Kapitel 2, Vers 31

Deutsche Übersetzung:

Diese Grundregeln sind nicht durch soziale Schicht, Ort, Zeit oder Umstände bedingt. Sie gelten für alle Ebenen und bilden das große universelle Gelübde.

Sanskrit Text:

jāti-deśa-kāla-samaya-anavacchinnāḥ sārvabhaumā-mahāvratam ||31||

जातिदेशकालसमयानवच्छिन्नाः सार्वभौमामहाव्रतम् ॥३१॥

jati desha kala samaya anavachchhinnah sarvabhauma mahavratam ||31||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • jāti = Klasse, Kaste, soziale Schicht
  • deśa = Ort, Platz
  • kāla = Zeit
  • samaya = Treffpunkt, Umstand, Sitte, Gebräuche, Situation
  • anavacchinnā = nicht begrenzt, nicht bedingt, ununterbrochen, ständig
  • sārva = in allen
  • bhaumā = Ebenen
  • mahā = groß
  • vrata = Gelübde, Tugend, Ritual, Vorsatz

Kommentar

Jeder spirituelle Aspirant sollte sich vornehmen, diese fünf yamas zu beherzigen. Sie sind die mahavratas, die großen Gelübde, die für alle gelten.

Es gibt andere Vorschriften auf dem spirituellen Weg, die je nach Lebenssituation oder Sozialstand unterschiedlich sind. Ein Mensch im Berufs- und Familienleben hat andere Aufgaben als ein Entsagter, ein Schullehrer andere als ein Bauer. Ein Soldat oder Polizist muß sich anders verhalten als beispielsweise ein Priester. Es gibt verschiedenes dharmas, Pflichten. Für einen indischen swami (Mönch) geht es sogar so weit, daß er nicht einmal sein eigenes Leben verteidigen sollte – so steht es wenigstens in den Schriften. Hingegen muß ein Polizist das Leben anderer aktiv verteidigen und braucht notfalls auch eine Waffe. Trotzdem gilt für alle das Prinzip von ahimsa (Nichtverletzen). Die Ausprägung ist unterschiedlich je nach den jeweiligen Pflichten und Aufgaben. Für einen Mönch heißt ahimsa bedingungslose Gewaltlosigkeit, unter keinen Umständen einem anderen Wesen körperlich etwas tun, noch nicht einmal ein Insekt töten. Für einen Polizisten bedeutet ahimsa, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Angenommen, ein Kind hat ein Stück Schokolade aus einem Supermarkt gestohlen und läuft weg, dann wäre es jetzt nicht verhältnismäßig, mit dem Gewehr auf das Kind zu feuern. Aber wenn gerade Terroristen dabei sind, eine Geisel nach der anderen umzubringen, dann kann es sehr wohl die Aufgabe des Polizisten sein, als Scharfschütze den Terroristen mit einem Schuß von seiner Tat abzuhalten. Auch das wäre in diesem Fall noch ahimsa.

Brahmacharya, wörtlich Enthaltsamkeit, bedeutet in einer Beziehung zum Beispiel Treue, Achtung des Partners, Rücksichtnahme, auch im sexuellen Leben dafür zu sorgen, daß beide zufrieden sind, nicht egoistisch zu sein. Für einen Aspiranten, der eine Weile das Gelübde der Enthaltsamkeit vollständig leben will, heißt es etwas anderes. Und für einen Mönch bedeutet es tatsächlich lebenslange sexuelle Enthaltsamkeit.

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Kapitel 2, Vers 32

Deutsche Übersetzung:

Die niyamas bestehen aus Reinheit, Zufriedenheit, Selbstzucht, Selbststudium und Selbsthingabe.

Sanskrit Text:

śauca saṁtoṣa tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni niyamāḥ ||32||

शौच संतोष तपः स्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि नियमाः ॥३२॥

shaucha santosha tapah svadhyay eshvarapranidhanani niyamah ||32||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śauca = Reinheit, Sauberkeit; gemeint innere, aber auch äußere Reinheit
  • saṁtoṣa = Zufriedenheit
  • tapaḥ = Askese, Selbstdisziplin
  • svādhyāya = Selbststudium, lernen von sich selbst, auf sich selbst achten / hören
  • īśvara = der persönliche Gott
  • spraṇidhānāni = Hingabe, Vertrauen
  • īśvara-praṇidhānāni = Hingabe an Gott, Verehrung Gottes, Annehmen seines Schicksals
  • niyama = Regeln im Umgang mit sich selbst

Kommentar

Wir finden hier zum dritten Mal den Hinweis auf ishvara pranidhana. Im ersten Kapitel hat Patanjali erwähnt, ishvara pranidhana hilft uns, schnell zu samadhi zu kommen. Am Anfang des zweiten Kapitels führt er ishvara pranidhana als eine der kriya yogas auf: Hingabe an Gott hilft uns, nicht zu leiden. Und hier nennt er es nochmals als Teil der niyamas. Also auch im Raja Yoga spielt bhakti, die Hingabe an Gott, eine große Rolle.

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Kapitel 2, Vers 33

Deutsche Übersetzung:

Störende Gedanken können durch das Denken an ihr Gegenteil überwunden werden.

Sanskrit Text:

vitarka-bādhane pratiprakṣa-bhāvanam ||33||

वितर्कबाधने प्रतिप्रक्षभावनम् ॥३३॥

vitarka badhane pratipraksha bhavanam ||33||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vitarka = Zweifel, Unsicherheit, Frage
  • bādhane = Umsetzung
  • prati = andere
  • pakṣa = Flügel
  • pratipakṣa = Gegenteil, Gegensatz, andere Seite, Gegenposition, wörtlich: der andere Flügel
  • bhāvana = Zielstrebigkeit, Ausrichtung auf ein Ziel

Kommentar

Das ist die sogenannte pratipaksha-bhavana-Methode. Wenn man einen negativen Gedanken hat, denke man an das Gegenteil. Wenn man ungeduldig ist, denke man an Geduld. Wird man leicht ärgerlich, meditiere man über Gleichmut. Neigt man zu Ängstlichkeit, meditiere man über Mut. Wenn man Haß in sich trägt, entwickle man Liebe u.s.w., und zwar durch ständiges Nachdenken. Das kennen wir als Eigenschaftsmeditation (siehe I 33). Patanjali wiederholt sich an einigen Stellen bei den Dingen, die er für besonders wichtig hält.

