Das ist eine faszinierende Begründung von Ethik. Patanjali sagt nicht, Gott erwartet, daß du dich an die moralisch-ethischen Regeln hältst, und wenn du dich nicht daran hältst, kommst du in die Hölle. Er hat vorher über karma gesprochen und gesagt, wenn wir etwas lasterhaft tun, führt es zu Leid. Aber hier sagt er noch direkter: Wenn wir ein unethisches Leben führen, führt das zu Schmerz und Unwissenheit.
In den siebziger und achtziger Jahren ist das Wort „Tugend“ etwas außer Mode gekommen. Im Zuge der psychologischen Revolution sind auch ethische Vorschriften mehr oder weniger über Bord geworfen worden. Wenn ich Mitte der neunziger Jahre das Wort Tugend in den Mund genommen habe, haben mich alle komisch angeguckt. Jetzt wird wieder über Tugenden gesprochen, und das ist etwas Positives. Denn inzwischen weiß man: Man braucht sie. Und es ist nicht so, daß der Ehrliche wirklich der Dumme ist. Der Ehrliche ist der Fröhliche und der Freudige. Der Unehrliche ist der Traurige, Unglückliche.
Bevor ich mich mit Yoga beschäftigt habe, hatte ich ein anderes Hobby, nämlich Geschichte. Damals habe ich mich unter anderem auch mit großen Feldherren und Eroberern beschäftigt, und bei ihren Biographien ist mir aufgefallen, daß sie eigentlich immer todunglücklich waren. Sie mögen ein Riesenreich aufgebaut haben – wenn sie als Tyrannen geherrscht haben, waren sie nicht glücklich. Es gab manche, die nach einer Weile ihre Wege geändert haben, wie zum Beispiel Ashoka, der große Kaiser Indiens, der um 250 v. Chr. ganz Indien geeint hat. Er war ein großer Feldherr, besiegte ein großes Reich, wobei Zehntausende von Soldaten umgebracht wurden, und anschließend haben seine Soldaten gebrandschatzt. Daraufhin hat er Gewissensbisse bekommen und sich gewandelt. Er wurde Buddhist und brachte als friedvoller König das Land zum Blühen. Und er war zum Schluß sehr glücklich. Er gilt bis heute in Indien als einer der idealen Herrscher. Aber diejenigen, die nur über Leichen gehen, werden unglücklich.
Und wir selbst werden auch unglücklich, wenn wir uns nicht an Ethik halten. Patanjali hat schon einige Ursachen für Leiden aufgezählt. Erstens, Handeln aus den kleshas heraus führt zum Leiden, zu karma und zu Unwissenheit. Zweitens, schlechtes karma führt zu Leiden. Jetzt sagt er, unethisches Verhalten führt direkt zu Leiden.
Wenn du dich mal nicht wohlfühlst, überlege: Habe ich heute jemanden bewußt oder unbewußt verletzt, durch Unachtsamkeit, oder weil ich ihm eins auswischen wollte? Wenn man eine Weile Yoga praktiziert, wird man sensibler und tut sich selbst weh, wenn man einen anderen Menschen auf irgendeine Art und Weise verletzt, besonders, wenn dies aus egoistischen Gründen geschieht. Natürlich muß man sich manchmal auch durchsetzen, zum Wohl einer Sache auch einmal jemanden zurechtweisen. Im Extremfall mag es sogar sein, wenn man in einer Situation ist wie Arjuna in der Bhagavad Gita oder die Soldaten im Kosovo, daß es notwendig wird, zu Gewalt zu greifen. Dabei ist immer abzuwägen, ob es wirklich notwendig ist und ob es keinen anderen Weg gibt. Aber jede Form von Nichteinhalten von ahimsa spürt ein spiritueller Aspirant in seinem eigenen Herzen. Notfalls muß man das in Kauf nehmen. Aber im Normalfall machen uns der Yogaweg und das Einhalten der yamas und niyamas glücklich und freudevoll, indem wir anderen Gutes tun, Gutes wünschen, für andere leben. Und langfristig gibt es uns auch alles, was wir brauchen – auch Erfolg. Wenn jemand einen sehr starken inneren Ehrgeiz hat, den er nicht loswerden kann, dann muß er dafür sorgen, daß er auf ethische Weise im Beruf Erfolg hat. Das ist die sattvigste Art und Weise, Ehrgeiz zu befriedigen.
