Kapitel 2, Vers 21

Deutsche Übersetzung:

Das Gesehene ist für den Sehenden da.

Sanskrit Text:

tadartha eva dṛśyasya-ātmā ||21||

तदर्थ एव दृश्यस्यात्मा ॥२१॥

tadartha eva drishyasya atma ||21||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • artha = Zweck, Ziel
  • eva = allein, nur
  • dṛśyasya = des Gesehenen, Prakriti, Schöpfung, Kosmos
  • ātmā = Wesen, Natur, Selbst, wahres Selbst, Drastu

Kommentar

Das physische Universum hat keinen Selbstzweck, sondern es ist für purusha da, für das Bewußtsein dahinter, für seine Erfahrung.

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Kapitel 2, Vers 22

Deutsche Übersetzung:

Die prakriti wird für den, der sein Ziel erreicht hat, unwirklich. Da sie jedoch allen gemein ist, existiert sie für die anderen weiter.

Sanskrit Text:

kṛtārthaṁ pratinaṣṭaṁ-apy-anaṣṭaṁ tadanya sādhāraṇatvāt ||22||

कृतार्थं प्रतिनष्टंप्यनष्टं तदन्य साधारणत्वात् ॥२२॥

kritartham pratinashtam apy anashtam tadanya sadharanatvat ||22||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kṛṭa = vollendet
  • arthaṁ = Ziel, Sinn, Zweck
  • prati = für, zu
  • naṣṭam = zerstört, nicht vorhanden
  • apy = obgleich, trotzdem
  • anaṣṭaṁ = nicht zerstört, vorhanden, bestehen bleiben
  • tat = als das
  • anya = andere
  • sādhāranatvāt = da es allgemein ist, Allgemeingültigkeit

Kommentar

Mit anderen Worten, für den, der die Selbstverwirklichung vollständig erreicht hat, das letzte karma ausgearbeitet hat, gibt es das Universum nicht mehr. Dann ist prakriti verschmolzen mit purusha, dem Selbst, und er ist auf ewig befreit. Aber für die anderen existiert die prakriti weiter.

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Kapitel 2, Vers 23

Deutsche Übersetzung:

Der Zweck der Verbindung von purusha und prakriti ist, daß purusha Bewußtsein seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte erkennt, die in ihm und in prakriti liegen.

Sanskrit Text:

svasvāmi-śaktyoḥ svarūp-oplabdhi-hetuḥ saṁyogaḥ ||23||

स्वस्वामिशक्त्योः स्वरूपोप्लब्धिहेतुः संयोगः ॥२३॥

svasvami shaktyoh svarup oplabdhi hetuh sanyogah ||23||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sva = eigene, hier: das wandelbare, Chitta, Prakriti
  • svāmi = Meister, das wahre Selbst, Drashtu, Atma
  • śakti = Kraft, Energie, das wandelbare Selbst, Chitta
  • svarūpa = eigene Form, wahre Natur
  • upalabdhi = erfahren, hervortreten, sich zeigen
  • hetu = Ursache, Grund, Zweck
  • saṁyoga = Verbindung, Vereinigung, Identifikation

Kommentar

Purusha, das Selbst, das Bewußtsein, verbindet sich mit prakriti. Jeder einzelne von uns identifiziert sich mit einem Teil der prakriti, mit Körper und Geist, und anschließend kommt er wieder heraus. Nun kann man sich fragen, was macht das Ganze für einen Sinn. Warum sind wir überhaupt in die Identifikation, in das Leid gegangen? Verschiedene Philosophiesysteme geben verschiedene Antworten, sogar innerhalb des Yoga. Buddha sagte: Stelle diese Frage nicht, sie ist transzendent und kann mit dem Intellekt nicht beantwortet werden. Die vedanta-Philosophie sagt: Es macht keinen Sinn, so etwas zu fragen, denn es ist gar nichts passiert. Alles war und ist immer Bewußtsein. Die Vorstellung, wir seien im Leiden, ist nur eine Illusion. Die Frage: „Warum sind wir in der Identifikation?“ ist wie zu fragen: „Warum hat eine Krähe Zähne und was ist deren Zweck?“ Die Krähe hat keine Zähne, daher haben sie auch keinen Zweck, und es gibt auch keinen Grund dafür. Genauso ist es mit dem Universum. Es existiert nicht als etwas Getrenntes, ist einfach nur eine Illusion. Zu fragen, welchen Grund, welchen Sinn es haben soll, ist daher sinnlos. Diese Philosophie ist logisch, stringent, aber sie befriedigt einen nicht. Im Bhakti Yoga (Yoga der Hingabe) wird gesagt, das Universum ist lila, Spiel Gottes. Das befriedigt emotional, aber nicht intellektuell. Was wäre das für ein Gott, der spielen will?

