen. Es geschieht einfach. Etwas weniger, aber mindestens auch die Hälfte, werden bei regelmäßiger Yogapraxis zum Vegetarier oder Fast-Vegetarier. Der Wunsch, Fleisch zu essen, hört mehr oder weniger von selbst auf. Es geschieht einfach, da man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt wird.

Wenn man regelmäßig meditiert, fallen verschiedene andere Verhaftungen von selbst weg. Wenn man durch Übungen allmählich Zugang zu seinem wahren Wesen bekommt, fallen eine ganze Reihe von Verhaftungen an die drei gunas, die drei Eigenschaften, die allem Existierenden innewohnen, ab. Und beim vollen Bewußtsein purushas, bei der vollen Selbstverwirklichung, gibt es überhaupt keine Wünsche mehr. Man ist vollkommen wunschlos. Man handelt nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern ist nur noch ein Instrument in den Händen Gottes oder des Kosmischen.

Viele Menschen erwarten, daß auf dem Yogaweg alles so von selbst geschieht. Das stimmt aber nicht. Wir zäumen öfter das Pferd von hinten auf. Eine andere Übersetzung des 15. Verses ist: „Vairagya kommt durch Meisterung des Willens“. Wir müssen manchmal auch unsere Willenskraft einsetzen. Willenskraft ist eine Manifestation von buddhi. Wie wir schon gesehen haben, ist die Unterscheidungskraft, viveka, ein Ausdruck von buddhi. Und die Energie hinter der Unterscheidungskraft ist die Willenskraft. Das ist im Deutschen schwierig zu erklären, da im Deutschen oft Wunsch und Wille mehr oder weniger gleichgesetzt werden.

Der Wille (iccha shakti) ist die Kraft, mit der wir das umsetzen, was wir für richtig halten; und zwar sowohl das, was wir aufgrund von viveka für richtig halten, als auch das, was aus einer tieferen Intuition kommt. Manchmal fühlt man irgendwie intuitiv: Das muß ich tun und das muß ich lassen, das sollte ich nicht mehr tun. Die Intuition kommt mehr vom Bewußtsein des purusha her. Wenn man beispielsweise feststellt: „Immer wenn ich etwas Bestimmtes esse, geht es mir anschließend schlecht“, kommt die viveka und sagt: „Also muß ich aufhören, das zu essen“, woraus man dann dank der Willenskraft Konsequenzen zieht. Das Verlangen muß zuerst einmal bewußt gemeistert werden. Nicht alles fällt von selbst ab.

Man stellt zum Beispiel fest, immer wenn man eine Tafel Schokolade gegessen hat, fühlt man sich eine Stunde später abgeschlafft. Man merkt, daß es einem tatsächlich nicht guttut. Also kommt jetzt die bewußte Entscheidung: „Ich sollte keine Schokolade mehr essen – oder höchstens noch an meinem Geburtstag oder am Geburtstag anderer Leute ein kleines Stückchen.“ Man hat diese Entscheidung getroffen. Was passiert anschließend? Natürlich kommt der Wunsch nach Schokolade!

Der Geist ist zufrieden, wenn er weiß, da gibt es jemanden, der Herr im Hause ist. Aber das muß er erst lernen, so wie wir einem Hund beibringen müssen, bei Fuß zu gehen. Das geschieht typischerweise durch Lob und Tadel. Tadel geht relativ einfach. Wenn der Hund abhaut, gibt man ihm einen kurzen Ruck mit dem Halsband. Das macht man mehrmals immer dann, wenn er weggeht, obwohl man „Fuß“ gesagt hat. Und wenn er folgt, lobt man ihn. Wenn man das zwei, drei Tage lang konsequent gemacht hat, geht der Hund immer neben einem, wenn man „Fuß“ sagt. Dann muß man vielleicht noch ab und zu einmal einen Ruck geben, und irgendwann braucht man gar keine Leine mehr. Aber man muß konsequent sein. Und das können die wenigsten Menschen. Noch nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Hund.