Es ist eine gute Sache, sich vorzunehmen, eine Eigenschaft besonders zu entwickeln. Man kann zum Beispiel einen Monat lang besonders Gleichmut entwickeln, im nächsten Mut, im Monat danach Geduld, dann Pünktlichkeit u.s.w. Das ergibt immerhin zwölf positive Eigenschaften im Jahr, die man vielleicht nicht bis zur Vollkommenheit, aber doch ein gutes Stück entwickeln kann. So transformieren wir allmählich unsere Persönlichkeit.

Oder wir können natürlich auch durch die yamas gehen und jeden Monat einen Punkt von ihnen besonders entwickeln. Wir können einen Monat lang besonders an ahimsa, Gewaltlosigkeit, arbeiten, dann an satya, Wahrhaftigkeit, etc. Die kleinen Schwindeleien, Notlügen oder Übertreibungen, die man ab und zu macht, läßt man diesen Monat weg. Oder asteya, Nichtstehlen. Man achtet dann sehr genau darauf, daß man nichts wegnimmt, was einem anderen gehört. Man kann das als Meditation machen, als Affirmation sagen und man muß es natürlich jeden Tag auch umsetzen. Nur darüber nachzudenken reicht nicht aus. Aber alles zusammen ist sehr wirksam. Wir können darüber nachdenken, Affirmationen am Anfang und/oder am Ende der Meditation und/oder am Ende der Tiefenentspannung wiederholen, wir können uns morgens vornehmen, öfter während des Tages darüber nachzudenken und jeden Tag mindestens eine Handlung auszuführen, die diese Eigenschaft unter Beweis stellt. Also beispielsweise wenn man Mut entwickeln möchte, dann soll man jeden Tag eine Sache tun, die Mut erfordert und die man normalerweise nicht gemacht hätte. Nicht hundert, sondern eine – aber dann auch wirklich tun. Eine Handlung reicht aus. Man soll den Geist nicht überfordern. Dann wird innerhalb eines Monats eine entscheidende Veränderung im Geist eintreten.

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Kapitel 2, Vers 34

Deutsche Übersetzung:

Negative Gedanken und Emotionen wie Gewalttätigkeit, ob man sie selbst in die Tat umsetzt, andere tun läßt oder negatives Tun billigt oder geschehen läßt, ob durch Gier, Ärger oder Verblendung verursacht, ob mild, mittelmäßig oder stark, resultieren in endlosem Schmerz und Unwissenheit. Deshalb sollte man über das Gegenteil nachdenken.

Sanskrit Text:

vitarkā hiṁsādayaḥ kṛta-kārita-anumoditā lobha-krodha-moha-āpūrvakā mṛdu-madhya adhimātrā duḥkha-ajñāna-ananta-phalā iti pratiprakṣa-bhāvanam ||34||

वितर्का हिंसादयः कृतकारितानुमोदिता लोभक्रोधमोहापूर्वका मृदुमध्य अधिमात्रा दुःखाज्ञानानन्तफला इति प्रतिप्रक्षभावनम् ॥३४॥

vitarka hinsadayah krita karita anumodita lobha krodha moha apurvaka mridu madhya adhimatra duhkha ajnana ananta phala iti pratipraksha bhavanam ||34||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vitarka = Zweifel, Unsicherheit, Frage, Emotion, Gedanke
  • hiṁsādaya = Verletzen, rücksichtslose Gewalt
  • kṛta = selbst getan, Täter
  • kārita = durch andere tun lassen, Auftraggeber, der es veranlasst
  • anumodita = Befürworter, Anstifter, Dulder
  • lobha = Gier, Habsucht
  • krodha = Ärger
  • moha = Täuschung, Verblendung
  • pūrvaka = vorausgegangen, veranlasst, begleitet von
  • mṛdu = mild
  • madhya = mäßig
  • adhimātra = intensiv
  • duḥkha = Schmerz, Leid
  • ajñāna = Unwissenheit
  • ananta = endlos
  • phala = Frucht, Ergebnis
  • iti = so, deshalb
  • pratipakṣa = Gegenteil, andere Seite, Gegenposition
  • bhāvana = Zielstrebigkeit, Ausrichtung

Kommentar

Das ist eine faszinierende Begründung von Ethik. Patanjali sagt nicht, Gott erwartet, daß du dich an die moralisch-ethischen Regeln hältst, und wenn du dich nicht daran hältst, kommst du in die Hölle. Er hat vorher über karma gesprochen und gesagt, wenn wir etwas lasterhaft tun, führt es zu Leid. Aber hier sagt er noch direkter: Wenn wir ein unethisches Leben führen, führt das zu Schmerz und Unwissenheit.

In den siebziger und achtziger Jahren ist das Wort „Tugend“ etwas außer Mode gekommen. Im Zuge der psychologischen Revolution sind auch ethische Vorschriften mehr oder weniger über Bord geworfen worden. Wenn ich Mitte der neunziger Jahre das Wort Tugend in den Mund genommen habe, haben mich alle komisch angeguckt. Jetzt wird wieder über Tugenden gesprochen, und das ist etwas Positives. Denn inzwischen weiß man: Man braucht sie. Und es ist nicht so, daß der Ehrliche wirklich der Dumme ist. Der Ehrliche ist der Fröhliche und der Freudige. Der Unehrliche ist der Traurige, Unglückliche.

Bevor ich mich mit Yoga beschäftigt habe, hatte ich ein anderes Hobby, nämlich Geschichte. Damals habe ich mich unter anderem auch mit großen Feldherren und Eroberern beschäftigt, und bei ihren Biographien ist mir aufgefallen, daß sie eigentlich immer todunglücklich waren. Sie mögen ein Riesenreich aufgebaut haben – wenn sie als Tyrannen geherrscht haben, waren sie nicht glücklich. Es gab manche, die nach einer Weile ihre Wege geändert haben, wie zum Beispiel Ashoka, der große Kaiser Indiens, der um 250 v. Chr. ganz Indien geeint hat. Er war ein großer Feldherr, besiegte ein großes Reich, wobei Zehntausende von Soldaten umgebracht wurden, und anschließend haben seine Soldaten gebrandschatzt. Daraufhin hat er Gewissensbisse bekommen und sich gewandelt. Er wurde Buddhist und brachte als friedvoller König das Land zum Blühen. Und er war zum Schluß sehr glücklich. Er gilt bis heute in Indien als einer der idealen Herrscher. Aber diejenigen, die nur über Leichen gehen, werden unglücklich.