Patanjali wählt hier einen Zwischenstandpunkt. Er sagt, purusha und prakriti kommen zusammen, damit purusha wieder das Bewußtsein seiner wahren Natur erlangt, indem er zunächst aus sich heraus- und nachher zu sich zurückkommt. Erst so erkennt er wirklich, wer er ist. Und außerdem erkennt er die Kräfte, die latent in ihm und in der prakriti liegen. Das Ganze hat also einen Sinn. Er kommt nachher zurück zu sich selbst, klüger als vorher. Das befriedigt uns emotional, ist aber logisch nicht ganz schlüssig. Denn wenn purusha tatsächlich reines Bewußtsein an sich ist, dann ist in diesem Bewußtsein alles Wissen immer schon vorhanden. Trotzdem, purusha geht aus irgendeiner avidya (Unwissenheit) heraus ins Universum hinein, und durch den Lebenszyklus erkennt er seine wahre Natur immer mehr. Er erkennt die Kräfte, die in ihm und in der prakriti liegen. In diese Identifikation hinein- und dann wieder hinauszugehen ist etwas Sinnvolles. Den meisten Menschen fällt es leichter, eine solche Erklärung und Sichtweise anzunehmen als die des vedanta.

Patanjali fährt fort:

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Kapitel 2, Vers 24

Deutsche Übersetzung:

Die Ursache dieser Verbindung ist avidya, Unwissenheit.

Sanskrit Text:

tasya hetur-avidyā ||24||

तस्य हेतुरविद्या ॥२४॥

tasya hetur avidya ||24||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • hetu = Ursache
  • avidyā = Unwissenheit, mangelnde Erkenntnisfähigkeit

Kommentar

Aufgrund von Unwissenheit identifiziert sich purusha in die prakriti, verliert sich dort selbst, kommt in die Unwissenheit und somit ins Leiden, ist dem karma unterworfen. Dann müssen irgendwelche Ereignisse kommen, die ihn wieder an seinen Zustand des wahren Seins erinnern, und prakriti hilft ihm nun, daß er nicht darin hängen bleibt. Das ist die Geschichte unseres Daseins!

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Kapitel 2, Vers 25

Deutsche Übersetzung:

Durch das Überwinden der Unwissenheit verschwindet diese Verbindung (von purusha und prakriti), und der Sehende erreicht die Befreiung.

Sanskrit Text:

tad-abhābāt-saṁyoga-abhāvo hānaṁ taddṛśeḥ kaivalyam ||25||

तदभाबात्संयोगाभावो हानं तद्दृशेः कैवल्यम् ॥२५॥

tad abhabat sanyoga abhavo hanam taddrisheh kaivalyam ||25||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • abhāva = Überwindung, Verschwinden
  • saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Identifikation
  • abhāva = Verschwinden, Überwindung
  • hāna = aufgeben, aufhören
  • tat = das, dessen
  • dṛśeḥ = des Sehers
  • kaivalya = Befreiung, Erlösung

Kapitel 2, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

Das Mittel, avidya zu überwinden, ist viveka kyhati (ungebrochenes Unterscheidungsvermögen).

Sanskrit Text:

viveka-khyātir-aviplavā hānopāyaḥ ||26||

विवेकख्यातिरविप्लवा हानोपायः ॥२६॥

viveka khyatir aviplava hanopayah ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viveka = Unterscheidungskraft, Differenzierung, Auseinanderhalten
  • khyāti = Erkenntnis, Begreifen
  • a-viplava = ununterbrochen, ständig, gerichtet
  • hāna = Ziel, Ende
  • upāya = Mittel
  • hanopāya = Mittel zum Ziel

Kommentar

Viveka kyati ist mehr als Unterscheidungsvermögen, es ist die Lebenseinstellung des Unterscheidungsvermögens, andauerndes Unterscheidungsvermögen.