So ist es auch mit unserem Geist. Was wir uns vorgenommen haben, tun wir. Weshalb wir uns auch nicht zuviel vornehmen dürfen. Wenn man dem Hund innerhalb einer Woche Fuß, Platz, Sitz, Pfote geben, auf Kommando Stöckchen holen, beibringen will, wird er rebellieren. Er weiß dann gar nicht mehr, was er überhaupt noch machen soll.

Natürlich muß man ihn auch loben, wenn er es richtig gemacht hat. Und Lob muß nicht immer über das Essen gehen. Das einfachste Lob ist, ihn zu streicheln und zu sagen: „Ja, guter Hund, das hast du gut gemacht.“ Auf diese Weise können wir auch unser Unterbewußtsein loben. Wenn wir uns beispielsweise entschieden haben, eine Woche oder einen Monat keine Schokolade zu essen, darf es keine Ausnahme davon geben. Lieber erst mal etwas Kleines vornehmen, aber das Unterbewußtsein auf jeden Fall daran gewöhnen: Was auch immer man sich vornimmt, muß man auch tun. Das gilt auch für die spirituelle Praxis. Besser ist es, sich am Anfang eher wenig vorzunehmen, es aber konsequent auszuführen. Wenn man es gemacht hat, darf man sich ruhig mal auf die Schulter klopfen, geistig oder körperlich. Manche Menschen haben Angst, es würde ihr Ego erhöhen, wenn sie zu sich selbst sagen: „Das hast du gut gemacht.“ Es erhöht das Ego nur, wenn man sich damit identifiziert. Man kann seinen Geist loben, indem man ihm sagt: „Danke, liebes Unterbewußtsein, das hast du gut gemacht, du hast jetzt eine Woche lang auf Schokolade verzichtet oder eine Woche lang täglich asanas gemacht, ich bin zufrieden mit dir.“ Man muß ihn nicht unbedingt dadurch belohnen, daß man ins beste Restaurant oder ins Kino geht. Meistens reicht es aus, wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, vielleicht in der Meditation, sich hinsetzt und sagt: „Ja, liebes Unterbewußtsein, ich bin zufrieden mit dir, das ist gut, was du gemacht hast.“ Manche Menschen legen sich zuviel auf, wollen zu schnell immer mehr vom Unterbewußtsein. Das ist nicht gut, irgendwann folgt darauf eine totale Gegenreaktion.

Das ist oft so bei spirituellen Aspiranten. Sie machen etwas und das geht gut. Also nehmen sie sich noch mehr vor. Das klappt auch. Sie nehmen sich noch mehr vor. Klappt auch. Noch mehr asanas, noch mehr pranayama, noch mehr Meditation, noch weniger Zeit für dieses, noch weniger Zeit für jenes … Und irgendwann rebelliert das Unterbewußtsein, so daß nichts mehr klappt. Und was macht man, wenn nichts mehr klappt? Man geht ins Café und ißt Schokoladenkuchen. Jetzt hat das Unterbewußtsein die Lektion gelernt: Wenn ich alles tue, was mein Herr will, dann werde ich bestraft und muß mehr und mehr machen. Tue ich es dagegen nicht, werde ich belohnt. Also, die Lektion ist ganz klar. Es ist so einfach und weil es so einfach ist, denkt man in den wenigsten Fällen daran.

Wir nehmen uns also etwas vor, tun es eine Weile ganz konsequent und belohnen unser Unterbewußtsein dafür. Aber wir nehmen uns nicht zuviel vor. Wir nehmen uns kleine Dinge vor und schauen, wie es geht.

Ich empfehle oft Anfängern, sich zunächst vorzunehmen, jeden Tag drei Minuten zu meditieren. Wenn man Lust hat, kann man ja länger meditieren. Aber drei Minuten macht man auf jeden Fall jeden Tag. Das ist möglich, und wenn man konsequent eine Woche lang jeden Tag drei Minuten meditiert hat, weil man es sich vorgenommen hat, stärkt das den Willen ungemein.