Und wir selbst werden auch unglücklich, wenn wir uns nicht an Ethik halten. Patanjali hat schon einige Ursachen für Leiden aufgezählt. Erstens, Handeln aus den kleshas heraus führt zum Leiden, zu karma und zu Unwissenheit. Zweitens, schlechtes karma führt zu Leiden. Jetzt sagt er, unethisches Verhalten führt direkt zu Leiden.

Wenn du dich mal nicht wohlfühlst, überlege: Habe ich heute jemanden bewußt oder unbewußt verletzt, durch Unachtsamkeit, oder weil ich ihm eins auswischen wollte? Wenn man eine Weile Yoga praktiziert, wird man sensibler und tut sich selbst weh, wenn man einen anderen Menschen auf irgendeine Art und Weise verletzt, besonders, wenn dies aus egoistischen Gründen geschieht. Natürlich muß man sich manchmal auch durchsetzen, zum Wohl einer Sache auch einmal jemanden zurechtweisen. Im Extremfall mag es sogar sein, wenn man in einer Situation ist wie Arjuna in der Bhagavad Gita oder die Soldaten im Kosovo, daß es notwendig wird, zu Gewalt zu greifen. Dabei ist immer abzuwägen, ob es wirklich notwendig ist und ob es keinen anderen Weg gibt. Aber jede Form von Nichteinhalten von ahimsa spürt ein spiritueller Aspirant in seinem eigenen Herzen. Notfalls muß man das in Kauf nehmen. Aber im Normalfall machen uns der Yogaweg und das Einhalten der yamas und niyamas glücklich und freudevoll, indem wir anderen Gutes tun, Gutes wünschen, für andere leben. Und langfristig gibt es uns auch alles, was wir brauchen – auch Erfolg. Wenn jemand einen sehr starken inneren Ehrgeiz hat, den er nicht loswerden kann, dann muß er dafür sorgen, daß er auf ethische Weise im Beruf Erfolg hat. Das ist die sattvigste Art und Weise, Ehrgeiz zu befriedigen.

Es macht wenig Unterschied, ob wir eine Verletzung der yamas und niyamas selbst begehen oder nur begünstigen und zulassen. Wenn neben uns ein Mensch gequält wird und wir unternehmen nichts dagegen, ist es himsa (Verletzen), und wir haben Anteil daran. Unrecht geschehen zu lassen ist auch eine Form von himsa und macht uns letztlich unglücklich.

Die häufigsten Motive, unethisch zu handeln, sind Gier, Ärger und Täuschung.

Jemand will mehr Geld oder den Posten eines anderen haben, also wird er gewalttätig, lügt, stiehlt, läßt sich bestechen, besticht jemand anderen u.s.w. Gier ist sicherlich einer der verwerflichsten Gründe.

Auch aus Ärger macht der Mensch alles Mögliche. Ärger ist eine Ursache für negative Gedanken, Emotionen und Gefühle. In der Bhagavad Gita sagt Krishna sinngemäß: Zuerst kommt der Wunsch. Der Wunsch führt zu Ärger. Aus Ärger kommen Täuschung, Verblendung und Vergessen, und dann tut der Mensch Dinge, die er normalerweise niemals tun würde.

Es gibt sinnlosen Ärger, aber auch gerechten Zorn. Das erlebe ich oft unter spirituellen Aspiranten. Sie nehmen oft in Kauf, einen anderen zu verletzen, nicht aus Gier oder reinem Ärger, sondern aus Gerechtigkeitsdenken heraus. Wenn wir etwas als ungerecht empfinden, sind wir oftmals bereit, viel zu tun. Wenn wir etwas für richtig halten, trampeln wir auch über die Gefühle von anderen Menschen rücksichtslos weg. Das ist eine große Gefahr.

Und schließlich Täuschung. Selbst wenn wir etwas nur aus Täuschung oder Verblendung tun, führt uns das zu Unwissenheit und Schmerz. Es gehört sehr viel Sensibilität dazu, überhaupt zu merken, wann wir jemand anderem wehtun. Und noch mehr Selbstdisziplin erfordert es, einem anderen selbst dann nicht wehzutun, wenn er uns wehtut. Und vor allen Dingen wollen wir nicht das Radfahrerprinzip anwenden, also nicht unseren Frust an einem anderem Menschen auslassen, wenn uns jemand nervt, gegen den wir uns nicht zur Wehr zu setzen trauen. Solche Handlungsmuster können unbewußt ablaufen oder aus Täuschung heraus. Man merkt es gar nicht. Wir brauchen also eine gewisse Sensibilität.

Wir kommen zu Leid und Unwissenheit, wenn wir den ethischen Grundsätzen entgegenhandeln. Ob wir nur leicht dagegen verstoßen, mittelmäßig oder vehement, letztlich läßt Patanjali keine Ausreden und Entschuldigungen gelten.

Die Schwierigkeit mit all diesen hehren, hohen Grundsätzen ist, daß man sie nicht immer ganz in die Tat umsetzen kann, weil wir eben noch nicht selbstverwirklicht sind. Wir sind noch nicht vollkommen. Aber wir bemühen uns. Und man darf sich auch kein schlechtes Gewissen machen, wenn einem die Umsetzung nicht immer perfekt gelingt.

Hehre Ideale sind in voller Radikalität nicht immer zu verwirklichen, weil wir Emotionen haben, durchaus auch Täuschungen unterliegen oder manchmal nicht die Kraft haben, selbst etwas zu ändern. Manchmal stehen die Ideale auch miteinander im Konflikt, wie zum Beispiel oft im Fall von Nichtverletzen und Wahrhaftigkeit.

Die nächsten Verse sind wunderschöne Erklärungen, was passiert, wenn man die betreffende positive Eigenschaft entwickelt, wohin es führt, wenn wir wirklich voll darin verankert sind. Das sind durchaus siddhis (übernatürliche Kräfte), die sich da manifestieren.

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Kapitel 2, Vers 35

Deutsche Übersetzung:

Wenn Nichtverletzen fest begründet ist, wird Feindschaft in der Gegenwart des Yogis aufgegeben.

