Kapitel 1, Vers 31

Deutsche Übersetzung:

Schmerz, Depression, Nervosität und unregelmäßige Atmung sind die Symptome eines zerstreuten Geistes.

Sanskrit Text:

duḥkha-daurmanasya-aṅgamejayatva-śvāsapraśvāsāḥ vikṣepa sahabhuvaḥ ||31||

दुःखदौर्मनस्याङ्गमेजयत्वश्वासप्रश्वासाः विक्षेप सहभुवः ॥३१॥

duhkha daurmanasya angamejayatva shvasaprashvasah vikshepa sahabhuvah ||31||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • duḥkha = Schmerz, Leiden
  • daurmanasya = Trübsinn, Traurigkeit, Depression
  • aṅgam = Glieder, Körper
  • ejayatva = Unruhe
  • aṅgamejayatva = Nervosität
  • śvāsa-praśvāsa = Ein- und Ausatmung, unruhige Atmung
  • vikṣepa = Zerstreuung, Unruhe, Trübung
  • sahabhuva = Begleiterscheinungen, Symptome

 

Kommentar

Das sind die Folgen, die Symptome, an denen man die oben erwähnten Hindernisse erkennen kann. Manchmal ist man sich dieser Hindernisse nämlich gar nicht bewußt. Der menschliche Geist begründet ja oft alles mögliche rational. So kann es passieren, daß man gar nicht erkennt, daß man momentan einem Hindernis begegnet, sondern denkt, man hätte eine sehr kluge Ansicht. Und hier gibt Patanjali vier Tips, wie man herausfinden kann, ob man sich gerade auf dem Holzweg befindet:

Geistiger Schmerz und Depression sind beides nicht sehr positive Gemütszustände. Geistiger Schmerz meint Zerrissenheit, ein manifestes Leiden. Depression bedeutet Niedergeschlagenheit, sich kaputt fühlen.

Physische Nervosität kann man mit einem Test herausfinden: Man streckt den Arm gerade nach vorne aus und schaut, wie ruhig die Hand ist.

Physische Unruhe und unregelmäßige Atmung kann man bei sich selbst und bei anderen beobachten. Wenn man es zum Beispiel mit einem Menschen zu tun hat, der ganz unruhig und nur im oberen Brustbereich atmet, dann kann man diesem Menschen zunächst mit Logik nicht beikommen. Er wird in dem Moment nicht logisch mit einem sprechen können. Man muß, wenn es geht, erst versuchen, ihn zu beruhigen. Wenn möglich, versucht man, ihn zu trösten, zu verstehen, Liebe zu zeigen. Wenn das wegen der Art der Beziehung nicht möglich ist, dann faßt man ihn eher mit Samthandschuhen an, ist freundlich, schickt positive Gedanken und beachtet es nicht zu sehr, wenn er irgendwelche komischen Geschichten erzählt. Denn er ist, um mit Patanjali zu sprechen, momentan in einem verwirrten Geisteszustand, vikshepa.

Wenn man eines dieser Symptome bei sich feststellt, weiß man: Ich stehe irgendwo an einem Hindernis. Dann kann man die Schwierigkeiten dahinter suchen und anschließend etwas tun, um sie zu beseitigen.

Patanjali gibt in den nächsten Vers Techniken an, wie man diese Hindernisse beseitigen kann. Im 2. Kapitel führt er das noch weiter.

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Kapitel 1, Vers 32

Deutsche Übersetzung:

Zur Beseitigung dieser Hindernisse sollte man einen Aspekt der Wahrheit üben.

Sanskrit Text:

tat-pratiṣedha-artham-eka-tattva-abhyāsaḥ ||32||

तत्प्रतिषेधार्थमेकतत्त्वाभ्यासः ॥३२॥

tat pratishedha artham eka tattva abhyasah ||32||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = das
  • pratiṣedh = vermindern
  • artam = Inhalt, Sinn, Zweck
  • eka = ein
  • tattva = Prinzip, Wahrheit
  • abhyāsa = Übung

 

Kommentar

Er empfiehlt hier eigentlich die Ablenkung. Wenn man erkennt, es sind Hindernisse und ein verwirrter Geisteszustand da, braucht man nicht zu versuchen, zu analysieren und die Ursache herauszufinden, sondern sollte stattdessen seine Konzentration auf einen Aspekt der Wahrheit richten.

Aber er empfiehlt nicht die Ablenkung auf irgend etwas, also zum Beispiel, ins Kino oder in ein Restaurant zu gehen, Achterbahn zu fahren, Bier zu trinken oder den Fernseher einzuschalten. Sondern er empfiehlt uns, über einen Aspekt der Wahrheit zu meditieren. So erheben wir den Geist wieder.

Wir haben schon darüber gesprochen, wie Krishna in der Bhagavad Gita mit Arjuna umgeht. Arjuna ist in großer Verzweiflung. Er weiß nicht, was er machen soll und zeigt alle Symptome eines verwirrten Geisteszustandes: geistigen Schmerz, Depression, er ist nervös und wirft die Waffen weg. Über seine Atmung wird zwar nichts ausgesagt, aber es ist anzunehmen, daß sie auch nicht ruhig und tief war. Arjuna ist in vollkommener Verzweiflung und paradoxerweise erzählt Krishna ihm als erstes von der Unsterblichkeit der Seele! Das ist notwendig und hilfreich. Und natürlich bleibt es nicht dabei, sondern anschließend erklärt er ihm alles mögliche.