Wenn das Verlangen auf diese Weise allmählich kontrolliert wird, verschwindet es irgendwann auch ganz. Den meisten Menschen geht es zum Beispiel so, wenn sie eine Weile lang kein Fleisch mehr gegessen haben. Sie haben dann keine Lust mehr darauf, das Verlangen danach verschwindet. Auch wenn man radikal auf Süßigkeiten verzichtet, verschwindet der Wunsch danach. Er mag ab und zu vielleicht noch einmal hochkommen, dann verschwindet er ganz. Es ist nicht so, daß man gar keine Süßigkeiten mehr essen darf. Aber man kann sich beweisen, daß es geht und daß man Herr über den Wunsch ist.

Im zweiten Kapitel kommt Patanjali auf dieses Thema nochmals an zwei Stellen zurück: Einmal bei der Behandlung von tapas, Askese, und zum anderen bei santosha, Zufriedenheit. Das spielt im Raja Yoga eine große Rolle.

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Kapitel 1, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Samprajnata samadhi (samadhi mit Erkenntnis) wird von Denken, Überlegen, Freude und reinem Ich-Gefühl begleitet.

Sanskrit Text:

vitarka-vicāra-ānanda-asmitā-rupa-anugamāt-saṁprajñātaḥ ||17||

वितर्कविचारानन्दास्मितारुपानुगमात्संप्रज्ञातः ॥१७॥

vitarka vichara ananda asmita rupa anugamat sanprajnatah ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vitarka = Ahnung, Meinung, Denken
  • vicāra = Erfahrung, Kontemplation, überlegen, nachdenken
  • ānanda = Glück, Freude, Glückseligkeit
  • asmitā = Einheitswahrnehmung, Ich-Gefühl
  • rūpa = Form, Natur
  • asmitā-rūpa = Einheitswahrnehmung mit der Natur / eigenen Form
  • anugamāt = aus diesen Schritten
  • saṁprajñāta = vollkommenes Wissen, vollkommene Erkenntnis

 

Kommentar

Das ist eine abstrakte Raja YogaMeditationstechnik in vier beziehungsweise sieben Stufen.

Große Meister führt diese Technik sofort zu samâdhi, aber auch wir können sie ab und zu ausprobieren, selbst wenn wir keine großen Meister sind und nur Vorstufen üben können.

Es gibt verschiedene Interpretationen dieser samadhi-Zustände und Meditationstechniken. Eine davon, die Shri Karthikeyan erklärt hat, ist:

Savitarka ist Meditation über die physischen Elemente in Raum und Zeit, die Identifikation mit dem Universum der Erscheinungen in Raum und Zeit.

Man wird sich zunächst des Körpers bewußt und des Bewußtseins hinter diesem Körper. Dann geht man dazu über, festzustellen, daß dieser physische Körper nicht im abstrakten Nichts lebt, sondern in ständigem Austausch mit seiner Umwelt. Luft strömt in die Lungen, wird ein Teil des Körpers. Wir atmen Kohlendioxid aus, das in unseren Zellen entsteht. Warum sollten wir uns mit dem Kohlendioxid nur so lange identifizieren können, solange es beispielsweise in unserem Fuß ist? Wir können versuchen, die Luft in uns und draußen zu spüren. Man kann tatsächlich nicht nur den physischen Körper wahrnehmen, sondern auch die Luft darum herum. Ebenso kann man das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume oder des Baches nicht nur hören, sondern sein Bewußtsein darauf ausdehnen.

Die westliche Theorie der Wahrnehmung würde sagen, daß von einem Objekt Klangschwingungen ausgehen, die in die Luft gelangen, sich als Welle bis zum Ohr fortpflanzen und dort die Gehörknöchelchen in Bewegung setzen. Dies führt zu verschiedenen Impulsen, die im Gehirn als Klang interpretiert werden.

Die samkhya-Theorie sagt, unser Bewußtsein geht zum Objekt hin; dadurch werden wir uns des Objektes bewußt. Auch Sheldrake sagt – ohne sich auf die samkhya-Philosophie zu beziehen –, daß es bestimmte Phänomene der Wahrnehmung gibt, die wir eigentlich mit unserer normalen westlichen Sichtweise nicht erklären können, sondern damit, daß man sich zu dem Objekt hin ausdehnt. Ich fand es sehr interessant, daß Sheldrake von einer ganz anderen Warte aus zu einer ähnlichen Aussage kommt, nämlich daß es nicht oder nicht allein so ist, daß Klangschwingungen in unser Bewußtsein eindringen, sondern daß unser Bewußtsein mittels der betreffenden Sinneswahrnehmung nach außen geht und wir die Dinge wahrnehmen, weil unser Bewußtsein zu ihnen geht.

Und das können wir ganz gezielt machen: Wir gehen mit dem Bewußtsein zu den Objekten, die wir sinnlich wahrnehmen: vielleicht die Erde, auf der wir sitzen, die Luft, die wir auf der Haut spüren (besonders wenn sie sehr warm oder kalt ist oder wenn es windig ist), und zu den Dingen, die wir hören. Man kann diese Meditation sogar mit offenen Augen in der Natur machen: sich hinsetzen, Dinge anschauen und versuchen, sie zu spüren, ihr Wesen zu erfassen, in sie hineinzugehen.

Schließlich geht savitarka so weit, daß wir das ganze Universum spüren. Wir spüren, ich bin das ganze Universum und das Unendliche hinter dem Universum.

Der nächste Schritt, nirvitarka, ist schwer zu erklären. Nirvitarka ist Identifikation mit dem Universum jenseits von Raum und Zeit, das Erfassen des Prinzips des Körpers beziehungsweise des Universums an sich. Wir identifizieren uns mit dem Bewußtsein hinter der Gesamtheit des Universums.

In savitarka versuchen wir zwar auch, das physische Universum als organisches Ganzes wahrzunehmen, aber wir nehmen auch seine Veränderungen wahr. Wir konzentrieren uns darauf, das Universum mit allen seinen Veränderungen als ein organisches Ganzes bewußt zu spüren. Bezogen auf den eigenen Körper könnte man sagen, in savitarka nimmt man seinen eigenen Körper mit all seinen Veränderungen wahr, in nirvitarka stellt man fest, der Körper ist doch ein Ganzes, jenseits aller Veränderungen.

Diese beiden Bewußtseinszustände, savitarka und nirvitarka, lassen sich auch in der vedanta-Philosophie ausdrücken. Die Identifikation mit dem physischen Universum als Ganzes ist viratsvarupa. „Das ganze Universum ist mein Körper“ – das ist die Erfahrung dieser Meditation, darin mündet sie.

Die gleiche Unterscheidung gibt es bei den nächsten beiden Stufen, savichara und nirvichara. Savichara, mit Nachdenken, heißt, wir identifizieren uns mit dem Prinzip des Nachdenkens im Universum, also mit dem kosmischen Gemüt.

Wenn man den Körper wahrnimmt, nimmt man auch Emotionen und Gedanken wahr. Wir können das eigene Gemüt, das kosmische Gemüt oder die Psyche einschließlich Gedanken und Emotionen wahrnehmen und dabei feststellen, daß unsere Emotionen und Gefühle nicht unabhängig von anderen Emotionen und Gefühlen sind. Dann können wir versuchen, andere Wesen und Objekte zu erfühlen, nicht mehr ihren Körper, sondern ihre Gedanken und Emotionen. Dann gehen wir noch einen Schritt weiter und fühlen: „Ich bin das Bewußtsein hinter allen Gedanken und Gefühlen.“ Hinter dem gesamten Universum gibt es nicht nur einen abstrakten Geist, sondern auch ein Gemüt auf der Gefühls- und prana-Ebene. Dieses Gemüt versuchen wir als Ganzes zu fühlen. Das ist dann der savichara-Zustand, die Identifikation mit dem kosmischen Gemüt. Wir dehnen unser Bewußtsein aus und fühlen das gesamte Gemüt hinter der Schöpfung. Wir fühlen die kosmischen Gedanken und Emotionen, die kosmische Energie in allen ihren Veränderungen. Wir können nicht jede einzelne Veränderung spüren, aber wir merken: Da ist Veränderung, da ist Rhythmus.

Nirvichara bedeutet, daß wir alle Bindungen überschreiten. Wir spüren das kosmische Gemüt an sich als eine allumfassende Wirklichkeit, die irgendwie eine Einheit bildet.