Sanskrit Text:

ahiṁsā-pratiṣṭhāyaṁ tat-sannidhau vairatyāghaḥ ||35||

अहिंसाप्रतिष्ठायं तत्सन्निधौ वैरत्याघः ॥३५॥

ahimsa pratishthayam tat sannidhau vairatyaghah ||35||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • ahiṁsā = Nichtverletzen, Gewaltlosigkeit
  • pratiṣṭha = fest, beständig, stabil
  • tad = dessen
  • sannidhi = Nähe, Umgebung, Umkreis
  • vaira = Feindseligkeit, Streitigkeit
  • agha = aufgeben, loslassen

Kommentar

Wenn wir selbst Liebe und Mitgefühl entwickeln, begegnet uns keine Feindschaft mehr.

Das ist auf zwei Ebenen zu interpretieren.

Das eine ist die wörtliche Bedeutung. Wenn wir selbst Frieden ausstrahlen, spüren das auch die anderen und werden weniger mit uns streiten. Ein sanftmütiger, freundlicher Mensch trifft auf weniger Feinde. Es geht sogar soweit, daß dort, wo er ist, sich die Menschen besser vertragen.

Ich kannte einmal einen Menschen, der die Sanftmut in Person war. Wenn er in einen Raum kam, waren plötzlich alle ganz friedlich. Sowie er weg war, fingen sie allerdings wieder an, sich zu streiten…

Das kann jeder auch ausprobieren. Angenommen, du bemerkst irgendwo, daß Menschen sich streiten. Dann versuche zunächst, ihnen positive Gedanken zu schicken. Ich kann mich an einen Vorfall in einer U-Bahn erinnern, wo ich selbst auch nicht wußte, was ich machen sollte. Jemand fing eine Schlägerei an und es war offensichtlich, der eine war unterlegen und die anderen überlegen. Die erste Sache, die ich gemacht habe, hat glücklicherweise geholfen. Ich habe aus meinem ganzen Herzen „Om tryambakam“ (mantra für Frieden, Wohlwollen, Heilung) hingeschickt – und es hat aufgehört. Ich brauchte nichts mehr zu machen.

Wenn man über die Machtergreifung Hitlers diskutiert, hört man oft das Argument: „Ja, was hätte man denn machen sollen?“ Als einzelner hätte man wahrscheinlich nicht viel machen können, aber sicher in der Masse. 1919 zum Beispiel, kurz nach Beginn der Weimarer Republik, machte ein Mensch namens Kapp einen Putsch und wurde zum Diktator. Am nächsten Tag gab es einen Generalstreik in ganz Deutschland, alle Räder standen still. Innerhalb weniger Tage war der ganze Spuk zu Ende. Wenn ausreichend Menschen nicht wollen, kann alles verhindert werden. Aber auch als einzelner können wir der Gewalt durch Gewaltlosigkeit begegnen, wie auch Gandhi das gezeigt hat.

Auf einer zweiten Ebene sehen wir aber, daß den großen Wohltätern der Menschheit zum Teil sehr wohl Feindschaft entgegenschlug. Jesus wurde sogar ans Kreuz geschlagen. Gegen Buddha gab es mehrere Mordanschläge.

Trotzdem ist der Aphorismus von Patanjali korrekt. Denn eine andere Übersetzung lautet:

Ist Gewaltlosigkeit fest begründet, trifft der Yogi auf keine Feindschaft.

Das heißt, für den Yogi ist es keine Feindschaft, er empfindet es nicht als solche.

Als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, sagte er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er hat nicht empfunden: Da sind Menschen, die mir gegenüber feindselig gesonnen sind. Sondern er hat Menschen gesehen, die aus Unwissenheit etwas Schlechtes tun.

Von Swami Sivananda wird ein Vorfall berichtet, in dem ihn jemand beim Abendsatsang (gemeinsame Meditation und Mantrasingen) mit einer Axt ermorden wollte. Der erste Schlag ging auf den Turban und glitt dann seitlich ab. Swami Sivananda hob nicht die Hand, denn ein swami (Mönch, Entsagter) darf sein eigenes Leben nicht verteidigen. Der Assistent von Swami Sivananda, das war damals Swami Vishnu, ist dem Attentäter in den Arm gefallen und hat letztlich das Leben von Swami Sivananda gerettet. Und das erste, was Swami Sivananda gesagt hat, war: „Vishnu Swami, mäßige deinen Zorn!“ Die erste Sorge, die Swami Sivananda hatte, war, daß Swami Vishnu dem, der ihn fast umgebracht hätte, irgendein Leid zufügt. Er hat ihm natürlich auch nicht gesagt: „Gib ihm die Axt wieder, damit er mich umbringen kann“, sondern er sagte: „Tue ihm kein Leid an.“ Nachher sorgte er auch noch dafür, daß der Angreifer nicht ins Gefängnis kam, sondern nach Hause geschickt wurde. Er blieb ein spiritueller Aspirant und Schüler von Swami Sivananda. Dieses Ereignis hat den Beinahe-Mörder gründlichst transformiert. Er hat nämlich gemerkt: Das ist tatsächlich ein Heiliger – nicht ein Scheinheiliger, sondern ein echter Heiliger.

Jemand, der wirklich in Liebe zerfließt, allen Wesen Liebe und Wohlwollen entgegenbringt, empfindet keine Feindschaft. Selbst wenn er umgebracht wird, empfindet er nicht, daß es aus Feindschaft geschieht. Eine solche innere Einstellung ist möglich, und zwar auch im Kleinen, in kleinen Schritten. Je mehr wir Liebe und Mitgefühl empfinden und in die Tat umsetzen, um so weniger spüren wir Feindschaft von anderen, und um so weniger haben wir das Gefühl, daß uns jemand etwas Schlechtes will. Wenn man hingegen das Gefühl hat, viele Menschen mögen mich nicht, handeln absichtlich schlecht mir gegenüber, dann ist das ein Zeichen, daß man selbst viel Feindschaft im Herzen hat.

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Kapitel 2, Vers 36

Deutsche Übersetzung:

Wenn Wahrhaftigkeit fest begründet ist, erlangt man die Frucht der Handlung, ohne zu handeln.