Patanjali meint hier die Unterscheidung zwischen purusha und prakriti. Es ist die ständige Unterscheidung zwischen dem, was ich wirklich bin, dem Objekt des Sehens und dem Instrument der Wahrnehmung (Körper und Geist). Ich bin das Bewußtsein. Gedanken, Gefühle und Bilder sind die Instrumente der Wahrnehmung, und das Äußere ist das Wahrgenommene, das Objekt. Wenn ich mich also zum Beispiel ärgere, dann weiß ich, mein eigentliches Ich ist davon unberührt. Ich kann feststellen, der Ärger ist eine Manifestation des Instruments der Wahrnehmung, eben meines Geistes, und er beruht darauf, daß bestimmte äußere wahrgenommene Sachen nicht so sind, wie das Instrument der Wahrnehmung es gerne hätte. Sich dessen immer bewußt zu sein, diese Unterscheidung zu machen, das ist dieses viveka kyati, das Patanjali hier beschreibt.

Es gibt natürlich noch eine andere Unterscheidungskraft, eine relative viveka. Das ist die Unterscheidung zwischen dem wahren Glück und dem Leid, zwischen dem, was uns zum Glück führt und was zum Leid, was ewig ist und was vergänglich u.s.w.

Im samkhya-System gilt viveka kyati als das Mittel schlechthin, avidya zu zerstören. Es gibt auch Methoden, wie wir viveka schärfen können, zum Beispiel die sakshi-bhav-Techniken des Beobachtens, wo wir lernen, etwas wahrzunehmen und zu beobachten, zum Beispiel ein Gefühl, einen Gedanken, ein Geräusch, und gleichzeitig feststellen: Ich bin nicht das Wahrgenommene. Allmählich stellen wir fest: Ich bin der Beobachter, ich bin nicht das Beobachtbare. Die vipassanaMeditation, die Beobachtungsmeditation der Buddhisten, ist eigentlich keine urbuddhistische Methode, sondern sie ist als sakshi bhav im Yoga schon lange vorher bekannt. Das umfaßt sowohl eine Meditationstechnik als auch eine Lebenseinstellung wie auch Unterscheidungskraft in jeder Situation. Wenn wir uns darin wieder und wieder üben, verliert sich langsam diese Bindung an die prakriti. Man beobachtet und erkennt, hier ist ein Mensch, der denkt, handelt, fühlt, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin das Bewußtsein dahinter, der Beobachter. Man kann auch sagen, ich bin etwas anderes als dieser Körper. Ich bin jemand anders als diese Gedanken und diese Gefühle, denn die kann ich alle wahrnehmen. Das kann man schulen und mit der Zeit immer mehr fühlen. So kommen wir zur Befreiung. Ein Selbstverwirklichter lebt ständig in diesem Bewußtsein.

Hier könnten die Aphorismen des Patanjali eigentlich zu Ende sein. Er hat uns bis hierher schon so viel beigebracht. Jetzt macht er es uns noch einfacher, mindestens bis zum Ende des 2. Kapitels, wo er leichtere, konkretere und praktischere Techniken gibt. Denn jetzt folgen die acht Stufen des Raja Yoga, die ashtangas.

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Kapitel 2, Vers 27

Deutsche Übersetzung:

Erleuchtung wird in sieben Stufen erreicht.

Sanskrit Text:

tasya saptadhā prānta-bhūmiḥ prajña ||27||

तस्य सप्तधा प्रान्तभूमिः प्रज्ञ ॥२७॥

tasya saptadha pranta bhumih prajna ||27||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = dieser
  • saptadhā = siebenfältig
  • prānta = Pfad, Weg, Grenzpfad, Kante
  • bhūmiḥ = Stufe
  • prajñā = Erkenntnis

Kommentar

Gemeint sind die acht Stufen des Raja Yoga. Er sagt sieben, denn die achte ist schon samadhi (Erleuchtung, überbewußter Zustand). Über die ersten sieben Stufen, nämlich yama, niyama, asana, pranayama, pratyahara, dharana, dhyana kommen wir zur Erleuchtung, zu samadhi.

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Kapitel 2, Vers 28

Deutsche Übersetzung:

Durch die Übung der verschiedenen Stufen des Yoga verschwinden die Unreinheiten, das Licht des Wissen erstrahlt und es entsteht ununterbrochenes Unterscheidungsvermögen.