Der Erfahrung von savichara und nirvichara entspricht hiranyagarbha in der vedanta, dem kosmischen Geist („cosmic mind“, nicht das, was man englisch mit „spirit“ bezeichnen würde; die Unterscheidung im Deutschen ist schwierig, da es für beides nur ein Wort gibt), im Sinne von kosmisches Gemüt.

Die nächste Stufe, sananda (mit Wonne), ist eigentlich die Konsequenz aus dem Vorhergehenden. Wenn es uns gelingt, uns als das Gemüt hinter allem, was geschieht, zu fühlen, ist das mit Wonne und Liebe verbunden. Ananda, Wonne, schließt immer prema, Liebe, ein und umgekehrt ist Liebe immer auch Wonne. Manchmal fragt man sich bei der abstrakten vedanta-Philosophie, wo die Liebe hinter dem Ganzen bleibt. Die Liebe ist in ananda enthalten. Wenn wir uns auf der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebene eins fühlen mit allen Wesen, dann entsteht ganz natürlicherweise eine umfassende Liebe und Wonne, ähnlich, wie auch Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Mein Selbst ist in mir wie auch im Nächsten.

Auf dieser Stufe der Meditation hört man auf, das ganze Wesen, das kosmische Gemüt, zu spüren. Statt dessen nimmt man einfach diese allumfassende Liebe und Wonne wahr.

Das führt zum nächsten Schritt, sasmita, der Identifikation mit dem kosmischen „Ich bin“.

Asmita werden wir noch im Rahmen des zweiten Kapitels als individuelles Ego kennenlernen. Dort gilt es als Teil der kleshas, der Ursachen des Leidens.

Aber hier ist asmita nicht als individuelles Ego gemeint, sondern als kosmisches Ego, als das kosmische Gefühl „Ich bin“. Dieses kosmische „Ich bin“-Gefühl mündet schließlich in den letzten Teil, in asamprajnata.

Die unteren sechs Stufen gelten als samprajnata = mit Bewußtsein. Prajna heißt Erkenntnis, samprajna = mit Erkenntnis. Dabei machen wir konkrete Erkenntnisse.

Asamprajnata heißt „ohne Erkenntnisse“: Wir machen keine Erkenntnisse, sondern sind reines Bewußtsein. Wir sind einfach: die Erfahrung reinen Seins. Dies schließt auch weiter Wonne ein, schließt auch weiter das kosmische Ich ein, das reine Selbst, purusha, transzendiert sie aber alle. Das ist der nirodha-Zustand oder, wie man im Jnana Yoga in der vedanta-Philosophie sagen würde, der Zustand von nirvikalpa samadhi, die Selbstverwirklichung.

Selbst wenn wir noch keine spirituellen Meister sind, können wir diese Meditationstechnik üben und andeutungsweise ihre Stufen erfühlen, auch wenn sie nicht sofort zu echtem asamprajnata samadhi führt. Es ist uns vielleicht möglich, das Bewußtsein auszudehnen, zu merken: „Ich bin das Bewußtsein hinter dem physischen Universum, ich bin das Bewußtsein hinter dem kosmischen Gemüt.“ Vielleicht gelingt es uns nicht gleich auf der ganzen kosmischen Ebene, aber doch so, daß wir mindestens unsere Umgebung und deren Emotionen, Gedanken, Gefühle, prana, erfühlen können. Das können wir immer weiter ausdehnen, bis wir sananda, die Liebe und Wonne dahinter spüren. Vielleicht gelingt es uns, sasmita, das Bewußtsein, das „Ich bin“-Gefühl, zu erleben und einen Moment lang im reinen Sein zu verharren.

All diese Schritte sind zunächst nur das Bemühen um Konzentration, dharana. Es kann uns gelingen, auf jeder Ebene voll zu verschmelzen in dhyana (Kontemplation) und schließlich wird es wirklich samadhi (überbewußter Zustand).

Es gibt also die vier Stufen von samprajnata samadhi: vitarka, vichara, ananda, sasmita, die später noch weiter unterteilt werden in savitarka und nirvitarka sowie savichara und nirvichara.