Sanskrit Text:

satya-pratiṣthāyaṁ kriyā-phala-āśrayatvam ||36||

सत्यप्रतिष्थायं क्रियाफलाश्रयत्वम् ॥३६॥

satya pratishthayam kriya phala ashrayatvam ||36||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • satya = Wahrhaftigkeit
  • pratiṣṭha = fest, beständig, stabil
  • kriyā = Handlung, Aussage
  • phalā = Frucht, Ergebnis, Resultat
  • āśrayat = Grundlage, Basis, Stütze

Kommentar

Mit anderen Worten, unsere Gedanken werden so stark, daß die Dinge allein durch unsere Gedanken geschehen.

Manche Menschen bauen ein riesiges Lügengeflecht um sich herum auf. Sie sagen etwas, denken etwas anderes und handeln nochmals anders. Dadurch entsteht eine große innere Spannung, man verzettelt sich, und der einzelne Gedanke ist sehr schwach.

Im Rahmen der kleshas hatten wir davon gesprochen, daß man ein bestimmtes Selbstbild von sich hat. Gleichzeitig denkt man, andere haben ein anderes Bild von einem, und als drittes will man außen ein anderes Selbstbild schaffen als man glaubt, daß die anderen von einem haben. Das führt zu Schwäche. Zu sich selbst zu stehen, sich selbst besser kennenzulernen, authentisch zu sein, gibt Stärke und Kraft. Das ist sogar in der Welt der Politik möglich. Von Bismarck heißt es, er habe offen und klar gesagt, was er wollte. Das hat ihm niemand geglaubt, denn es war in dieser Diplomatenwelt unvorstellbar und außergewöhnlich, daß jemand direkt ist – deshalb war er so erfolgreich.

Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Wenn wir gewöhnt sind, uns immer an die Wahrheit zu halten und dann einmal versehentlich die Unwahrheit sagen, ist unser Geist so stark, daß diese Unwahrheit eintritt.

In der indischen Mythologie gibt es darüber sehr schöne Geschichten, wie etwa die von König Parikshit und dem Sohn des Weisen, der gewöhnt war, sein Leben lang nur die Wahrheit zu sagen und dessen Gedanken daher so stark waren, daß jedes Wort sich erfüllen mußte. Weil der König unfreundlich seinem Vater gegenüber gewesen war, verfluchte er den König und sagte: „Dieser König wird in sieben Tagen an einem Schlangenbiß sterben.“ Der König ließ sich nun unter Beachtung aller möglichen Sicherheitsvorkehrungen ein neues Haus auf Pfählen bauen. Als er am siebten Tag hinaufstieg und ihm Essen gereicht wurde, war in einer Frucht eine Schlange, die ihn biß, und er starb daran.

Wenn wir wahrhaftig sind, bekommen unsere Gedanken eine sehr starke Kraft, und unsere Worte auch. In Arabien gibt es ein Sprichwort: „Bevor du etwas sagst, überprüfe erstens, ob es wahr ist, zweitens, ob es freundlich ist, und drittens, ob es notwendig ist. Und nur dann, wenn es wahr, hilfreich und notwendig ist, dann sage etwas.“ Man sollten keine Unwahrheit sagen, aber auch keine Wahrheit, die andere kränkt. Man sollte überflüssiges Geschwätz vermeiden, ohne deshalb gleich zum Einsiedler zu werden.

Satya, Wahrhaftigkeit, soll also gemildert sein durch ahimsa, Nichtverletzen. Wenn verschiedene ethische Prinzipien miteinander in Konflikt stehen, heißt es immer: ahimsa parama dharma – Nichtverletzen ist die höchste Pflicht. Aber Nichtverletzen ist relativ. Eine Mutter muß beispielsweise ihrem Kind auch ab und zu mal etwas verbieten, es erziehen. Für das Kind ist es verletzend, wenn es einen Abend Fernsehverbot bekommt, keinen Nachtisch, oder sonst eine „Strafe“, aber zum Wohl des Kindes kann es notwendig sein, so vorzugehen. Manchmal muß zum Wohl eines langfristigen ahimsa (Nichtverletzen) ein kurzfristiges himsa (Verletzen) in Kauf genommen werden.

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Kapitel 2, Vers 37

Deutsche Übersetzung:

Ist Nichtstehlen fest begründet, kommen alle Kostbarkeiten wie von selbst.

Sanskrit Text:

asteya-pratiṣṭhāyāṁ sarvaratn-opasthānam ||37||

अस्तेयप्रतिष्ठायां सर्वरत्नोपस्थानम् ॥३७॥

asteya pratishthayam sarvaratn opasthanam ||37||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • asteya = nicht stehlen
  • pratiṣtḥā = fest, beständig, stabil
  • sarva = alles
  • ratna = Juwel, Edelstein
  • upa = nahe
  • sthānam = Platz
  • upasthāna = vorhanden sein

Kommentar

Solange wir anderen etwas wegnehmen, sind wir Bettler. In dem Moment, wo wir nichts mehr stehlen, auch nicht mehr unbedingt etwas haben wollen, bekommen wir alles, was wir brauchen. Das ist auch das Gesetz der Entsagung. Es gibt zwar auf einer Ebene im Yoga die vier Wünsche – kama (Sinnesbefriedigung), artha (Wohlstand), dharma (Pflichterfüllung, Selbstentfaltung) und moksha (Befreiung) –, die der Mensch im Laufe seines Lebens hat und auch befriedigen soll. Auf dieser Ebene soll man sich durchaus auch darum kümmern, die Menge an Geld, finanzieller Absicherung, äußerer Sicherheit u.s.w. zu bekommen, die man braucht, um den Geist frei zu haben für Spiritualität. Aber je mehr wir unsere Wünsche reduzieren, je weniger Gier wir haben, je mehr wir entsagen, desto mehr kommt alles, was wir brauchen, hinter uns hergerannt. Und solange wir Dinge wegnehmen, die uns nicht gehören, schaffen wir natürlich auch negatives karma, so daß uns ebenfalls gewisse Sachen weggenommen werden – auf der materiellen oder emotionalen Ebene. Hier müssen wir sehr aufpassen.