Es macht wenig Unterschied, ob wir eine Verletzung der yamas und niyamas selbst begehen oder nur begünstigen und zulassen. Wenn neben uns ein Mensch gequält wird und wir unternehmen nichts dagegen, ist es himsa (Verletzen), und wir haben Anteil daran. Unrecht geschehen zu lassen ist auch eine Form von himsa und macht uns letztlich unglücklich.
Die häufigsten Motive, unethisch zu handeln, sind Gier, Ärger und Täuschung.
Jemand will mehr Geld oder den Posten eines anderen haben, also wird er gewalttätig, lügt, stiehlt, läßt sich bestechen, besticht jemand anderen u.s.w. Gier ist sicherlich einer der verwerflichsten Gründe.
Auch aus Ärger macht der Mensch alles Mögliche. Ärger ist eine Ursache für negative Gedanken, Emotionen und Gefühle. In der Bhagavad Gita sagt Krishna sinngemäß: Zuerst kommt der Wunsch. Der Wunsch führt zu Ärger. Aus Ärger kommen Täuschung, Verblendung und Vergessen, und dann tut der Mensch Dinge, die er normalerweise niemals tun würde.
Es gibt sinnlosen Ärger, aber auch gerechten Zorn. Das erlebe ich oft unter spirituellen Aspiranten. Sie nehmen oft in Kauf, einen anderen zu verletzen, nicht aus Gier oder reinem Ärger, sondern aus Gerechtigkeitsdenken heraus. Wenn wir etwas als ungerecht empfinden, sind wir oftmals bereit, viel zu tun. Wenn wir etwas für richtig halten, trampeln wir auch über die Gefühle von anderen Menschen rücksichtslos weg. Das ist eine große Gefahr.
Und schließlich Täuschung. Selbst wenn wir etwas nur aus Täuschung oder Verblendung tun, führt uns das zu Unwissenheit und Schmerz. Es gehört sehr viel Sensibilität dazu, überhaupt zu merken, wann wir jemand anderem wehtun. Und noch mehr Selbstdisziplin erfordert es, einem anderen selbst dann nicht wehzutun, wenn er uns wehtut. Und vor allen Dingen wollen wir nicht das Radfahrerprinzip anwenden, also nicht unseren Frust an einem anderem Menschen auslassen, wenn uns jemand nervt, gegen den wir uns nicht zur Wehr zu setzen trauen. Solche Handlungsmuster können unbewußt ablaufen oder aus Täuschung heraus. Man merkt es gar nicht. Wir brauchen also eine gewisse Sensibilität.
Wir kommen zu Leid und Unwissenheit, wenn wir den ethischen Grundsätzen entgegenhandeln. Ob wir nur leicht dagegen verstoßen, mittelmäßig oder vehement, letztlich läßt Patanjali keine Ausreden und Entschuldigungen gelten.
Die Schwierigkeit mit all diesen hehren, hohen Grundsätzen ist, daß man sie nicht immer ganz in die Tat umsetzen kann, weil wir eben noch nicht selbstverwirklicht sind. Wir sind noch nicht vollkommen. Aber wir bemühen uns. Und man darf sich auch kein schlechtes Gewissen machen, wenn einem die Umsetzung nicht immer perfekt gelingt.
Hehre Ideale sind in voller Radikalität nicht immer zu verwirklichen, weil wir Emotionen haben, durchaus auch Täuschungen unterliegen oder manchmal nicht die Kraft haben, selbst etwas zu ändern. Manchmal stehen die Ideale auch miteinander im Konflikt, wie zum Beispiel oft im Fall von Nichtverletzen und Wahrhaftigkeit.
Die nächsten Verse sind wunderschöne Erklärungen, was passiert, wenn man die betreffende positive Eigenschaft entwickelt, wohin es führt, wenn wir wirklich voll darin verankert sind. Das sind durchaus siddhis (übernatürliche Kräfte), die sich da manifestieren.