Statt sie nun auf dieser kosmischen Ebene zu betrachten, kann man diese Stufen auch als konkrete Meditationsthemen auffassen, wie es Swami Vishnu-devananda gerne machte:

  •  Vitarka in diesem Sinne ist Meditation über Gegenstände, die wir aus dem physischen Universum kennen, zum Beispiel eine Kerzenflamme, das Meer, einen Klang, also Elemente in Raum und Zeit.
  • Vichara ist Meditation über Elemente außerhalb des physischen Universums, also Urprinzipien, Archetypen o.ä. Dazu gehören beispielsweise mantras (Sanskritklang, -formel, -vers) oder chakras (Energiezentren) oder Götter. Shiva zum Beispiel ist keine Gestalt, die es auf der physischen Ebene gibt, sondern ein kosmisches Prinzip im ganzen Universum.
  • Sananda und sasmita sind dann noch subtiler. Meditationsgegenstand auf der sananda-Ebene ist Liebe, reine Liebe zu Gott, und sasmita bedeutet, ganz in das umfassende Gefühl des „Ich bin“ hineinzugehen.

Wir können die Einteilung auch nach koshas, den Körperhüllen, vornehmen:

  • Die vitarka-Meditation dreht sich um die annamaya kosha (Nahrungshülle) und spielt sich auf der Ebene des Physischen ab.
  • In der vichara-Meditation sind es Objekte in der pranamaya kosha (vitale Hülle, Lebensenergie), manomaya kosha (Geisthülle) und vijnanamaya kosha (intellektuelle Hülle). Dazu gehören beispielsweise die Eigenschaftsmeditation, die Energiemeditation oder auch Reflexion, Nachdenken.
  • In sananda und sasmita befindet sich die Meditation auf der anandamaya kosha-Ebene (Wonnehülle) und ist sehr abstrakt. Dann sind wir in diesem transzendentalen Gefühl von Wonne und reinem Sein. Trotzdem verbleibt dort immer noch ein Rest von „Ich bin“: ich fühle Wonne, ich fühle Liebe“. Das heißt, es besteht noch Dualität, Getrenntheit, Zweiheit. Deshalb gehört es noch zu samprajnata.

Asamprajnata samadhi tritt ein, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören. Es gibt kein Gefühl mehr von “Ich“, „Du“ oder „Ich erfahre“. Es bleibt nur reines Sein.

Dies beschreibt Patanjali im 18. Vers.

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Kapitel 1, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Asamprajnata samadhi entsteht, wenn durch Übung alle geistigen Inhalte zur Ruhe gebracht wurden und nur unmanifestierte Eindrücke verbleiben.

Sanskrit Text:

virāma-pratyaya-abhyāsa-pūrvaḥ saṁskāra-śeṣo-’nyaḥ ||18||

विरामप्रत्ययाभ्यासपूर्वः संस्कारशेषोऽन्यः ॥१८॥

virama pratyaya abhyasa purvah sanskara shesho ’nyah ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • virāma = ruhen, aufhören, fallen lassen
  • pratyaya = richtige Wahrnehmung, Erkenntnis, Eindruck, Geistesinhalt
  • abhyāsa = Beharrlichkeit, enthusiastische Übung
  • pūrva = das Vorherige, Unmanifestierte, Frühere, Vorangegangene
  • saṁskāra = Prägungen aus der Vergangenheit, auch aus dem Vorleben, unsere Neigungen
  • śeṣa = übrig geblieben, Reste
  • anyaḥ = das andere (die andere Form der Erkenntnis)

 

Kommentar

Asamprajnata samadhi ist die Selbstverwirklichung. Es gibt keinen Gedanken mehr.

Wenn wir das wieder auf die sieben bhumikas beziehen, dann ist der Verwirklichte asamshakti („durch nichts berührt“), ein jivanmukta (ein lebendig Befreiter). In asamshakti erreicht der Mensch asamprajnata samadhi. Am Ende des Lebens, im padarthabhavana-Zustand („sieht Brahman überall“) handelt er fast nicht mehr und in turiya (endgültige Befreiung) hört er ganz damit auf.

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Kapitel 1, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Asamprajnata samadhi kommt von Geburt an zu denen, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit prakriti erlangt haben.

Sanskrit Text:

bhava-pratyayo videha-prakṛti-layānam ||19||

भवप्रत्ययो विदेहप्रकृतिलयानम् ॥१९॥

bhava pratyayo videha prakriti layanam ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bhava = Ursprung, Geburt
  • pratyaya = Ursache, Sicherheit, Geistesinhalt
  • videha = körperlos
  • prakṛti = Natur
  • laya = Auflösung, Verschmelzung
  • prakṛti-layana = verschmolzen mit der Natur /Prakriti, Naturverbundenheit

 

Kommentar

Es gibt Menschen, die praktisch mit einem solchen Bewußtsein geboren werden und relativ schnell in diesem Leben ohne größere Anstrengung die Verwirklichung erreichen. Und zwar deshalb, weil sie in einem früheren Leben eine hohe Stufe der Verwirklichung erreicht haben.

Wenn sich ein Mensch auf der vierten Stufe des Wissens befindet, auf sattvapatti (Reinheit des Geistes), ist er in samprajnata samadhi (Selbstverwirklichung mit Bewußtsein). Von dort gelangt er weiter zu asamshakti („durch nichts berührt“) und erreicht als jivanmukta (lebendig Befreiter) die Selbstverwirklichung. Oder es besteht die Möglichkeit, nach dem Tod in videhamukti einzugehen, in den befreiten, körperlosen Zustand. Dann erfährt man die letzten Stufen des Bewußtseins nach dem Tode.

Nun gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Wenn man die Stufe von sasmita samadhi erreicht hat, wo man sich als das Ich hinter dem ganzen Universum identifiziert, kann man sich mit der gesamten prakriti (Schöpfung) identifizieren, anstatt direkt weiter zu purusha, zum eigentlichen göttlichen Selbst, zu gehen. Man fühlt sich als das Bewußtsein hinter dem ganzen Universum und gleichzeitig als das ganze Universum an sich. Dann erreicht man die Selbstverwirklichung in dem Moment, wo das ganze Universum aufhört zu bestehen, am Ende des Schöpfungszyklus. Bis dahin fühlt man sich eins mit dem Universum und hört erst dann auf zu existieren, wenn das Universum aufhört zu bestehen. Es kann aber auch sein, daß man sich eine Weile mit dem ganzen Universum identifiziert, dann aber erkennt, daß man doch lieber die Verwirklichung erreichen will. In diesem Fall nimmt man nochmals einen Körper an, weil das schneller geht als zu warten, bis das Universum aufhört.

Wenn ein Meister schon sehr weit gekommen ist, kann es sein, daß er die Verwirklichung schrittweise nach dem Tod erreicht, was allerdings sehr lange dauert. Eine andere Möglichkeit ist, daß er diese höheren Stufen von Körperlosigkeit, videha oder prakriti layana, die Verschmelzung mit prakriti, erreicht hat und sich entscheidet, nochmals auf diese Welt zurückzukehren. Dann erreicht er die Befreiung relativ schnell.

Der Weise Ramana Maharishi zum Beispiel kam sehr schnell zu asamprajnata samadhi. Er war um die sechzehn, als er plötzlich das Gefühl hatte zu sterben. Seine Beine, Arme und Hände wurden gefühllos, sein Atem hörte auf, das Herz stand still. Und trotzdem merkte er, daß er immer noch lebte. Zwar war sein Körper tot, er spürte ihn nicht mehr, aber es waren immer noch Gedanken da. Er dachte: „Wenn ich schon sterbe, dann sterbe ich auch richtig und höre auf zu denken.“ Er brachte die Gedanken zum Stillstand und hatte sofort die Erfahrung von samadhi. Nach diesem Erlebnis kam er doch wieder ins Leben zurück. Anschließend lief er von zu Hause weg und begab sich in eine Höhle. In der Höhle haben die Ratten ihn angefressen, bis er von jemandem gefunden wurde, der ihn pflegte. Er war sich all dessen nicht bewußt. Schließlich entstand um ihn herum ein ashram. Manchmal sprach er ein paar Worte, aber nur sehr wenige. Die meisten Schüler, die zu ihm kamen und Fragen hatten, setzten sich einfach zu ihm und ihre Fragen erledigten sich von selbst. Ramana Maharishi hat kein systematisches gründliches sadhana (spirituelle Praxis) gemacht, um seine Natur zu transformieren; es kam bei ihm ganz spontan und natürlich.

So auch bei Anandamayi Ma, von der es heißt, sie sei schon als Selbstverwirklichte auf die Welt gekommen.

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Kapitel 1, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

Für andere kommt asamprajnata samadhi durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewußtsein.

Sanskrit Text:

śraddhā-vīrya-smṛti samādhi-prajñā-pūrvaka itareṣām ||20||

श्रद्धावीर्यस्मृति समाधिप्रज्ञापूर्वक इतरेषाम् ॥२०॥

shraddha virya smriti samadhi prajna purvaka itaresham ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śraddhā = Glaube, Vertrauen, Gewissheit, Überzeugung
  • vīrya = Energie, fester Wille, Kraft
  • smṛti = Erinnerung, das daran denken
  • samādhi = Ziel des Yoga, Erleuchtung, aber auch: richtige Wahrnehmung, balanciertes Denken, objektive Betrachtung
  • prajñā =Ahnung, Wissen, Weisheit, Abschätzungsvermögen
  • samādhi-prajñā = klares Bewußtsein, Wissen wesentlich für samadhi
  • pūrvaka = vorangehen
  • itareṣā = für andere

 

Kommentar

Um zu asamprajnata samadhi zu kommen sind vier Dinge nötig.

Das erste ist Glaube. Wir müssen Vertrauen haben. Zwar brauchen wir zu Anfang des Weges eine gesunde Skepsis, aber immerzu an allem zu zweifeln führt uns auch nicht weiter. Wir müssen prüfen: Macht das Ganze Sinn? Beruht es auf alten Schriften? Dann müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad darauf einlassen, glauben oder auch um Glauben bitten. Anschließend machen wir dann eigene Erfahrungen.

Als zweites müssen wir natürlich Energie hineinstecken. Von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt. Alles, was wir an Energie in unsere spirituelle Praxis investieren, bekommen wir vielfach zurück. Es ist also ein „Engelskreis“ – im Unterschied zum „Teufelskreis“. Wir strengen uns beispielsweise an, unser Leben sattvig (rein) zu gestalten. Dabei stoßen wir auf Widerstände unterschiedlicher Art: innere Widerstände, eigenes tamas (Trägheit), das eigene Unterbewußtsein und äußere Widerstände. Man hat wenig Zeit, andere Menschen erwarten etwas anderes. Aber wir tun es trotzdem. Und weil wir es machen, bekommen wir mehr Energie. Und weil wir mehr Energie haben, können wir noch mehr Energie hineinstecken u.s.w.

Und wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wozu wir das alles machen. Es geht so schnell, zu vergessen, was eigentlich unser Ziel im Leben ist. Man vergißt es im Laufe des Tages, wenn man seine Arbeiten erledigt, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzt, wenn man schläft. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, unser sadhana (spirituelle Praxis) regelmäßig zu machen und auch daran, wozu wir das Ganze tun. Wir müssen uns daran erinnern, das mantra auch zwischendurch zu wiederholen. Wir müssen uns erinnern, uns an Gott zu erinnern.

Und natürlich brauchen wir klares Bewußtsein. Wir müssen bewußt durch die Welt gehen, die Gegenwart bewußt erfahren. Wenn wir bewußt leben, bewußt asanas und pranayama machen, bewußt mit Menschen sprechen, bewußt die Lektionen des täglichen Lebens lernen, können wir sehr schnelle Fortschritte machen.

Man kann diesen Vers auch auf die vier Hauptaspekte des Yoga beziehen:

  • Glauben ist Bhakti Yoga.
  • Energie ist Karma Yoga, denn wir müssen ins tägliche Leben Energie hineinstecken.
  • Erinnerung gehört zum Raja Yoga, denn im Raja Yoga sind diese Techniken erläutert, an die wir uns immer wieder erinnern müssen.
  • Klares Bewußtsein brauchen wir im Jnana Yoga, wo wir versuchen, bewußt durchs Leben zu gehen, unsere viveka, die Unterscheidungskraft, und die Intuition zu schulen.

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