Asteya, Nichtstehlen, ist zum einen sehr wörtlich zu nehmen, also z.B. nichts aus Kaufhäusern mitnehmen. Der Begriff ist aber weitaus umfassender. Wenn man zum Beispiel feststellt, der Nachtisch reicht nur für zwanzig Personen und man ist der Fünfzehnte in der Reihe, dann heißt asteya, sich nur eine kleine Portion zu nehmen, wenn hinter einem noch fünf Leute warten. Oder nicht aus dem Kühlschrank das letzte Stück von etwas wegzunehmen, das andere gerne haben. Nichtstehlen bedeutet auch, sich nicht mit fremden Federn zu schmücken, sich nicht geistiges Eigentum von anderen anzueignen.

Wenn wir darin fest verankert sind, stehlen wir nicht nur nicht, sondern im Gegenteil, wir teilen mit anderen. Alle diese yamas (ethisch-moralische Regeln) sind nämlich nicht nur passiv als Verneinung zu verstehen, wie zum Beispiel Nichtstehlen, sondern in logischer Folge auch im aktiven Sinn als Teilen, Geben. Je mehr wir anderen geben, um so mehr bekommen wir. Das ist das lakshmi-Prinzip.

Lakshmi (Göttin des Wohlstands und der Schönheit) hat zwei nach oben geöffnete Hände und zwei Hände nach unten. Die zwei Hände nach unten symbolisieren: sie gibt, gibt und gibt. Und zwei Hände nach oben: sie empfängt, empfängt und empfängt von der Kosmischen Kraft. Je mehr wir geben, tun für andere, um so mehr bekommen wir. Wie auch Swami Vishnu gerne gesagt hat: Die beste, sicherste Investition sind Spenden und gute Werke. Beides bekommen wir karmisch wieder zurück. Alles andere verlieren wir, zum großen Teil schon in diesem Leben – es gab genügend Wirtschaftskrisen und Börsencrashs –, aber spätestens im Moment des Todes. Aber wenn wir geben, bekommen wir alles, was wir brauchen.

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Kapitel 2, Vers 38

Deutsche Übersetzung:

Ist Brahmacharya (Enthaltsamkeit) fest begründet, erlangt man große Lebenskraft.

Sanskrit Text:

brahma-carya pratiṣṭhāyāṁ vīrya-lābhaḥ ||38||

ब्रह्मचर्य प्रतिष्ठायां वीर्यलाभः ॥३८॥

brahma charya pratishthayam virya labhah ||38||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • brahma = Gott, der Absolute
  • carya = wandeln, gehen
  • brahmacarya = das Wandeln im Bewusstsein des Absoluten, Mönch-Sein, damit verbunden oft auch: das Zölibat leben
  • pratiṣṭhā = fest, beständig, stabil
  • vīrya = Lebenskraft, Vitalität, Stärke, Kraft
  • lābha = erlangen, erreichen

Kommentar

Die beste Übersetzung von brahmacharya ist vielleicht „Vermeidung von sexuellem Fehlverhalten“. Brahmacharya bedeutet in verschiedenen Lebensumständen und auch in verschiedenen Kulturen jeweils etwas anderes. Für einen Entsagten heißt brahmacharya vollständige sexuelle Enthaltsamkeit. Wenn man in einer festen Partnerschaft lebt, heißt es hauptsächlich Treue. Wenn ein Partner enthaltsam leben will, wird der andere das nicht mögen. Daher muß man auch das Prinzip von ahimsa berücksichtigen. Manchmal hat man aber auch die Gelegenheit, die sexuelle Energie stärker zu sublimieren, zum Beispiel, wenn man aus beruflichen Gründen einmal eine Weile vom Partner getrennt ist, oder die Frau gerade schwanger ist, oder das Kind gerade geboren worden ist. Meistens hat eine Frau dann eine Weile keine Lust auf Sexualität. Oder jemand hat sich vom Partner getrennt. Dies sind alles besondere Gelegenheiten, die sexuelle Energie vollständiger zu sublimieren, das heißt, zu verfeinern, in geistige Energie umzuwandeln, ojas (spirituelle Energie) zu erzeugen.

Es gibt fünf verschiedene Manifestationen von prana, fünf vayus, die alle auf die eine oder andere Art und Weise sublimiert werden können:

Prana ist allgemein der Begriff für Lebensenergie, gleichzeitig ist prana vayu aber auch eine der fünf Arten von prana. Prana vayu ist die Energie hinter der Atmung. Prana vayu können wir zum Beispiel sublimieren, wenn wir pranayama üben. Beim Luftanhalten wird der Reflex des Ausatmens nicht befolgt und statt dessen sublimiert. Hinter dem Atem ist der Überlebensinstinkt. Wenn wir prana vayu durch Atemanhalten sublimieren, wandeln wir das physiologische prana in ojas, spirituelle Energie, um, und auf einer höheren Ebene sublimieren wir den Überlebensinstinkt; das heißt, wir haben ein Herz für andere, nicht nur für uns. Gleichzeitig regeneriert sich prana vayu mit jedem Atemzug und wird harmonisiert.

Die zweite Energieform ist apana vayu, die Energie hinter Ausscheidung, Sexualität, Menstruation und Geburt. Sie hat ihren Sitz in den unteren Körperteilen und wird sublimiert durch mulabandha (Anusschließmuskeln und Geschlechtsmuskeln zusammenziehen), ashvini mudra (Beckenbodenmuskeln mehrmals schnell zusammenziehen) und Umkehrstellungen. Apana vayu steht auch für Arterhaltung, sich um Familie und Kinder kümmern. Durch Sublimierung dieser Energie gewinnen wir ebenfalls ojas, spirituelle Energie.

Die dritte Energieform ist samana vayu, die Energie hinter der Verdauung. Das Verdauungsfeuer wird angeregt und sublimiert durch uddiyana bandha (Bauchverschluß), agni sara (Feueratmung), nauli (Bauchmuskelbewegung zur Darmanregung) und kapalabhati (Schnellatmung) und steht gleichzeitig für Durchsetzungsvermögen, Mut, Handlung. Um diese Energie zu sublimieren, ist es gut, sich ab und zu eine nicht aktive Zeit zu gönnen, nichts verändern zu wollen, Dinge zu akzeptieren, loszulassen, das Feuer weniger zum Ausdruck zu bringen. Die so sublimierte Verdauungsenergie steht nachher auf beiden Ebenen wieder vermehrt zur Verfügung, sowohl für die Verdauung als auch für stärkeres Durchsetzungsvermögen und mehr Gleichmut. Wichtig ist auch eine ausgewogene, sattvige Ernährung in der richtigen Menge, sowie ab und zu zu fasten.