Sanskrit Text:

yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir-āviveka-khyāteḥ ||28||

योगाङ्गानुष्ठानादशुद्धिक्षये ज्ञानदीप्तिराविवेकख्यातेः ॥२८॥

yoga anga anushthanad ashuddhi kshaye jnana diptir aviveka khyateh ||28||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • yoga = Yoga
  • āṅga = Glieder, Teil
  • anuṣṭhāna = Übung, Praxis
  • aśuddhi = Unreinheit
  • kṣaye = überwinden, reduzieren, zerstören
  • jñāna = Wissen, Weisheit
  • dīpti = leuchten, strahlen, Licht
  • ā = endlos, unbegrenzt
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • khyāti = ununterbrochen, fortwährend

Kommentar

Hier beschreibt Patanjali, was alles geschieht, während wir Yoga üben:

Wir zerstören Unreinheiten, merzen sie aus. Das ist ein großer Teil des Yoga. Dann kommt jnâna dîpti, das Licht des Wissens, oft auch als „spirituelle Erleuchtung“ übersetzt. Damit kommen auch spirituelle Erfahrungen, Intuition, ein gewisses Gefühl für das Selbst. All das führt zu viveka khyâti, ungebrochener Unterscheidungskraft zwischen dem, was wir nicht sind und dem, was wir sind.

Über diese sieben beziehungsweise acht Stufen kommen wir langsam zu diesem Zustand von viveka khyâti. Im tiefsten, letzten Stadium ist viveka khyâti nämlich nicht mehr intellektuell, sondern tatsächliche Unterscheidung zwischen unserem Selbst und unserem Geist. Das ist die tiefste Form von viveka khyâti, die schließlich zur Selbstverwirklichung führt.

Im folgenden geht er näher auf diese Stufen ein.

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Kapitel 2, Vers 29

Deutsche Übersetzung:

Yama, niyama, asana, pranayama, pratyahara, dharana, dhyana und samadhi sind die acht Glieder.

Sanskrit Text:

yama niyama-āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo-‚ṣṭāvaṅgāni ||29||

यम नियमासन प्राणायाम प्रत्याहार धारणा ध्यान समाधयोऽष्टावङ्गानि ॥२९॥

yama niyama asana pranayama pratyahara dharana dhyana samadhayo ’shtavangani ||29||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • yama = ethische Ratschläge oder Vorschriften im Umgang mit anderen
  • niyama = ethische Ratschläge für unser Privatleben
  • āsana = Stellung
  • prāṇāyāma = Atembeherrschung, Harmonie mit der Lebensenergie
  • pratyāhāra = Zurückziehen der Sinne, Harmonie mit den Emotionen
  • dhāraṇā = Konzentration, Harmonie mit den Gedanken
  • dhyāna = Versenkung, Meditation, Kontemplation
  • samādhaya = Ekstase, Samadhi, Ziel des Yoga, Erleuchtung, überbewusster Zustand
  • aṣṭa = acht
  • aṅga = Glieder

Kommentar

yama = ethische Ratschläge oder Vorschriften im Umgang mit anderen
niyama = ethische Ratschläge für unser Privatleben
asana = Stellung
pranayama = Atmung, Herrschaft über das prana
pratyahara = Zurückziehen der Sinne
dharana = Konzentration
dhyana = Meditation
samadhi = Überbewußtsein

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Kapitel 2, Vers 30

Deutsche Übersetzung:

Die yamas bestehen aus Nicht-Verletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Unbestechlichkeit.

Sanskrit Text:

ahiṁsā-satya-asteya brahmacarya-aparigrahāḥ yamāḥ ||30||

अहिंसासत्यास्तेय ब्रह्मचर्यापरिग्रहाः यमाः ॥३०॥

ahimsa satya asteya brahmacharya aparigrahah yamah ||30||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • ahiṁsā = nicht verletzen, Gewaltlosigkeit
  • satya = Wahrhaftigkeit, die Wahrheit sagen, nicht lügen
  • asteya = nicht stehlen
  • brahma = Gott, ein höheres Ideal
  • carya = wandeln in
  • brahmacarya = Wandeln im Bewusstsein eines höheren Ideals, im Bewusstsein Gottes handeln, Mönch-Sein, das Zölibat
  • leben, Enthaltsamkeit
  • aparigrahā = Unbestechlichkeit, nicht Horten, Anspruchslosigkeit
  • yamā = Regeln im Umgang mit anderen