Damit kann man nicht jedem kommen. Wenn du beispielsweise einen alten Bekannten von früher triffst, dem es schlecht geht, wird er wenig damit anfangen können, wenn du ihm sagt: „Mach dir nichts daraus, dein wahres Selbst ist unberührt, und überhaupt bist du Sein, Wissen und Glückseligkeit.“ Aber generalisieren kann man das auch nicht. Eine Psychotherapeutin unter den Seminarteilnehmern hat mir mal erzählt, sie hätte Menschen, die mit Yoga gar nichts zu tun haben, auch schon den Rat gegeben: „Egal, was passiert, irgend etwas in dir bleibt doch gleich, versuch das mal zu spüren. Diesen stillen Pol in dir gibt es, und er gibt dir Kraft. Versuche, zu diesem ruhenden Pol zu kommen, den es in aller Verzweiflung und in allen Emotionen gibt.“ Das kann helfen, daß Menschen dann besser zurechtkommen.

Wenn wir über einen Aspekt der Wahrheit meditieren, erheben wir den Geist. Ist der Geist erhoben, kann man anders arbeiten und die Probleme sind leichter zu lösen.

Im 2. Kapitel zählt Patanjali als Methoden zur Überwindung von Leiden und einem verwirrten Geisteszustand noch kriya yoga (yogische Reinigungstechniken), tapas (Askese), swadhyaya (Selbststudium), ishvara pranidhana (Hingabe an Gott), Verständnis von karma (Gesetz von Ursache und Wirkung, Sinn des Lebens, die Einstellung, die wir zum Leben haben können), sowie die acht Stufen des Raja Yoga auf. Aber zuerst meditieren wir über einen Aspekt der Wahrheit und erheben so unseren Geist. Erst dann ist wirklich etwas mit uns anzustellen.

Patanjali will sich mit niemandem abgeben, der nicht meditiert. Meditation ist die Voraussetzung, daß man sich ein bißchen erheben und die Probleme anders angehen kann. Wenn jemand nicht meditiert, kann man mit dem Problem nicht umgehen. Er hat ja schon vorher gesagt: Die Wiederholung eines mantras bringt erleuchtete Innenschau und überwindet alle Hindernisse. Auf diese Weise ist er überhaupt auf die Hindernisse gekommen. Erst wenn wir meditieren, ein mantra wiederholen, wird die Introspektion erfolgreich. Ansonsten kommen wir aus unserem eigenen Tümpel nicht heraus. Wenn wir ein mantra wiederholen, erhebt uns die Kraft des mantras, wir kommen zu einer erleuchteten Innenschau und überwinden die Hindernisse. Dem sutra-Stil folgend, erklärt Patanjali dann die Hindernisse, die Symptome der Hindernisse und vorher hat er die Mantrameditation als Heilmittel erwähnt. Hier sagt er, wir können über einen Aspekt der Wahrheit meditieren und damit schließt sich der Kreis.

Von Vers 33 bis 39 gibt er uns verschiedene Techniken, wie wir meditieren können.

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Kapitel 1, Vers 33

Deutsche Übersetzung:

Der Geist wird durch die Entwicklung von Freundlichkeit, Mitgefühl, Heiterkeit und Gleichmut gegenüber Vergnügen, Schmerz, Laster und Tugend klar.

Sanskrit Text:

maitrī karuṇā mudito-pekṣāṇāṁ-sukha-duḥkha puṇya-apuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaḥ citta-prasādanam ||33||

मैत्री करुणा मुदितोपेक्षाणांसुखदुःख पुण्यापुण्यविषयाणां भावनातः चित्तप्रसादनम् ॥३३॥

maitri karuna mudito pekshanam sukha duhkha punya apunya vishayanam bhavanatah chitta prasadanam ||33||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • maitrī = Freundlichkeit
  • karuṇā = Mitgefühl, Wohlwollen
  • muditā = Freude, Frohsinn, Zufriedenheit, Heiterkeit
  • upekṣana = Gleichmut
  • sukha = Vergnügen
  • duḥkha = Schmerz
  • puṇya = Tugend, Verdienst
  • apuṇya = Laster, Sünde
  • viṣayāna = Ziele
  • ebhāvanātaḥ = Entwicklung von Haltungen, Verweilen in Gedanken
  • citta = Geist, Verstand
  • prasādana = Klarheit, Ruhe

 

Kommentar

Wir können über Freundlichkeit, Mitgefühl, Zufriedenheit und Gleichmut meditieren. Dafür eignet sich zum Beispiel die Eigenschaftsmeditation. Das ist eine konkrete Meditationstechnik, um eine bestimmte Eigenschaft zu entwickeln oder zu verstärken, indem wir über Affirmationen, Visualisierung, Nachdenken, Fühlen und abschließender nochmaliger Affirmation eine Weile lang jeden Tag üben. Dadurch wird diese Eigenschaft sehr stark. Angenommen, du willst Gelassenheit entwickeln. Dann kannst du die Eigenschaftsmeditation in folgenden Schritten anwenden:

  • Du setzt dich mit aufgerichteter Wirbelsäule zur Meditation hin. Schließe die Augen. Wiederhole die Affirmation: „Ich bin gelassen. Om Om Om. Ich bin gelassen. Om Om Om“ ein paar Minuten lang
  • Denke über Gelassenheit nach, als ob du einen Aufsatz darüber schreiben oder eine Rede halten wolltest. Definiere, was Gelassenheit ist, denke über die Vorteile, eventuell auch Grenzen nach.
  • Stelle dir jemanden vor, der selbst gelassen ist, der dir als Vorbild dienen kann. Eine real existierende Person, oder eine aus der Vergangenheit, aus Mythologie, Theater, Literatur, Filmen.
  • Wiederhole „Om Gelassenheit“ geistig. Spüre jetzt die Eigenschaft und das Gefühl von Gelassenheit. Gehe mit deinem ganzen Wesen in die Essenz von Gelassenheit hinein, sei ganz absorbiert im intuitiven, ganzheitlichen Erfassen des Wesens von Gelassenheit.
  • Visualisiere dich selbst in Situationen, in denen du gelassen reagierst. Male dir künftige Situationen genau aus, in denen du in der gewünschten gelassenen Art und Weise handelst.
  • Wiederhole wieder ein paar Mal: „Ich bin gelassen, Om Om Om. Ich bin gelassen, Om Om Om“.

Mache diese Eigenschaftsmeditation jeden Tag 5-20 Minuten lang, entweder als deine tägliche Meditation oder zusätzlich zu deiner normalen Praxis. Wiederhole außerdem die Suggestion „Ich bin gelassen, Om Om Om“ ein paar Mal vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen. Sie wird tief ins Unterbewußtsein einsinken und wirksam werden. Setze die Affirmation täglich in die Praxis um. Das heißt, handle mindestens einmal pro Tag so, daß du die Eigenschaft der Gelassenheit anwendest. Lobe dein Unterbewußtsein dafür. Übe eine Woche bis einen Monat an einer Eigenschaft. Du wirst erstaunt sein, wie schnell du eine Eigenschaft entwickeln kannst. Anschließend gehe über zu anderen Eigenschaften wie Mut, Selbstvertrauen, Mitgefühl, Geduld, etc.

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Kapitel 1, Vers 34

Deutsche Übersetzung:

Dies wird auch durch das Ausstoßen und das Zurückhalten des Atems erreicht.

Sanskrit Text:

pracchardana-vidhāraṇa-ābhyāṁ vā prāṇasya ||34||

प्रच्छर्दनविधारणाभ्यां वा प्राणस्य ॥३४॥

prachchhardana vidharana abhyam va pranasya ||34||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pracchardana = Ausstoßen, Ausatmen, Hinauswerfen
  • vidhāraṇa = Anhalten, Zurückhalten
  • ābhya = beidem, und
  • vā = oder
  • prāṇasya = Atem, bzw. Prana

 

Kommentar

Pranayama, Atemübungen, sind sehr machtvoll, um den Geist zu erheben. Richtige Atmung im täglichen Leben kann sehr viel bewirken.

Der beste Ratschlag, den man nervösen oder unruhigen Menschen geben kann, ist, die Hand auf den Bauch zu legen und ein paar Mal tief mit dem Bauch ein- und auszuatmen. Das hilft enorm, Stärke, Festigkeit und Gleichmut zu entwickeln. Zwischen Atmung und Gemütsverfassung besteht eine direkte Korrelation. Du kannst einmal bewußt darauf achten, wie ein Mensch atmet, der leicht die Fassung verliert, und wie jemand atmet, der eher Gleichmut ausstrahlt.

Manche Menschen werden noch ärgerlicher oder nervöser, wenn sie total verärgert sind und dann auch noch über Wohlwollen meditieren sollen. Wir hatten hier einmal einen Schüler mit größeren psychisch-geistigen Problemen. Er hat mir erzählt, immer wenn ich am Anfang der Meditation sage: „Beim Ausatmen stelle dir vor, du schickst Licht und Liebe zu allen Wesen“ werde er richtig aggressiv. Er fühlte sich von verschiedenen Menschen psychisch mißhandelt und empfand es als Zumutung, ihnen jetzt auch noch Licht und Liebe zu schicken ….! Ich habe ihm geraten, er soll statt dessen denken: „Ich schicke Licht und Liebe in alle Richtungen.“ Das konnte er dann. Und ich leite jetzt Meditationen auch eher mit dieser Formel ein, da es Menschen gibt, die aus irgendwelchen Gründen – tatsächlicher oder eingebildeter seelischer, körperlicher, geistiger Mißbrauch – Aggressionen haben, die geweckt werden, wenn man sie bittet, Wohlwollen auszusenden. Aber mit der Zeit sollte es für jeden möglich sein, allen Menschen Wohlwollen zu schicken, selbst wenn einem das Furchtbarste angetan wurde, und zwar aus der Erkenntnis heraus, daß ein Mensch, der einem etwas angetan hat, nur Erfüllungsgehilfe des karmas war. Nur, nicht jeder kann das in jeder Situation anwenden und manchmal kann man es selbst auch nicht in jeder Situation. Für mich jedenfalls war es schon immer erhebend, allen Wesen Wohlwollen zu schicken.

Wem das also schwerfällt, der kann wenigstens den Atem beherrschen. Das kann jeder. Das ist der indirekte Weg des Hatha Yoga wie auch des Kundalini Yoga. Geist und prana (Lebensenergie) hängen zusammen. Verändert man das prana, ändert sich der Geist. Verändert man die Atmung, verändert sich das prana. Atemübungen sind etwas ganz Tolles. Sie können einen aus allen möglichen Depressionen, Stimmungen und falschen Vorstellungen herausreißen. Früher war ich ein sehr schüchterner Mensch. Vor einem Vortrag oder einer Yogastunde mußte ich immer unbedingt eine halbe Stunde pranayama machen. Und vor meinem ersten Meditationskurs mußte ich ein paar Runden bhastrika (eine fortgeschrittene Atemübung) machen, sonst wäre es nicht gegangen, denn ich hatte großes Lampenfieber und war sehr unruhig. Aber wenn ich vorher eine Weile pranayama geübt hatte, waren das prana, die Ruhe und die Stärke des Geistes da.

Manchmal kann es hilfreich sein, sich zusätzlich zum regelmäßigen pranayama einmal am Tag zwischendurch ein paar Minuten lang hinzusetzen und Wechselatmung zu üben, wenn man unruhig ist oder viel Energie braucht. Mir haben schon etliche Leute erzählt, daß sie das während der Arbeit manchmal machen – zum Beispiel auf der Toilette – und daß sie dann wieder Ruhe und Kraft haben. Eine Yogalehrerin hat erzählt, irgendwie sei das bei ihr mal auffällig geworden, und ihre Kollegen hätten sie gefragt, was denn ihr Geheimnis sei, was sie denn auf der Toilette mache, um anschließend so gut gelaunt herauszukommen. Das Ergebnis war dann die Gründung einer Yogagruppe!

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Kapitel 1, Vers 35

Deutsche Übersetzung:

Wenn die höheren Sinne aktiv werden, kommt Festigkeit des Geistes.

Sanskrit Text:

viṣayavatī vā pravṛtti-rutpannā manasaḥ sthiti nibandhinī ||35||

विषयवती वा प्रवृत्तिरुत्पन्ना मनसः स्थिति निबन्धिनी ॥३५॥

vishayavati va pravritti rutpanna manasah sthiti nibandhini ||35||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viṣayavatī = die Sinne betreffend
  • vā = oder, auch
  • pravrtti = Funktion, Tätigkeit
  • utpannā = erhoben, entstanden, gekommen von;
  • manas = Geist, Verstand, Gemüt
  • sthiti = Festigkeit, Stabilität
  • nibandhanī = Bildung von, hilfreich bei der Herstellung von

 

Kommentar

Wenn man meditiert, können auch höhere Sinne aktiv werden. Ein Beispiel dafür sind die anahata-Klänge, innere Klänge im linken oder rechten Ohr. Bei den meisten sind sie im rechten Ohr stärker. Bei manchen sind sie ziemlich gleichmäßig in beiden Ohren. Auf diese Klänge kann man sich konzentrieren, entweder, indem man einfach ganz bewußt diese schönen Klänge wahrnimmt oder versucht, den nächst subtileren Klang darin herauszuhören. Dieser subtilere Klang wird dann langsam stärker. Dann versucht man wieder, den nächst höheren Klang herauszuhören und so werden die Klänge immer subtiler, erhabener und schöner. Das kann den Geist ganz wunderbar konzentrieren.

Als Yogalehrer muß man wissen, daß es diese anahata-Klänge gibt und daß Tinnitus, eine Gehörkrankheit, etwas ganz anderes ist. Manche Menschen hören anahata-Klänge und halten sie für Tinnitus. Tinnitus ist ein sehr unangenehmes, lautes Ohrenrauschen, Ohrensausen. Tinnitus-Geräusche werden unter Streß stärker und bei Entspannung schwächer. Anahata-Klänge hingegen sind eher sanft und werden in der Ruhe stärker. Am meisten verbreitet ist wahrscheinlich ein ganz hoher Klang, ähnlich wie er früher beim Testbild für das Fernsehen zu hören war. Er wird um so stärker, je ruhiger der Mensch ist, zum Beispiel in einer sehr ruhigen Meditation, in einer spirituellen Umgebung, in einer Kirche oder wenn man mit einem Menschen ein spirituelles Gespräch führt. Für manche Menschen ist das ein Hinweis auf eine echte Herzenskommunikation. Wenn die Herzenskommunikation da ist und man nicht nur Worte austauscht, kommt dieser wunderbare Klang, und man spürt, das gegenseitige prana tauscht sich aus beziehungsweise die beiden pranas verbinden sich mit dem göttlichen prana. Bei ein paar Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über dem Versuch, im Tinnitus-Geräusch den anahata-Klang herauszuhören, die Tinnitus-Geräusche schön geworden. Und ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die anahata-Klänge gehört und sie für Tinnitus gehalten haben.

Es gibt auch das höhere Sehen. Man sieht bei geschlossenen Augen Bilder oder ein Licht im dritten Auge, worauf man sich konzentrieren und so den Geist festigen kann. Auf gleichmäßige, schöne, nach oben ziehende, wonnevolle innere Lichter kann man sich konzentrieren. Konkreten Bildern, Szenen aus einem Leben oder Fantasiebildern würde man nicht folgen, denn das ist kein höherer Sinn, sondern die Fantasie, Luftschlösser, was auch immer. Natürlich könnte man auch solche Bilder verfolgen, aber das führt nicht in eine so tiefe Meditation.

Früher dachte ich, ich sehe kein inneres Licht, bis mir jemand gesagt hat: „Schließe mal die Augen und schaue, was du siehst.“ Da ist mir aufgefallen, daß ich bei geschlossenen Augen eigentlich immer irgendwelches Licht sehe! Ich habe das nur nie für etwas Besonderes gehalten. Viele – aber keineswegs alle – Menschen sehen Licht, wenn sie die Augen schließen. Wenn man keine Klänge hört oder kein Licht sieht, ist das nicht etwa ein Zeichen mangelnden spirituellen Fortschritts. Es bedeutet einfach nur, daß dieser Sinn nicht aktiv ist. Wenn man will, kann man es auch trainieren. Es ist aber nicht notwendig.

Seltener ist es, daß Menschen subtile Gerüche riechen, zum Beispiel den Duft wunderbarer Räucherstäbchen. Ein Nektargeschmack im Mund ist ebenfalls möglich.

Häufiger wiederum kommt es vor, daß man ein überaus beglückendes, wonnevolles Gefühl hat. Man spürt zum Beispiel das ajna chakra („drittes Auge“; Energiezentrum) oder das Herz, man spürt, daß von oben Energie oder Licht in einen hineinströmt. Auch auf solche Gefühle kann man sich konzentrieren.

Viele Menschen erleben eines dieser fünf Phänomene. Manche Menschen sind insgesamt mehr auf das Fühlen ausgerichtet; sie fühlen dann auch eher die chakras (Energiezentren). Manche sind mehr über das Hören orientiert und hören eher innere Klänge. Und wer mehr über das Sehen orientiert ist, sieht vielleicht auch schneller innere Bilder oder ein inneres Licht.

Wenn diese höheren Sinne aktiv werden, dann wird die Festigkeit des Geistes leicht begründet.

Es ist eine leichte Technik, sich darauf zu konzentrieren, und zum anderen ist es auch eine gute Hilfe gegen Zweifel, weil man eben erkennt und erfährt, daß es tatsächlich höhere, sehr angenehme Formen der Wahrnehmung gibt. Und wenn die Wahrnehmung noch weiter geht, sich zu einer Intuition entfaltet und man tatsächlich Dinge wahrnimmt, die an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, in der Zukunft oder in der Vergangenheit, geschehen, dann weiß man einfach: Es gibt solche übersinnlichen Dinge. Oder wenn man in der Meditation den physischen Körper verlassen hat, dann weiß man ganz sicher: Ich bin nicht der physische Körper, egal, was die Wissenschaftler über das Gehirn und sonstige Sachen erzählen. Man hat den Körper von oben gesehen. Da gibt es dann nichts mehr zu diskutieren.

Vom absoluten Standpunkt aus gibt es natürlich weder astralen noch physischen Körper, alles ist eine Illusion, jagan mithya, die ganze Welt ist unwirklich. Aber vom relativen Standpunkt aus können wir in der Meditation erfahren, daß es eine astrale Welt gibt, eine subtile Wirklichkeit, unabhängig davon, was andere Menschen uns erzählen und wie unser eigener Geist rational argumentieren will. Deshalb hilft auch das zu einer Festigkeit des Geistes. Aber man muß auch nicht enttäuscht sein, wenn man bisher noch keine höheren Sinne gespürt hat. Es ist nur eine von vielen Techniken, die Patanjali erwähnt.

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Kapitel 1, Vers 36

Deutsche Übersetzung:

Oder (durch Vergegenwärtigung) des leuchtenden Lichts jenseits allen Leidens.

Sanskrit Text:

viśokā vā jyotiṣmatī ||36||

विशोका वा ज्योतिष्मती ॥३६॥

vishoka va jyotishmati ||36||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viśokā = jenseits allen Leidens
  • vā = oder, auch
  • jyoti = Licht
  • jyotiṣmatī = leuchtend

 

Kommentar

Wir können uns ein höheres Licht vorstellen oder eines in uns selbst, das unberührt ist von Leid. Das ist dieselbe Technik, die ich eingangs schon erwähnt habe, die vielen Menschen hilft, sich in das eigene Selbst, in ihren eigenen Ruhepol, der sich niemals verändert, zu versenken und darauf zu konzentrieren. Diesen Pol kann man sich einfach nur als Stille oder eben als Licht vorstellen. Wenn man einen Zugang dazu hat, weiß man, es gibt etwas in mir, das unberührt bleibt, egal ob ich jetzt leide oder mich freue, ob der Körper gesund oder krank ist. Auch das kann zu einer großartigen Erfahrung werden.

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Kapitel 1, Vers 37

Deutsche Übersetzung:

Oder durch Konzentration auf jemanden, dessen Geist den Bereich von Gier und Verhaftung transzendiert hat.

Sanskrit Text:

vītarāga viṣayam vā cittam ||37||

वीतराग विषयम् वा चित्तम् ॥३७॥

vitaraga vishayam va chittam ||37||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vīta = aufgehört
  • rāga = Wunsch, Gier, Verhaftung
  • viṣaya = Bereich
  • vā = oder, auch
  • citta = Geist, Gemüt, Verstand

 

Kommentar

Ein großer Meister, eine große Meisterin inspirieren einen immer.

Mit chitta, dem Verstand, können wir darüber meditieren, welche menschlichen Leidenschaften und Versuchungen der Meister, die Meisterin transzendiert hat. Oder wir können uns selbst in der Situation dieses Meisters vorstellen, indem wir überlegen: Wie wäre ich, wenn ich vollkommen wäre? Wie würde ich denken, fühlen und handeln?

Krishna zählt in der Bhagavad Gita mehrfach die Eigenschaften eines Vollkommenen auf. Er wiederholt sich dabei mehrere Male, so daß manche sich fragen, warum sagt er das wieder und wieder. Diese Wiederholung dient zum einen dazu, daß wir uns wirklich jemanden vorstellen können, der so vollkommen ist und zum zweiten dazu, daß wir uns selbst in diese Idealrolle hineinversetzen können.

Wir Menschen im Westen sind es nicht gewöhnt, uns vorzustellen, daß wir selbst vollkommen sein könnten. Wir streben zwar nach spiritueller Vollkommenheit, aber wir können sie uns bei uns selbst gar nicht vorstellen. Wir gehören einer Tradition an, wo Demut in der Spiritualität eine sehr große Rolle spielt und auch der höchste Heilige noch von sich sagt: „Ich bin der größte Sünder.“ Je mehr man sich als Sünder bezeichnet, desto heiliger gilt man. Das ist in unserer Kultur so. In Indien haben zwar die Meister auch echte Demut, aber sie haben auch keine Hemmungen, gegenüber engeren Schülern festzustellen: „Ich habe das selbst verwirklicht, ich habe die Erleuchtung erreicht.“ Andererseits laufen sie natürlich nicht ständig herum und erzählen es jedem. Wenn sie das tun, ist es auch nicht echt, denn dann haben sie es nötig, es zu erzählen!

Aber nehmen wir zum Beispiel einen Swami Vivekananda, der zu Paramahamsa Ramakrishna, einem der größten Yoga-Meister des 19. Jahrhunderts gekommen ist und ihn gefragt hat: „Hast du Gott gesehen?“
Ramakrishna schaute ihm in die Augen und antwortete: „Ja.“
Daraufhin fragte Vivekananda: „Wann siehst du ihn?“
„Immer. Ich sehe ihn so, wie ich dich sehe, nur immer und deutlicher.“
„Kann ich ihn auch sehen?“
„Ja. Willst du sehen?“
„Ja.“
„Sicher?“
„Ja!“
Und Ramakrishna streckt den Fuß aus und berührte Vivekananda, worauf Vivekananda eine Gotteserfahrung hatte – diese war für ihn jedoch zu großartig, zu machtvoll, so daß er nachher darum bat, so schnell nicht wieder eine zu haben.

Im 11. Kapitel der Bhagavad Gita bittet Arjuna Krishna, ihm die Vision der kosmischen Gestalt zu geben. Krishna fragt: „Willst du es wirklich sehen?“ Arjuna bejaht, Krishna gibt ihm die Vision, Arjuna ist ganz überwältigt und am Ende des 11. Kapitels bittet er Krishna, sich ihm wieder so zu zeigen wie vorher – die Vision ist ihm zu gewaltig. Krishna ist freundlich und zeigt ihm die Welt wieder wie vorher. Dieses Erlebnis verändert natürlich die ganze Sichtweise von Arjuna. Er hat das Göttliche erfahren. Aber Krishna zum Beispiel hat auch keine Hemmungen, von sich zu sagen, daß er alle seine früheren Geburten kennt und daß er ursprünglich der Lehrer aller anderen war. Wie auch Jesus sagt: „Ich bin das Licht und das Leben und die Wahrheit“, „Ich und mein Vater sind eins.“ Und Jesus meint das nicht nur für sich. Er sagt auch: „Seid vollkommen, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist“, „Wenn der Jünger vollkommen ist, ist er wie sein Meister“, „Ihr seid das Licht der Welt“.

Also, wir dürfen ruhig etwas Mut aufbringen und uns vorstellen, wie wir sein würden, wenn wir vollkommen wären. Probiere das gleich aus: Schließe die Augen und denke darüber nach: „Wie wäre ich, wenn ich vollkommen wäre.“ Die Schwierigkeit vieler Europäer damit ist mir neulich bei einem Workshop klar geworden. Ein Seminarleiter hat die Teilnehmer gebeten, auf einem Blatt alle ihre Fehler aufzuschreiben. Und die Menschen haben geschrieben und geschrieben und geschrieben. Als zweite Übung sollten sie dann ihre positiven Eigenschaften auflisten. Dabei sind die wenigsten über zwei, drei Zeilen hinausgekommen. Ich muß zugeben, das hat mich doch etwas verblüfft. Und dann sollten alle an Menschen denken, die sie besonders schätzen und deren positive Eigenschaften notieren. Da haben alle wieder sehr viel geschrieben. Anschließend sollte sich jeder überlegen, ob er nicht die positiven Eigenschaften, die er in anderen sieht, selbst auch hat. Da mußten einige dann doch lachen, denn was sie an positiven Eigenschaften in anderen gesehen haben, waren tatsächlich ihre ureigenen Stärken. Es scheint für Menschen in unserem Kulturkreis leichter zu sein, bei anderen etwas Positives zu sehen als bei sich selbst.

Man könnte sich stattdessen auch abstrakt vorstellen, wie ein Geist beschaffen sein müßte, der vollkommen und jenseits von Verhaftungen und Leidenschaften wäre.

Am leichtesten fällt es, sich einen Meister, eine Meisterin, eine/n Heilige/n, vorzustellen. Das ist greifbar, über sie gibt es Bücher, Videos, oder es gibt Menschen, die über ihre Erfahrungen mit ihnen berichten. Man kann sich sein Foto aufstellen, auf ihn meditieren, zu ihm beten, seine Gegenwart fühlen, über sein Leben und seine Vollkommenheit nachdenken. Das erhebt einen. Es erhebt einen deshalb, weil die gleiche Vollkommenheit, die dieser Meister hat, in uns selbst vorhanden ist. Weil sie in uns ist, erhebt es uns, wenn wir darüber nachdenken. Es inspiriert uns. Wir bekommen selbst eine kleine Ahnung, wie es sein könnte, wenn wir so wären.

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Kapitel 1, Vers 38

Deutsche Übersetzung:

Oder durch Meditation über Wissen aus Traum oder Tiefschlaf.

Sanskrit Text:

svapna-nidrā jñāna-ālambanam vā ||38||

स्वप्ननिद्रा ज्ञानालम्बनम् वा ॥३८॥

svapna nidra jnana alambanam va ||38||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • svapna = Traumzustand
  • nidrā = traumloser Schlaf
  • jñāna = Wissen
  • ālambana = beruhend auf
  • vā = auch

 

Kommentar

Manche Psychoanalytiker interpretieren diesen Vers dahingehend, daß Patanjali Traumdeutung betrieben habe und empfehlen, Träume aufzuschreiben und über sie zu meditieren. Es gibt auch ein Buch über Traumyoga von Swami Sivananda Radha, einer kanadisch-deutschen Schülerin von Swami Sivananda, in dem Traumarbeit als Teil des spirituellen Weges behandelt wird.

Eine zweite Interpretation wäre, daß manchmal während des Schlafes das Überbewußte enthüllt wird.

Man kann Träume haben von seinem Lehrer, seinem guru. Mir geschieht es gelegentlich, daß ich einen Traum habe von Swami Vishnu-devananda oder Swami Sivananda. Zum Beispiel habe ich in den letzten Jahren im Traum ab und zu ein mantra von Swami Vishnu erzählt bekommen, so daß ich endlich wußte, wie man es richtig ausspricht.

Ich kenne Menschen, die ihr mantra und ihre Mantraeinweihung im Traum bekommen haben und mich dann im nachhinein gefragt haben, ob es dieses mantra gibt. Einige hatten tatsächlich ein authentisches Sanskritmantra im Traum bekommen.

Und ich kenne Menschen, die beispielsweise Swami Sivananda im Traum gesehen haben, ohne daß sie jemals vorher ein Bild von ihm zu Gesicht bekommen hatten. Vor kurzem war eine Frau als Gast hier im ashram. Als sie das Bild von Sivananda sah, fragte sie: „Wer ist dieser Mann?“ Ich sagte: „Das ist Swami Sivananda. Warum?“ Und da fragte sie: „Den gibt es wirklich?“ In verschiedenen verzweifelten Momenten sei dieser Mann ihr im Traum erschienen und habe sie beschützt. Und sie finde es ganz wunderbar, daß es hier ein Haus gebe, das sein Haus sei.

In dem Maße, in dem wir spirituelle Praktiken machen, werden unsere Träume weniger und inhaltlich spiritueller. Aber diese Entwicklung hinkt oft ein paar Jahre hinterher. Wenn man viel meditiert und in einer reinen Umgebung lebt, braucht das Unterbewußtsein oftmals nicht so viel Zeit, um die Ereignisse des Tages zu verarbeiten und einzubauen, so daß man tiefer und mit weniger Träumen schläft.

Zum Beispiel habe ich im Traum gelernt, wie man fortgeschrittene asanas macht. Im Traum war ich unglaublich flexibel – ich war immer ganz erstaunt! In der Vorwärtsbeuge zum Beispiel kam das Kinn vor die Zehen und ich habe überlegt, ob das anatomisch überhaupt möglich ist … Im Traum ging das alles. Aber trotzdem habe ich dabei auch die Technik gelernt, wie man dahin kommt. So kann man im Schlaf und im Traum durchaus einiges lernen. Und natürlich kann man über diese Trauminhalte auch meditieren.

Shri Karthikeyan, der Meister aus dem Sivananda Ashram in Rishikesh, der zweimal im Jahr Vorträge bei uns im ashram hält, spricht häufig über die drei Haupt-Bewußtseinszustände: Wachzustand, Traumzustand und Tiefschlaf. Daran kann man eben die Relativität der Welt erkennen. Die physische Welt verschwindet im Traum. Im Traum ist nur die Traumwelt da. Im Tiefschlaf gibt es gar keine Welt. Wenn wir darüber meditieren, hilft es uns, diese physische Welt als sehr relativ anzusehen, zu erkennen, sie ist eigentlich nur eine Illusion, sie ist genauso unwirklich wie die Traumwirklichkeit. Wenn wir ganz aufwachen aus dieser Welt und im überbewußten Zustand sind, dann schauen wir zurück und erkennen, in was für einem Traum wir die ganze Zeit gefangen waren und wie furchtbar ernst wir ihn genommen haben, obwohl im Grunde genommen alles nur ein Spiel war. Darüber zu meditieren kann sehr erhebend sein.

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Kapitel 1, Vers 39

Deutsche Übersetzung:

Oder durch eine Meditationsart, die einem angenehm ist.

Sanskrit Text:

yathā-abhimata-dhyānād-vā ||39||

यथाभिमतध्यानाद्वा ॥३९॥

yatha abhimata dhyanad va ||39||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • yatha = wie
  • ābhimata = lieb, erwünscht, angenehm
  • dhyāna = Meditation
  • vā = oder

Kommentar

Das ist ein Generalvers, der aussagt, daß man im Grunde genommen über alles meditieren kann. Aber es sollte schon über etwas sattviges sein – nicht über Schnitzel mit Pommes frites oder den Aktienmarkt!

Man sollte sich an eine hauptsächliche Meditationstechnik halten. Die Haupttechnik kann man, wenn man will, mit weiteren Techniken ergänzen. Wer eine mantra-Einweihung hat, wird typischerweise als Hauptmethode die mantra-Meditation benutzen. Wenn man zweimal täglich meditiert, kann man einmal mit dem mantra meditieren – damit die Energie des mantras immer stärker wird, ist es notwendig, daß man es jeden Tag mindestens 20 Minuten lang wiederholt –, und das zweite Mal kann man mit einer anderen Technik üben. Oder man kann die Meditation mit einer anderen Technik einleiten, wenn man merkt, daß es dem Geist zu monoton wird. Auch mit der Mantratechnik selbst gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann eigentlich alles mit dem mantra verbinden. Swami Sivananda schreibt, wenn man über ein mantra meditiert, soll man die Meditation verbinden mit der Bedeutung des mantras, den Eigenschaften des mantras. Wenn man also zum Beispiel „Om Namah Shivaya“ wiederholt, kann man dabei an reines Licht oder an Freundlichkeit, Wohlwollen und ähnliches denken. Oder man kann das mantra in verschiedenster Art mit dem Atem verbinden. Man kann das mantra entweder mit der Ein-und Ausatmung wiederholen, den Atem dabei fließen lassen, wie er von selbst will oder das mantra verbinden mit kevala kumbhaka, wobei man sehr wenig Luft ein- und ausatmet. Man kann es verbinden mit innerem Klang und innerem Licht, dem man mit dem mantra folgt. Man kann das mantra verbinden mit der Vorstellung des inneren Zustandes des Lichtes, welches jenseits von Leid ist oder man kann beim Rezitieren seinen Meister visualisieren. Und wenn man gerade eine erhabene Intuition im Schlaf hatte, kann man natürlich auch darüber meditieren in Verbindung mit dem mantra.

Man muß nicht immer die exakt gleiche Meditation haben. Es sollte eine Grundtechnik geben. Wenn jetzt aber eine Meditation anders verläuft und die Konzentration sehr stark zu etwas anderem hinstrebt, dann läßt man es geschehen. Auch wenn man in der Mantrameditation ist und sich plötzlich ein erhabener Gemütszustand einstellt, so daß das mantra von selbst wegfällt, läßt man das geschehen. Sollte die Konzentration von selbst in die untere Wirbelsäule gehen, kann man auch das zulassen. Man muß aber zum Schluß die Konzentration zu einem Punkt bringen, der höher ist als das manipura chakra (eines der Hauptenergiezentren), so daß man am Ende der Meditation nicht die ganze Energie in den niedrigen Chakras hält, sondern sie zum anahata (Herz) oder ajna chakra bringt.

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Kapitel 1, Vers 40

Deutsche Übersetzung:

Die Meisterschaft eines Yogi erstreckt sich vom kleinsten Atom bis zur höchsten Unendlichkeit.

Sanskrit Text:

paramāṇu parama-mahattva-anto-’sya vaśīkāraḥ ||40||

परमाणु परममहत्त्वान्तोऽस्य वशीकारः ॥४०॥

paramanu parama mahattva anto ’sya vashikarah ||40||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • parama = letztes, kleinstes
  • aṇu = Atom
  • parama = letztes, höchstes, größtes
  • mahattva = Kosmos, Universum (maha = groß; tvānto = Sache)
  • antah = endend, sich erstreckend
  • asya = Sein (eines Yogi)
  • vaśīkāra = Meisterung, Meisterschaft

Kommentar

Wenn wir meditieren, dann kommen wir zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten, von der kleinsten Sache in unserem Leben bis zur größten im ganzen Kosmos. Das Kleinste ist unser Geist, das Größte ist das Universum, der kosmische Geist.

Das ist ein relativ großer Sprung vom 39. zum 40. Vers, denn Patanjali geht jetzt wieder zurück zu samadhi. Er hat ja eigentlich schon über samadhi gesprochen. Dann hat er erzählt, was es für Hindernisse gibt und wie man sie überwindet. Wenn man das geschafft hat, kommt man zu samadhi und damit zur Meisterschaft vom Kleinsten bis zum Größten.

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