Die vierte Energieform ist vyana vayu, die Energie hinter dem Herzkreislauf und der Skelettmuskulatur, also der physischen Bewegung. Solange man wach ist, hat man den Impuls, sich zu bewegen. Wenn wir die asanas halten, ohne uns zu bewegen oder in der Meditation still sitzen, wird vyana vayu nicht gebraucht und als sublimierte Energie in den chakras (Energiezentren) aufgespeichert.

Und die fünfte Energieform ist udana vayu, die Energie hinter den verschiedenen Kommunikationssystemen des Körpers, wie Nerven, Hormonsystem, Sprache, innerkörperliche Koordination sowie Kommunikation mit anderen Menschen. Das Nervensystem regeneriert sich in der Tiefenentspannung. Dabei wird diese Energie sublimiert. Auch beim Mantra Singen und in der Meditation beruhigt sich das Nervensystem. Wenn wir freundlich mit und über andere Menschen sprechen, ab und zu schweigen, nicht zuviel Unnützes reden, sublimiert sich diese Kommunikationsenergie, die uns dann als spirituelle Energie zur Verfügung steht. Gleichzeitig verbessert sich die Kommunikation mit anderen Menschen, der Schlaf wird leichter und man braucht weniger Schlaf, weil udana vayu sehr harmonisch wird.

Zur Sublimierung von Energien trägt es ganz generell bei, wenn man sich nicht immer alle Wünsche erfüllt, nicht allen Impulsen sofort nachgibt. Trotzdem sollte man auch das nicht übertreiben, sondern es nur gelegentlich anwenden. Man wird sich dann insgesamt besser fühlen.

Sublimierung der Energie führt also zu virya, zu starker Vitalität.

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Kapitel 2, Vers 39

Deutsche Übersetzung:

Ist aparigraha (Unbestechlichkeit) fest begründet, versteht man den Sinn des Lebens.

Sanskrit Text:

aparigraha-sthairye janma-kathaṁtā saṁbodhaḥ ||39||

अपरिग्रहस्थैर्ये जन्मकथंता संबोधः ॥३९॥

aparigraha sthairye janma kathanta sanbodhah ||39||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • aparigraha = Unbestechlichkeit, nicht Annehmen von Geschenken, Anspruchslosigkeit
  • sthairya = Stabilität
  • janma = Geburt, Geburtenfolge, Inkarnation, Erden-Leben
  • kathaṁ = das Wie und Warum, Ziel
  • saṁbodha = Verständnis, Wissen

Kommentar

Aparigraha wird interpretiert als Nichtannehmen von Geschenken, Unbestechlichkeit, Aufgabe von Gewinnsucht, Nichthorten von Dingen. Geschenke, die aus Liebe gegeben werden, können wir natürlich annehmen, nur dann nicht, wenn wir damit manipuliert werden sollen. Geschenke aus Liebe öffnen das Herz. Liebe muß sich ja auch ausdrücken. Es reicht nicht allein aus, Liebe im Herzen zu haben. Man muß diese Liebe auch zeigen. Wenn man verreist war und wieder nach Hause kommt, bringt man seinem Kind oder seiner Familie und Freunden vielleicht kleine Geschenke mit, und sie freuen sich darüber. Oder man erhält ein selbstgebasteltes Geschenk von seinem Kind. Solche Geschenke helfen, das Herz zu öffnen.

Man sollte bei einem Geschenk nicht das Gefühl haben, zu etwas verpflichtet zu sein. Gleichzeitig sollte man aber auch die Gefühle anderer nicht verletzen, indem man ein gutgemeintes Geschenk ablehnt. Man muß abwägen. Wenn man das Gefühl hat, man soll mit einem Geschenk gekauft werden, es steht eine Absicht dahinter, dann soll man es ablehnen. Viele Menschen werden bestochen durch Geschenke. Man soll sich nicht kaufen lassen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Bestechlichkeit ist der Untergang jeder Wirtschaft und jedes politischen Systems. Auch als spirituelle Aspiranten dürfen wir uns nicht bestechen lassen, sonst verlieren wir unsere Freiheit. Wenn man nach dem Prinzip handelt, eine Hand wäscht die andere, dann kann man nicht mehr danach handeln, was richtig und falsch ist, und der Geist wird verwirrt. Im weiteren Sinne verliert man die Unterscheidungskraft zwischen dem, was richtig und falsch ist und damit für den Sinn des Lebens.

Neben keine Geschenke annehmen bedeutet aparigraha als zweites Abwesenheit von Gewinnsucht, also nicht so viel haben zu wollen, und als drittes Nichthorten.

Für verschiedene Menschen und verschiedene Umstände heißt „Nichthorten“ jeweils etwas anderes. Eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit kann durchaus hilfreich sein. Man braucht sich keine Sorgen zu machen, dadurch wird der Geist ruhig und man kann anderen helfen. Deshalb rate ich Aspiranten ab, all ihre Ersparnisse zu spenden. Eine gewisse Sicherheit beruhigt und ist gut. Gleichzeitig sollte man aber auch nicht zu viel haben. Wenn man viel hat oder bekommt, zum Beispiel durch eine Erbschaft, sollte man einen Teil davon auch anderen geben, statt immer mehr anzuhäufen oder zu überlegen, wie kriege ich noch mehr Gewinn heraus.

Jesus hat diesbezüglich eine etwas radikalere Lehre verkündet: „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel“ oder „Man soll nicht für das Morgen sorgen, der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Und seinen Schülern hat er gesagt: „Wer mir nachfolgen will, der folge mir jetzt nach.“ Aber das galt auch wieder nur für seine zwölf engsten Schüler, eben die, die ein Leben der Entsagung führen wollten.

Das Prinzip der Besitzlosigkeit gibt es zwar auch im Yoga für swamis, also Mönche/Nonnen, die das Gelübde der Entsagung ablegen. Für die Mehrheit der Menschen ist eine gewisse finanzielle Absicherung aber durchaus hilfreich.

Wenn man sich an aprigraha hält, weiß man, was seine Aufgabe im Leben ist.

Wenn man sich bestechen, kaufen läßt, kann man nicht das tun, was man für richtig hält, und irgendwann weiß man es auch nicht mehr.

