Kapitel 3, Vers 41

Deutsche Übersetzung:

Meisterung des samana führt zu strahlendem Feuer.

Sanskrit Text:

samāna-jayāj-jvalanam ||41||

समानजयाज्ज्वलनम् ॥४१॥

samana jayaj jvalanam ||41||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • samāna = eine der fünf prana-Energien (u.a. Verdauungsfeuer)
  • jayā = Meisterung
  • jvalana = Auflodern, brennen

Kommentar

Samana vayu ist das Verdauungsfeuer, die Energie hinter der Verdauung. Wer dieses meistert, kann zum einen alles verdauen und zum anderen auch Hitze ausstrahlen. Es gibt im Himalaya Yogis, die ganz nackt dort leben, auf Gletschern sitzen, sich mit ihrer Körperwärme Eis zu Wasser schmelzen und denen das gar nichts ausmacht. Nun, das ist nicht das Ziel des Yoga, aber wenn wir samana meistern, haben wir das nötige Feuer für alles.

Eine konkrete Methode, wie das samana zu meistern ist, beschreibt Patanjali nicht. Als Hilfstechnik könnte man jetzt zum Beispiel das mantra, also diesen Sanskrit-Aphorismus, wiederholen. Du kannst das vielleicht einmal ausprobieren, wenn es dir kalt ist. Nur, du mußt es dann genau richtig aussprechen und betonen. Wenn man ein mantra falsch ausspricht, kann es eine ganz andere Bedeutung bekommen und zu ganz anderen Ergebnissen führen. Deshalb braucht man gerade bei diesen machtvollen mantras Grundkenntnisse mindestens in der korrekten Aussprache des Sanskrit.

Es ist nicht wirklich notwendig, das alles zu beherrschen, aber es ist eine Technik, die funktioniert. Ich kenne Leute, die mit diesen beiden mantras gearbeitet haben und sagen, sie hatten beim einen tatsächlich das Gefühl, sich zu erheben und beim anderen konnten sie willkürlich jegliche Hitze erzeugen, in sich und im Raum um sie herum.

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Kapitel 3, Vers 42

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf die Verbindung zwischen akasha (Raum) und Ohr erlangt man überphysisches Hören.

Sanskrit Text:

śrotra-ākāśayoḥ saṁbandha-saṁyamāt divyaṁ śrotram ||42||

श्रोत्राकाशयोः संबन्धसंयमात् दिव्यं श्रोत्रम् ॥४२॥

shrotra akashayoh sanbandha sanyamat divyam shrotram ||42||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śrotra = Ohr, das Hören
  • ākāśa = Raum, Äther
  • saṁbandha = Beziehung, Verbindung
  • saṁyama = tiefe Versenkung, Meditation
  • divya = göttlich, übersinnlich, überphysisch
  • śrotram = Hören

Kommentar

Das kannst du gleich ausprobieren.

Schließe die Augen. Jetzt konzentriere dich zunächst einmal auf deine Ohren, und zwar weniger auf die physischen Ohren oder das Bild von den Ohren, sondern auf das Fühlen deiner Ohren. Spüre nach, wie weit du die Ohren nach innen spüren kannst. Dann werde dir bewußt, wie weit du die Energie der Ohren nach außen spüren kannst. Wenn du dich so entspannt konzentrierst, fühlst du vielleicht die Ohren wie einen Trichter. Und jetzt versuche, weit nach außen zu spüren, und spüre gleichzeitig den physischen Ort der Ohren und den Raum weit weg von den Ohren. So spürst du die Verbindung zwischen dem Raum weit weg und den Ohren. Und dann werde dir bewußt, ob du vielleicht einen inneren Klang hörst.

Das gleiche kannst du mit den Augen machen. Konzentriere dich jetzt auf die Augen. Werde dir bewußt, wie sich die Augen anfühlen. Gehe mit deinem Bewußtsein zunächst durch die Augen nach innen in die Höhle des Kopfes, dann spüre die Augen nach vorn, werde dir bewußt, wie weit du die Augen und die Energieausstrahlung der Augen nach vorne spüren kannst. Jetzt spüre gleichzeitig den Raum weit vor deinen Augen und die Augen selbst. Spüren also sambhanda, die Verbindung der Augen mit dem Raum und werde dir bewußt, ob du dabei mit geschlossenen Augen etwas sehen kannst.

Wenn man das länger macht, ist es eine Möglichkeit, überphysisches Hören und Sehen zu entwickeln. Und es ist durchaus in Ordnung, sich auf so etwas zu konzentrieren. Patanjali hat ja im ersten Kapitel der Yoga Sutras erwähnt, daß man den Geist leicht zur Stille bekommt, wenn die höheren Sinne, also überphysisches Hören und Sehen, aktiv werden. Das kann man zum Beispiel auch in der Tiefenentspannung sehr leicht üben, indem man sich nicht nur auf die körperliche Entspannung konzentriert, sondern die Verbindung der Ohren mit dem Raum herstellt. Selbst wenn man dabei nichts hört, kann ein schönes Ausdehnungsgefühl entstehen, und es kann auch sehr entspannen.

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Kapitel 3, Vers 43

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf die Verbindung zwischen akasha (Raum) und Körper und Meditation auf leichte (Gegenstände wie) Watte, erhält man die Fähigkeit zur Astralreise.

Sanskrit Text:

kāyākāśayoḥ saṁbandha-saṁyamāt laghu-tūla-samāpatteśca-ākāśa gamanam ||43||

कायाकाशयोः संबन्धसंयमात् लघुतूलसमापत्तेश्चाकाश गमनम् ॥४३॥

kayakashayoh sanbandha sanyamat laghu tula samapattescha akasha gamanam ||43||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kāya = Körper
  • ākāśa = Raum, Äther
  • saṁbandha = Beziehung, Verbindung
  • saṁyama = tiefe Versenkung, Meditation
  • laghu = leicht
  • tūla = Watte
  • samāpatti = Verbindung, Werden, Meditation
  • ca = und
  • ākāśa = Raum, Äther
  • gamanam = gehen, sich bewegen

Kommentar

Hier ist die Astralreise beschrieben. Diese Technik, mit der man den physischen Körper verlassen kann, sollte aber nicht jeder ohne weiteres anwenden. Sie ist nur für geistig und emotional vollkommen stabile Menschen geeignet. Man führt samyama aus auf den Körper (kaya) und die Verbindung (sambandha) mit dem Raum (akasha) darüber. Man spürt erst den Körper, dann den Raum darüber, die Verbindung zum Raum, und dann spürt man nur noch den Raum darüber, und plötzlich ist man oben. Je mehr man in der Lage ist, sich zu entspannen und zu konzentrieren, desto einfacher geht es. Es hat durchaus einen Vorteil, das einmal zu erfahren, denn dann weiß man aus Erfahrung: Ich bin nicht der Körper. Wenn man viel liest und die Wissenschaft einem immer weismachen will, daß der Mensch der Körper ist und der Geist nur ein Ausfluß irgendwelcher Gehirnverbindungen und daß die ganze spirituelle Erfahrung nur auf irgendwelchen eigenartig verlaufenden Nervenreizungen beruht, auf Selbstbetrug und Hormon-Botenstoffen oder so ähnlich, ist eine solche Erfahrung sehr nützlich. Denn wenn man wirklich einmal den physischen Körper verlassen hat, die Welt von oben gesehen hat, dann weiß man es. Man hat es erfahren, und die Wissenschaftler können behaupten, was sie wollen.

Eigentlich ist das ja ein großes Paradoxon bei der modernen Psychologie und Medizin. Die moderne Physik hat sich Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts revolutioniert aufgrund von ein paar ganz kleinen Phänomenen, die nicht mit dem Weltbild der Physik übereinstimmten. Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat die englische Royal Academy of Science Queen Victoria gemeldet, das Universum sei fast ganz enthüllt, es gebe praktisch nichts mehr zu entdecken. Und in Amerika entstand ein ähnlicher Bericht an den Senat. Ein großer schottischer Physiker namens Kelvin (1824-1907) hat einem brillianten Studenten abgeraten, Physik zu studieren, weil er gemeint hat, es gäbe in der Physik nichts mehr zu entdecken. Dann verliefen einige Versuche komisch, nicht so, wie sie hätten sollen, und darauf haben sich die Physiker gestürzt. Daraus entstanden die Atomwissenschaft, die Relativitätswissenschaft, Quantenphysik u.s.w. Also aufgrund von ein paar Ausnahmen von der Regel – man hätte ja auch sagen können, 99 % der Fälle sind abgedeckt, das eine Prozent spielt keine große Rolle – hat sich das Weltbild der Physik radikal geändert. In der Psychologie und Medizin dagegen wird immer nur die Mehrheit berücksichtigt, und man beschäftigt sich damit. Aber wenn nur ein einziger Mensch von unheilbarem Krebs geheilt wird, dann müßte das untersucht werden, denn das ist das Interessante. Und wenn ein einziger Mensch in der Lage ist, seinen physischen Körper zu verlassen und von oben sich und die Welt zu sehen – und solche Fälle sind in der Parapsychologie-Forschung unter wissenschaftlichen Bedingungen dokumentiert –, wenn es dort einen einzigen gibt, dann müßte man sich darauf stürzen, Erklärungen dafür suchen. Statt dessen hält man dieses materialistische Weltbild, das die Physik längst hinter sich gelassen hat, weiter aufrecht und bringt es sogar immer mehr in die Medizin und die Psychologie hinein, wo es überhaupt nichts verloren hat.

Daher ist es durchaus gut für einen selbst, ein paar solcher Dinge zu beherrschen.

Eine andere Sache wäre, und da bin ich ein bißchen skeptisch, es auch ein paar Menschen beizubringen, um es so Wissenschaftlern dokumentieren zu können. Wenn zum Beispiel zehn Leute in einem Raum sich kollektiv einen Meter erheben würden, das könnte die Wissenschaft vielleicht nicht mehr ohne weiteres ignorieren. Es müßte sie eigentlich revolutionieren. Aber wahrscheinlich würde es nur ein Riesenspektakel geben und dem authentischen spirituellen Interesse eher schaden.

Patanjali erwähnt noch eine zweite Technik, um Astralreisen zu lernen, nämlich „Meditation auf leichte Gegenstände wie Watte“. Man kann sich konzentrieren auf Gegenstände, die im Wind schweben. Dann bekommt man auch die Fähigkeit, im Wind zu schweben und damit Astralreisen zu machen. Leichter, meine ich, ist die erste Methode.

Insgesamt rate ich aber von den sogenannten Astralreisen ab, weil man leicht in Verbindung mit negativen Energien und niederen Astralwesen kommen kann.

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Kapitel 3, Vers 44

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf nicht vorstellbare jenseitige Seinsweisen kommt die Fähigkeit, außerhalb des Körpers zu verweilen. Der Schleier vor dem Licht verschwindet.

Sanskrit Text:

bahir-akalpitā vṛttiḥ mahā-videhā tataḥ prakāśa-āvaraṇa-kṣayaḥ ||44||

बहिरकल्पिता वृत्तिः महाविदेहा ततः प्रकाशावरणक्षयः ॥४४॥

bahir akalpita vrittih maha videha tatah prakasha avarana kshayah ||44||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bahiḥ = außen, außerhalb
  • akalpitā = unvorstellbar
  • vṛtti = Welle, Gedankenwelle
  • maha = groß, maximal
  • videhā = Körperlosigkeit
  • tataḥ = daher, davon
  • prakāśa = Licht, hier das wahre Selbst
  • āvaraṇa = Verhüllen, Schleier, Hülle
  • kṣayaḥ = Verschwinden, Vernichtung, Reduzierung

Kommentar

Jetzt erklärt Patanjali, wie man den physischen Körper verläßt, wenn man will, ohne daß der physische Körper gleich stirbt. Das geht auch dann, wenn das karma noch nicht vollständig abgearbeitet ist.

Im ersten Kapitel hatten wir von jivanmukti und videhamukti gesprochen. Jivanmukti ist die lebendige Befreiung, die Befreiung, während man weiter in seinem physischen Körper lebt, videhamukti ist die Befreiung ohne den Körper.

Maha-videha, wahrhafte Nichtkörperlichkeit, wird erreicht, wenn der Yogi es schafft, jenseits der eigenen vrittis zu kommen. Man kann den Körper einfach so verlassen, indem man sich nicht mehr mit dem physischen Körper, dem Ego und dem Intellekt identifiziert – und damit ist man dauerhaft davon befreit.

Es gibt noch eine zweite, vielleicht schönere Interpretation dieses Aphorismus. Die Fähigkeit, sich mit dem physischen, mentalen und anderen Körpern nicht mehr zu identifizieren, entsteht, wenn wir jenseits von Ego und Intellekt spüren, wer wir wirklich sind. Wir spüren dann diese maha-videha, diese große Körperlosigkeit. Und es ist wiederum ganz praktisch, sich öfter mal selbst zu fragen: Was ist jenseits von Ego und Intellekt? Diese Frage geht ja schon über Emotion und prana und was sich da sonst noch alles anklammert, hinaus.

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Kapitel 3, Vers 45

Deutsche Übersetzung:

Meisterschaft über die Elemente kommt durch samyama auf ihre groben, subtilen, durchdringenden und funktionellen Zustände.

Sanskrit Text:

sthūla-svarūpa-sūkṣma-anvaya-arthavattva-saṁyamāt bhūtajayaḥ ||45||

स्थूलस्वरूपसूक्ष्मान्वयार्थवत्त्वसंयमात् भूतजयः ॥४५॥

sthula svarupa sukshma anvaya arthavattva sanyamat bhutajayah ||45||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sthūla = grob, die äußeren Aspekte von etwas
  • svarūpa = wirkliche Form, wahre Natur
  • sūkṣma = subtil, das subtile zugrunde liegende Prinzip
  • anvaya = Abfolge, alles durchdringend
  • artha-vattva = dem Zweck förderlich, Funktion
  • saṁyama = tiefe Versenkung
  • bhūta = fünf Elemente, Materie
  • jayaḥ = (nom.) Sieg, Herrschaft, Meisterschaft, Kontrolle

Kommentar

Wenn wir uns ganz bewußt auf ein Element konzentrieren, bekommen wir die Herrschaft darüber.

Eine Technik dafür ist zum Beispiel die samanuKonzentration (bestimmte Atem- und Konzentrationstechnik), wo wir uns auf die Reinigungswirkung der Elemente konzentrieren.

In den Hatha Yoga-Schriften wie der Gheranda Samhita und der Yoga Vasishta sind diese Techniken detailliert beschrieben.

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Kapitel 3, Vers 46

Deutsche Übersetzung:

Daraus entspringen Fähigkeiten wie den Körper winzig klein zu machen sowie Vollkommenheit und Unverwundbarkeit des Körpers.

Sanskrit Text:

tato-‚ṇimādi-prādurbhāvaḥ kāyasaṁpat tad-dharānabhighātśca ||46||

ततोऽणिमादिप्रादुर्भावः कायसंपत् तद्धरानभिघात्श्च ॥४६॥

tato ’nimadi pradurbhavah kayasanpat tad dharanabhighatscha ||46||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • aṇiman = Fähigkeit, den Körper winzig klein zu machen
  • prādurbhāvaḥ = Erscheinung, Auftauchen, Entspringen
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit
  • tat = von diesem, dessen
  • dharma = Funktion, Aufgabe, Pflichterfüllung
  • anabhighāta = Nichtüberwältigung, Unverwundbarkeit
  • ca = und

Kommentar

Hier spricht Patanjali die acht maha siddhis, die großen Kräfte, an. Diese sind:

  • Fähigkeit, winzige Größe anzunehmen, sich zu verkleinern zum Atom
  • Fähigkeit zu kolossaler Größe
  • Fähigkeit zu Schwerelosigkeit
  • Fähigkeit, sich ganz schwer zu machen, zu großem Gewicht
  • Jede Wunscherfüllung und alles Wissen
  • Eintritt in den Körper eines anderen
  • Unbehinderter Wille
  • Göttliche Macht

Auf eine gewisse Weise bekommen wir diese acht Fähigkeiten auch im Kleinen am Anfang unseres spirituellen Weges. Was bedeuten diese acht maha siddhis für den spirituellen Alltag?

Wir sind in der Lage, winzige Größe anzunehmen. Es macht uns zum Beispiel nichts aus, die Toiletten zu putzen und ähnliche Arbeiten zu verrichten oder uns mal tadeln zu lassen.

Aber gleichzeitig auch zu kolossaler Größe: Wenn wir aufgefordert werden, vor fünfhundert Leuten einen Vortrag zu halten oder große Verantwortung zu übernehmen, dann machen wir das halt.

Meistens fällt uns das letztere schwerer als das erste. Aber wir können beides. Und wir verhaften uns an keines von beidem.

Schwerelosigkeit: Wir können uns an andere anpassen, wir brauchen nicht immer diese große Schwere zu haben, wo es um uns selbst geht. Wir sind in der Lage, auch mal das zu tun, was die anderen wollen und doch ganz autonom zu bleiben.

Großes Gewicht: Wir können wenn nötig auch auf unserem Standpunkt beharren, uns durchsetzen.

Wir haben die Fähigkeit zu jedem Wunsch oder Wissen. Wir können uns ab und zu unsere Wünsche erfüllen. Umgekehrt heißt Herrschaft über den Wunsch auch, daß wir in der Lage sind, den Wunsch nicht zu erfüllen. Beides gehört zum Yogi. Er ist in der Lage, sich mal einen Wunsch zu erfüllen und alles Mögliche dafür zu tun, er ist aber auch in der Lage, den Wunsch nicht zu erfüllen, ohne sich deshalb frustriert zu fühlen. Und damit erwirbt er auch das Wissen, das er braucht.

Eintritt in den Körper eines anderen bedeutet im übertragenen Sinn: Man kann sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, mit ihm fühlen, wie schon weiter oben besprochen.

Unbehinderter Wille und göttliche Macht: Durch regelmäßige Übung der Yogapraktiken, Innenschau, Hingabe an Gott, