Kapitel 2, Vers 11

Deutsche Übersetzung:

Die aktiven Formen (der schmerztragenden Leiden) können durch Meditation vermieden werden.

Sanskrit Text:

dhyāna heyāḥ tad-vṛttayaḥ ||11||

ध्यान हेयाः तद्वृत्तयः ॥११॥

dhyana heyah tad vrittayah ||11||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dhyāna = Meditation, Versenkung
  • heyaḥ = zu Vermeidendes, zu Überwindendes
  • tat = deren, dessen, diese
  • vṛtti = Wellen, Gedankenwellen, Trübungen des Chitta

Kommentar

Die besonders starken vrittis (Gedankenwellen) können vermieden werden, indem wir regelmäßig meditieren. Meditation hilft uns, weniger tief ins Leiden hineinzugehen.

Es gibt interessante wissenschaftliche Untersuchungen, die ergeben haben, daß Menschen, die meditieren, glücklicher, erfolgreicher, ausgeglichener, gesünder sind als Menschen, die nicht meditieren. Wenn jemand drei bis fünf Jahre meditiert hat, geht es ihm ein gutes Stück besser als vorher. Auch die Wahrscheinlichkeit, in der Psychiatrie zu landen, ist interessanterweise bei Menschen, die regelmäßig meditieren, erheblich geringer. Das widerspricht einigen psychologischen Lehrbüchern, in denen es heißt, Meditation könne zwar hilfreich sein, aber man müsse vorsichtig sein damit, um nicht ein Fall für die Psychiatrie zu werden. Oder man dürfe keinesfalls allein meditieren, sondern nur mit einem guten Lehrer. Es ist sicher nützlich, die Meditation unter Anleitung zu lernen. Aber nachher muß man schon regelmäßig allein weiter meditieren, um dauerhaften Erfolg zu haben. Das Meditieren scheint insgesamt eine harmonisierende Wirkung auf die Psyche zu haben. Durch regelmäßige Meditation kann man die aktiven Auswirkungen der kleshas vermeiden.

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Kapitel 2, Vers 12

Deutsche Übersetzung:

Karma hat seine Wurzeln in den kleshas (schmerzverursachende Anhaftungen) und wird in diesem und in zukünftigen Leben ausgearbeitet.

Sanskrit Text:

kleśa-mūlaḥ karma-aśayo dṛṣṭa-adṛṣṭa-janma-vedanīyaḥ ||12||

क्लेशमूलः कर्माशयो दृष्टादृष्टजन्मवेदनीयः ॥१२॥

klesha mulah karma ashayo drishta adrishta janma vedaniyah ||12||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kleśa = Bürden auf dem spirituellen Weg
  • mūla = Wurzel, Ursache, Grundlage
  • karma = Handlung und Folgen
  • aśaya = Überbleibsel, Neigungen
  • dṛṣṭa = sichtbar, gegenwärtig
  • adṛṣṭa = unsichtbar, zukünftig
  • janma = Leben, Welt, Bereich
  • vedanīya = erfahren, bemerken

Kommentar

Die kleshas sind die Ursache (mûlah) des karmas. Das Gesetz des karma besagt, daß wir für jede Handlung, mit der wir uns identifizieren, Früchte ernten. Und solange wir noch viel karma abzuarbeiten haben, erreichen wir nicht kaivalya, die Befreiung. Solange wir also aus den kleshas heraus handeln, schaffen wir karma. Wenn wir handeln, weil wir etwas Konkretes für uns selbst wollen (raga), schaffen wir karma. Wenn wir handeln, um etwas Konkretes zu vermeiden, das uns unangenehm ist (dvesha), schaffen wir karma. Wenn wir aus Angst handeln (abhinivesha), schaffen wir karma. Wenn wir uns identifizieren (asmita), während wir handeln, schaffen wir karma. Und solange wir nicht wirklich wissen, wer wir sind (avidya), schaffen wir auch karma. Nur wenn wir uns nicht identifizieren, schaffen wir kein karma.

Je nachdem, wie stark die kleshas sind, wirkt das karma stärker oder schwächer. Eigentlich kann nur ein Selbstverwirklichter kein karma neu schaffen. Jeder andere hat beim Handeln immer eine Spur von Ego dabei – fast immer. Eine vollkommen ego-lose Handlung ist erst dem Selbstverwirklichten möglich.

Aber wir können uns bemühen, weniger ego-behaftet zu handeln. Wir können unserem Mögen und Nichtmögen weniger nachgeben. Wir können weniger in der Vorstellung handeln, ich bin großartig, ich mache all das. Wir können mehr Handlungen tun, einfach weil sie notwendig sind. Wir können versuchen zu handeln, um Gott zu dienen. Wir versuchen, zu handeln, um auf dem spirituellen Weg weiterzukommen. Wir handeln, um das karma auszuarbeiten. Am besten ist die Vorstellung, wir handeln, um ein Instrument Gottes zu sein oder um anderen zu helfen. Wenn wir diese Einstellung haben, dann handeln wir nicht aus raga oder dvesha heraus und brauchen auch keine Angst zu haben.

Und vor allen Dingen: Wenn wir wissen, ich bin nicht wirklich der Handelnde, sondern ich stelle diesen Körper und diesen Geist mit all ihren Unvollkommenheiten in den Dienst Gottes, ich stelle ihn Gott zur Verfügung und Gott kann die Unvollkommenheiten so benutzen, daß etwas Gutes für uns und alle dabei herauskommt, dann bindet uns die Handlung nicht.

Mephisto sagt im Faust, er sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Vers 1336 f). Mephisto steht ja für den Teufel, für das Schlechte. Und selbst das Schlechte ist letztlich ein Instrument in den Händen Gottes und hat seinen Sinn.

Gott hat uns mit all unseren Unvollkommenheiten in eine bestimmte Situation hineingesetzt, weil das von einer höheren Warte aus richtig ist. Wenn er in derselben Situation jemand anders gewollt hätte, der vollkommen ist, dann gäbe es an dieser Stelle jetzt jemanden, der vollkommener wäre als wir.

Wir wollen nicht aus den kleshas heraus handeln, sondern aus anderen Motiven. Das muß man sich wieder und wieder vor Augen führen. Das ist ganz wesentlich und, im Grunde genommen, auch ganz einfach. Man muß es nur immer wieder betonen, weil es dem Zeittrend so entgegensteht.

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Kapitel 2, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Solange die Wurzeln verbleiben, wird das karma in Form von verschiedenen sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen reifen.

Sanskrit Text:

sati mūle tad-vipāko jāty-āyur-bhogāḥ ||13||

सति मूले तद्विपाको जात्यायुर्भोगाः ॥१३॥

sati mule tad vipako jaty ayur bhogah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sati = da sein
  • mūla = Wurzel, Grund, Ursprung
  • tat = dessen, von ihm
  • vipāka = Frucht, Ergebnis, Reife, Gereiftes
  • jāti = Klasse, Kaste, soziale Schicht, Art, Qualität
  • āyu = Leben, Lebensspannen, Dauer
  • bhoga = Genuss, Glück, Vergnügen

Kommentar

Solange wir aus den kleshas heraus handeln, gibt es karma. Das karma führt zu den sozialen Situationen, Lebensspannen und Erfahrungen. Und wir haben uns das karma letztlich selbst geschaffen. Das werden wir gleich genauer behandeln.

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Kapitel 2, Vers 14

Deutsche Übersetzung:

Sie haben Vergnügen oder Schmerz als ihre Frucht, je nachdem, ob ihre Ursache Tugend oder Laster ist.

Sanskrit Text:

te hlāda paritāpa-phalāḥ puṇya-apuṇya-hetutvāt ||14||

ते ह्लाद परितापफलाः पुण्यापुण्यहेतुत्वात् ॥१४॥

te hlada paritapa phalah punya apunya hetutvat ||14||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • te = sie
  • hlāda = vergnüglich, genussvoll
  • paritāpa = schmerzhaft, leidvoll
  • phalāḥ = Frucht, Gereiftes, Reife
  • puṇya = erfolgreich, verdienstvoll
  • apuṇya = missglückt
  • hetutvāt = Ursache, verursacht durch

Kommentar

Wenn wir aus einer positiven Motivation heraus handeln, andern etwas Gutes tun wollen und uns dabei mit der Handlung identifizieren, uns toll fühlen, weil wir etwas so Großartiges gemacht haben, dann führt das zu Vergnügen.

Wenn wir handeln, um einem anderen Menschen zu schaden, eins auszuwischen: „Das lasse ich mir nicht gefallen, dem werde ich’s zeigen“, am besten hinten herum, damit es keiner merkt, um seine Existenz zu zerstören – erschießen werden wir ja hoffentlich in unserer Gesellschaft niemanden, aber jemanden schlecht zu machen oder zu versuchen, ihm das wegzunehmen, was ihm am liebsten ist, das ist durchaus verbreitet –, wenn also das die Motivation der Handlung ist, dann führt das in der Konsequenz zu Schmerz.

Es gibt positives und negatives karma. Das gilt aber nur für Nicht-Yogis. In IV 7 sagt Patanjali: „Für einen Yogi ist karma weder weiß noch schwarz, für andere ist es dreifach.“

Normalerweise gibt es gutes, schlechtes und gemischtes karma. Wenn man eine Million Euro in der Lotterie gewinnt, ist das gutes oder schlechtes karma? Üblicherweise hält man das für Glück. Wenn man tiefer blickt, kann es aber eher negativ sein. Eine Studie über Lottomillionäre hat herausgefunden, daß bei ihnen die Selbstmordquote besonders groß ist. Es gibt fast keine Bevölkerungsschicht mit einer so hohen Selbstmordrate. Als Grund wird angenommen, daß Lottomillionäre schlagartig aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen werden. Sie gestalten ihr Leben um, ihr Selbstbild ist nicht mehr das gleiche, sie können ihren Freunden nicht mehr trauen, vernachlässigen ihre bisherigen Freunde oder werden von ihnen verlassen, und schließlich fühlen sie sich vollkommen unglücklich. Ausnahmen sind insbesondere diejenigen, die einen großen Teil ihres Gewinns gespendet oder trotz des Gewinnes ihr Leben nicht in großem Stil verändert haben. Dieses Beispiel zeigt, daß das, was man positives karma nennen würde und was die Menschen millionenfach anstreben, eigentlich gar kein Glück ist.

Oder umgekehrt: Was ist normalerweise ein offensichtliches Unglück? Beispielsweise, wenn man nach Hause kommt und es wurde eingebrochen: Fernseher, Radio, Stereoanlage, Schmuck, alles materiell Wertvolle ist weg. Das erscheint als Unglück. Aber vielleicht ist es in Wirklichkeit ein Glück.

Für einen Yogi gibt es weder positives noch negatives karma. Er nimmt mit Gelassenheit alles an, was kommt, und versucht, etwas daraus zu lernen, daran zu wachsen.

Nun folgt ein Vers, den wir gar nicht gerne hören:

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Kapitel 2, Vers 15

Deutsche Übersetzung:

Menschen mit Unterscheidungskraft erkennen, daß wegen der Vergänglichkeit, neuen Wünschen und Konflikten zwischen den Eigenschaften der Natur und den Gedanken alles leidhaft ist.

Sanskrit Text:

pariṇāma tāpa saṁskāra duḥkhaiḥ guṇa-vṛtti-virodhācca duḥkham-eva sarvaṁ vivekinaḥ ||15||

परिणाम ताप संस्कार दुःखैः गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः ॥१५॥

parinama tapa sanskara duhkhaih guna vritti virodhachcha duhkham eva sarvam vivekinah ||15||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • pariṇāma = Anhaften an Veränderung, Wandel
  • tāpas = Sehnsucht, Verlangen
  • saṁskāra = Prägungen, Neigungen
  • duḥkha = Schmerz, Leid
  • guṇa = drei Grundeigenschaften der Materie, Natur
  • vṛtti = Welle, Gedankenwellen, Schleier, Vorurteil, Trübung
  • virodhā = Widerspruch, Konflikt
  • ca = und
  • duḥkha = Schmerz, Leid
  • eva = nur, eben
  • sarvaṁ = alles, überall, immer
  • vivekina = für den, der Unterscheidungskraft entwickelt hat, für den Unterscheidungsfähigen

Kommentar

Dieser Vers wird auch zusammengefaßt als

Sarvam Duhkham Vivekinah

Für einen Menschen mit Unterscheidungskraft (viveka) ist alles (sarvam) Leid (duhkha).

Das klingt sehr negativ, oder? Aber auch die erste der edlen Wahrheiten Buddhas ist: „Alles Leben ist Leiden.“

Patanjali sagt hier klar: Letztlich führt jede Handlung, die wir aus den kleshas heraus machen, zu Leiden. Das Wort karma hat im Sanskrit zwei Bedeutungen. Es heißt sowohl Handlung als auch Situation, das heißt, es umfaßt alles, was wir tun, und alles, was auf uns zukommt oder da ist. Und alles bringt Schmerz. Warum?

Wir haben schon vor oder bei der Wunscherfüllung eine Vorahnung des Verlustes. Wenn wir etwas bekommen, haben wir Angst, wir könnten es verlieren. Sobald wir etwas haben, kommt schon der nächste Wunsch und neue Unruhe. Aus der Beziehung zwischen dem Geist und den drei Eigenschaften der Natur (gunas) entstehen Konflikte.

Der Geist wird immer durch die drei gunas beeinflußt. Sogar ein Selbstverwirklichter hat ab und zu noch tamasige (träge, deprimiert) und rajasige (unruhig, aufgeregt) Gemütszustände, mit denen er sich allerdings nicht identifiziert. Sattva überwiegt bei ihm. Aber wir als Aspiranten befinden uns oft in tamasigen und rajasigen Geisteszuständen. Darüber hinaus gibt es Situationen, die nicht zu unserem Gemütszustand passen. Unser Geist und Gemüt befinden sich in ständiger Veränderung. Wenn wir das wissen, geben wir die Vorstellung auf, daß wir jemals die hundertprozentig ideale Situation finden werden und dann glücklich werden, wenn wir unsere äußere Situation ausreichend manipulieren.

Jede Situation führt dann zum Leiden, wenn wir nur das Äußere darin sehen und suchen. Umgekehrt gilt natürlich, wenn wir wissen, daß das Suchen nach Glück im Äußeren zum Leid führt, und deshalb nicht mehr mit einer solchen Besessenheit danach streben, können wir Leid vermeiden. Indem wir erkennen: Sarvam duhkham vivekinaha brauchen wir nicht mehr so zu leiden. Ist das nicht paradox? Ein Mensch, der dem Glück immer hinterherläuft, ist traurig und verzweifelt, weil er es nicht findet. Derjenige, der weiß, es gibt kein äußeres Glück, ist glücklich. Ein Teil unseres Geistes glaubt es vielleicht doch nicht so ganz, so daß wir trotzdem auch hinterherrennen, so quasi aus sportlichem Ehrgeiz; und wenn wir es nicht erreichen, sagen wir nur: „Siehst du, Patanjali hat doch Recht gehabt“.

Jetzt kommt ein sehr schöner Vers, einer meiner Lieblingsverse:

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Kapitel 2, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Künftiges Leid sollte vermieden werden.

Sanskrit Text:

heyaṁ duḥkham-anāgatam ||16||

हेयं दुःखमनागतम् ॥१६॥

heyam duhkham anagatam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • heya = zu vermeiden
  • duḥkha = Leid, Elend, Schmerz
  • anāgata = künftig, noch nicht eingetreten, Zukünftiges

Kommentar

Das klingt banal. Aber wie oft wissen wir ganz genau: Wenn ich so weitermache, führt das zu Leid. Und trotzdem können wir es nicht lassen. Diesen Vers kann man wie ein mantra oder einen Schlachtruf wiederholen: „Heyam duhkham anâgatam“. Wir müssen uns aufmerksam beobachten: Wo ist Leid dabei, sich zu manifestieren, und wo oder wie können wir es vermeiden, sowohl für uns selbst als auch für andere? Wenn wir dabei sind, eine Dummheit zu begehen, zu faul sind, etwas zu verändern, oder zu schüchtern, um Rat zu bitten, wenn wir nicht stark genug sind, einer Sucht zu widerstehen oder etwas Edles zu tun, dann wiederholen wir: „Heyam duhkham anâgatam“, „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“.

Das ist eine gute Ergänzung zu ishvara pranidhana, Loslassen, Vertrauen zu Gott, alles ist in Ordnung, wie es ist, und zu tapas, Askese, bewußt auch einmal Dinge tun, die der Geist nicht mag, um innere Stärke zu bekommen.

Patanjali hat vorher schon über karma und kleshas gesprochen. Im folgenden Vers macht er es noch klarer:

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Kapitel 2, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Die zu vermeidende Ursache (des Leidens) ist die Identifikation des Sehers mit dem Gesehenen.

Sanskrit Text:

draṣṭṛ-dṛśyayoḥ saṁyogo heyahetuḥ ||17||

द्रष्टृदृश्ययोः संयोगो हेयहेतुः ॥१७॥

drashtri drishyayoh sanyogo heyahetuh ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • draṣṭṛ = des Sehers, des Wahrnehmenden, das wahre Selbst, Drastu
  • dṛśyaḥ = das Gesehene, Erfahrene
  • saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Identifikation
  • heya = was vermieden werden soll
  • hetu = Ursache

Kommentar

Der Seher (drashtra) identifiziert sich mit dem Gesehenen (drishya). Was heißt das?

Wir sagen: „Das ist mein Körper, mein Hund, meine Katze, mein Ehemann, meine Kleider, mein Wunsch, meine Handlung, meine Klugheit, mein Verdienst, meine Fähigkeit …“. Diese Identifikation führt zu karma und zu Lektionen, die wir noch zu lernen haben.

Und wozu das Ganze?

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Kapitel 2, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Das Gesehene (das Universum), das aus den Eigenschaften der Natur, sattva, rajas und tamas besteht, wird erfahren durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Sinnesorganen. Es existiert zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung.

Sanskrit Text:

prakāśa-kriyā-sthiti-śīlaṁ bhūtendriya-ātmakaṁ bhoga-apavarga-arthaṁ dṛśyam ||18||

प्रकाशक्रियास्थितिशीलं भूतेन्द्रियात्मकं भोगापवर्गार्थं दृश्यम् ॥१८॥

prakasha kriya sthiti shilam bhutendriya atmakam bhoga apavarga artham drishyam ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • prakāśa = Leuchten, Reinheit, Licht, Sattva
  • kriyā = Handlung, Aktivität, Rajas
  • sthiti = Stetigkeit, Trägheit, Tamas
  • śīla = Eigenschaften
  • bhūta = fünf Elemente, grobstofflich, physisch
  • indriya = Sinnesorgane, Wahrnehmungsorgane, Sinne, feinstofflich
  • ātmakaṁ = derart, seiend
  • bhoga = Genuss, Vergnügen
  • apavarga = Befreiung, Erfüllung, Erlösung
  • arthaṁ = Zweck, Sinn, Ziel
  • dṛśyam = das Gesehene, das Wahrnehmbare, Objekte

Kommentar

Das stammt direkt aus der samkhya-Philosophie. Die samkhya-Philosophie und hier auch Patanjali gehen davon aus, daß es mindestens auf der relativen Ebene tatsächlich ein Universum gibt. Dieses Universum erfahren wir als Wechselwirkung zwischen unseren Sinnen und dem, was außen ist. Die vedanta-Philosophie geht ja noch weiter, und sagt: Es gibt es kein Universum, es gibt nur Bewußtsein. Die Vorstellung, es gäbe etwas vom Bewußtsein Getrenntes ist nur Illusion.

Wenn wir zum Beispiel eine Uhr anschauen, dann sehen wir die Uhr nicht so, wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie uns unsere Sinne vermitteln. Physiker würden sagen, sie ist einfach nur Schwingung; sie besteht aus Elektronen, Neutronen, Protonen, die eine bestimmte Schwingung ausstrahlen bzw. reflektieren, und dieses bestimmte Schwingungsspektrum wird vom Gehirn als Form und Farbe wahrgenommen – durchaus ähnlich der samkhya-Philosophie, wonach alles nur Energie, eine Manifestation von prakriti, ist. Die Sinne schaffen dann den Anschein, als ob es Klänge, Gerüche u.s.w., gäbe.

Dieses Universum hat nun – und das ist sehr wichtig – zwei Zwecke: Es dient der Erfahrung und der Befreiung. Die Dinge, die auf uns zukommen, sind deshalb da, damit wir sie erfahren können, und sie helfen uns, zur Befreiung zu gelangen. Man könnte es auch noch etwas pointieren. Alles, was auf uns zukommt, haben wir uns entweder so gewünscht, oder es kommt, um uns daran zu erinnern, wieder aus der Täuschung herauszukommen. Angenommen, wir gehen in einen Irrgarten hinein. Warum gehen wir in den Irrgarten hinein? Paradoxerweise nur aus dem einen Grund, wieder herauszukommen. Warum gehen wir dann überhaupt erst hinein? Denselben Hintergrund hat die Frage: „Warum hat purusha (das Bewußtsein) sich in die prakriti (die Welt) hineinbegeben?“ – Er wollte irgend etwas erfahren.

Purusha, das reine Selbst, identifiziert sich in die prakriti hinein, um etwas zu erfahren. Die Aufgabe der prakriti ist es, purusha alle Erfahrungen zu geben, die er haben will. Infolgedessen muß jeder Wunsch, den wir haben, irgendwann einmal in Erfüllung gehen. Glücklicherweise braucht sich nicht jede Wunscherfüllung im physischen Raum zu manifestieren. Manche Wünsche können im Traum ausgelebt werden. Es gibt sogar eine Wissenschaft darüber, wie man Erfahrungen und Wünsche aus dem physischen Leben in das Traumleben hineinbringen kann. So kann man Träume daran hindern, sich im physischen Leben zu manifestieren. Das ist unter anderem eine Technik, um Schuldgefühle, Ärger und andere negative Emotionen zu verarbeiten. Manche Wünsche können zwischen zwei Leben ausgelebt werden. Aber starke Wünsche müssen in diesem oder im nächsten Leben ausgelebt werden.

Purusha – und damit jeder einzelne von uns – hat aber auch eine Sicherheit eingebaut. Angenommen, du würdest in ein Labyrinth hineingehen, von dem du weißt, daß schon viele Menschen hineingegangen und nicht wieder herausgekommen sind. Sie sind dort elendiglich verhungert. Würdest du dich trotzdem hineinbegeben? Es gibt Abenteurernaturen, die das durchaus reizt. Aber wer klug ist, baut vor. Was macht man also? Man baut eine Sicherheit ein. Man nimmt vielleicht ein Wollknäuel mit wie Theseus bei Minotaurus oder ein Handy oder ein Funksprechgerät. Und so hat auch purusha, als er sich in prakriti verwickelt hat, etwas eingebaut, damit er sich nicht hoffnungslos verliert. Und so kommen bestimmte Ereignisse deshalb, damit wir wieder aufwachen.

Patanjali unterscheidet also drei Ursachen für Ereignisse, die uns zustoßen:

  1. Manche Ereignisse kommen, weil wir sie uns gewünscht haben, in diesem oder einem früheren Leben (II 14).
  2. Manche Ereignisse kommen, weil wir aus Tugend oder Laster heraus gehandelt haben. Die Handlung zieht karmisch Vergnügen oder Schmerz nach sich und manifestiert sich als bestimmtes Ereignis oder Situation.
  3. Bestimmte Ereignisse kommen, um uns helfen, wieder aufzuwachen und zur Befreiung zu kommen.

Bei Ereignissen können wir uns also immer überlegen:

  1. Habe ich mir das so gewünscht?
  2. Gab es in meinem Leben etwas, wo ich vielleicht ein karma erzeugt habe, wovon das die Frucht sein könnte? Wir können das natürlich nur begrenzt sehen, denn vieles kommt auch aus früheren Leben. Aber manchmal geht es mit dem karma und seinem Gesetz von Ursache und Wirkung auch ganz schnell. Wenn man jemandem hinterrücks etwas angetan hat oder jemandem einmal nicht beigestanden hat, der krank war oder Hilfe gebraucht hat, und ihm nur gesagt hat: „Stell dich nicht so an“, und dann selbst in eine ähnliche Situation kommt, dann weiß man, aha, das ist das karma dafür. Es hat natürlich keinen Zweck, sich nun im nachhinein Selbstvorwürfe zu machen oder Schuldgefühle zu entwickeln. Das karma hebt ja die frühere Erfahrung auf. Wir können im Gegenteil erleichtert sein, wenn wir auf diese Art das karma ausarbeiten können.
  3. Was kann ich aus der Situation lernen? Wie hilft mir diese Situation, mich zu befreien?

Diese prakriti, diese Welt, ist etwas so Fantastisches, daß sich alle drei Aspekte auch vermischen können. Wir können es uns gewünscht haben, es kann eine karmische Konsequenz sein, und es hilft uns gleichzeitig, uns zu befreien.

Hier möchte ich aber davor warnen, ständig überlegen: „Was will mir das sagen? Wozu ist diese Situation da? Was ist der Sinn in dieser Situation?“ Ich kannte einmal eine Frau, die einen schweren Unfall hatte und jahrelang gegrübelt hat, warum ihr dieser Unfall zugestoßen ist. Fünf Jahre später hat sie mir erzählt, sie verstünde immer noch nicht, warum sie diesen Unfall damals hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie bleibende Schäden davon habe. Sie sagte, nein, eigentlich sei alles wieder geheilt, aber es würde sie nicht loslassen. Sie war besessen von dem Gedanken, herausfinden zu müssen, warum sie diesen Unfall gehabt hat. Da habe ich ihr gesagt, vielleicht hast du den Unfall deshalb gehabt, damit du erkennst, daß man nicht hinter allem den Sinn sofort sieht. Irgendwie hat sie das beruhigt, und sie hat erkannt, daß ihre Aufgabe bezüglich dieses Unfalls ist, Demut zu üben und zu erkennen, daß wir manchmal auch Dinge akzeptieren müssen, ohne einen unmittelbaren Sinn darin zu sehen. Und etwa zwei Jahre später kam sie zu mir und hat gesagt, jetzt hätte sie doch den Sinn gefunden. In dem Moment, wo sie aufgehört habe, den Sinn zu suchen, seien ihr immer mehr Gründe klar geworden. Aber in der ganzen Zeit dazwischen, in der sie ständig die Ursache gesucht hat, hat sie das und viele andere Situationen in ihrem Leben nicht mehr bewußt gelebt und wahrgenommen. Es hat also zwar alles seinen Sinn, aber wir können ihn nicht immer in allem sehen. Erst wenn wir selbstverwirklicht sind, erkennen wir den Sinn hinter allem.

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Kapitel 2, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Die Zustände der drei gunas sind grob, fein, manifest und unmanifest.

Sanskrit Text:

viśeṣa-aviśeṣa-liṅga-mātra-aliṅgāni guṇaparvāṇi ||19||

विशेषाविशेषलिङ्गमात्रालिङ्गानि गुणपर्वाणि ॥१९॥

vishesha avishesha linga matra alingani gunaparvani ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viśeṣa = besonders, bestimmt, unterschiedlich
  • aviśeṣa = unspezifisch, unbestimmt, nicht unterscheidbar
  • liṅga = Symbol
  • mātra = wiedergebbar, ausdrückbar
  • liṅga-mātra = symbolhaft
  • aliṅga = ohne Symbol, jenseits von Symbolen
  • guṇa = die drei Grundeigenschaften der Materie, Natur
  • parvan = Entwicklungsstufen, Zustände, Schritt

Kapitel 2, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

Der Sehende ist Bewußtsein an sich und obwohl er rein ist, scheint er durch den Geist zu sehen.

Sanskrit Text:

draṣṭā dṛśimātraḥ śuddho-‚pi pratyaya-anupaśyaḥ ||20||

द्रष्टा दृशिमात्रः शुद्धोऽपि प्रत्ययानुपश्यः ॥२०॥

drashta drishimatrah shuddho ‚pi pratyaya anupashyah ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • draṣṭā = der Seher, der Wahrnehmende, das wahre Selbst, Drashtu
  • dṛśi = Sehen, das sehende Prinzip
  • mātraḥ = ausschließlich, nur
  • ṣuddha = unvergänglich, rein
  • api = obgleich, trotzdem
  • pratyaya = richtige Wahrnehmung
  • anupaśya = scheint zu sehen mit, das Sehen basiert auf

Kommentar

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