Wenn man nur immer mehr haben will, dann weiß man auch nicht mehr, was seine Pflicht, seine Aufgabe, ist.

Wenn man immer mehr hortet, muß man sich um seinen Besitz kümmern, ihn pflegen, verwalten, dafür sorgen, daß er sich vermehrt, einem nicht entgeht. Auch das verhindert, daß man erkennt, was seine Pflicht ist. Wenn man immerzu mehr Geld haben will, dann tut man andere Sachen nicht, die man eigentlich tun sollte.

Umgekehrt, wenn wir alle diese drei Aspekte von aparigraha beachten, erlangen wir das Verständnis für den Sinn der Geburt, dafür, was unsere Aufgabe ist.

Patanjali sagt, wenn man sich nicht an die yamas hält, wird man auch nicht glücklich. Man wird dann glücklich, wenn man seine Aufgabe findet und tut. Wer dagegen hauptsächlich nach Gewinn und Geld strebt, ist meist oberflächlich und relativ unglücklich.

Die yamas beziehen sich auf den Umgang mit anderen. Im Umgang mit anderen wollen wir ahimsa üben, sie nicht verletzen und ihnen Liebe schenken. Dann wollen wir sie nicht anlügen, satya, Wahrhaftigkeit. Wir wollen ihnen gegenüber asteya üben, das heißt, ihnen nichts wegnehmen, sondern im Gegenteil teilen, was wir haben. Wir wollen sie nicht ausnutzen, im Partner nicht nur das Sexualobjekt oder nicht in jedem Menschen einen potentiellen Sexualpartner sehen, sondern im anderen das Göttliche sehen. Das ist brahmacharya. Wir wollen uns nicht von anderen bestechen lassen und kein Geld horten, aparigraha. – Hohe Ideale, aber durchaus praktikabel.

Nun folgen als zweiter Schritt die niyamas, die für unser Privatleben gedacht sind, eine bestimmte Lebenseinstellung. Wir üben shaucha, Reinheit und santosha, Zufriedenheit. Wir üben tapas, das hier im engeren Sinne als Askeseübung zu verstehen ist. Im Rahmen des kriya yoga kann man tapas weiter definieren, aber im Zusammenhang mit den niyamas bedeutet es Askese. Wir üben swadhyaya, Selbststudium im Sinne von Studium der Schriften und Studium von sich selbst, Innenschau. Und wir üben ishvara pranidhana, Hingabe an Gott, Gottesverehrung.

Nun schauen wir, was Patanjali zu den einzelnen niyamas sagt und welche Konsequenzen ihre Einhaltung hat.

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Kapitel 2, Vers 40

Deutsche Übersetzung:

Durch die Reinigung entsteht Ekel gegenüber dem eigenen Körper und eine Abneigung gegenüber physischem Kontakt mit anderen.

Sanskrit Text:

śaucāt svāṅga-jugupsā parairasaṁsargaḥ ||40||

शौचात् स्वाङ्गजुगुप्सा परैरसंसर्गः ॥४०॥

shauchat svanga jugupsa parairasansargah ||40||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śauca = Reinheit, Reinigung, Reinlichkeit, Hygiene
  • svā = eigen
  • aṅga = Körper, Glieder
  • svāṅga = die eigenen Teile, der eigene Körper
  • jugupsā = Abscheu, Abstand, Abwendung
  • parai = mit anderen, von anderen, von äußerlichem
  • asaṁsarga = kein Kontakt, Kontaktlosigkeit, Unberührtheit

Kommentar

Diesen Vers mögen die wenigsten. In manchen Übersetzungen des Yoga Sutras werden die Verse sogar abgewandelt, damit westliche Menschen keinen Anstoß daran nehmen. Aber Patanjali hat es tatsächlich so geschrieben, ich kann es nicht ändern…

Wir müssen jetzt aber verstehen, wie das Wort Ekel hier gemeint ist. Das heißt nicht, daß es uns wirklich anekelt, sondern es bedeutet, daß die Fähigkeit entsteht, nicht mehr so sehr an den menschlichen Körper verhaftet zu sein. Wenn wir den Körper so rein wie möglich zu machen versuchen, wird die Bindung an den Körper schwächer. Wir spüren: Ich bin nicht der Körper. Das führt auch dazu, daß wir im anderen Menschen weniger den Körper, die äußere Erscheinungsform sehen, sondern vielmehr seine innere Qualität, seine Göttlichkeit. Letztlich ist shaucha, Reinheit, eine Hilfe, sich vom Physischen zu lösen. Manche Menschen interpretieren Nichtanhaften etwas falsch: Ich kümmere mich nicht um den physischen Körper, deshalb lasse ich meine Haare wachsen und verfilzen, wasche mich nicht, putze mir die Zähne nicht u.s.w.

Aber Patanjali sagt, nicht Vernachlässigung und Verschmutzung sind ein Zeichen für das Nicht-Verhaftetsein an den Körper, sondern wenn wir uns um Sauberkeit bemühen, hilft uns das, uns von der Anhaftung an den Körper zu befreien. Denn Verschmutzung, Unreinheit, bindet. Reinheit befreit.

Das ist die abgemilderte Bedeutung dieses Yoga Sutra. Swami Vishnu hat sie in ähnlicher Form interpretiert. Aber er hat auch gesagt, ab einer gewissen Stufe der spirituellen Entwicklung, wenn die Reinheit sehr stark ist, hat man keine Lust mehr, mit anderen auf physische Weise in Kontakt zu kommen. Jedoch sollte man hier aufpassen. Wenn man mit einem Partner zusammenlebt, gibt es Phasen, wo man weniger Lust auf sexuelle Kontakte hat – zum Beispiel bei Frauen während der Periode, nach der Schwangerschaft, in den Wechseljahren, in Streß-Situationen oder bei bestimmten hormonellen Umstellungen. Aber das sind vorübergehende Schwankungen, die nicht wirklich aus shaucha und einer wahrhaftigen vairagya (Leidenschaftslosigkeit) kommen. Man sollte dann den Partner nicht vor den Kopf stoßen, indem man ihm sagt, daß man ab jetzt nicht mehr in physischen Kontakt mit ihm/ihr treten will. Besser ist, das Zurückgehen der Libido zunächst als vorübergehende Angelegenheit zu betrachten, als was es sich ja meistens herausstellt.

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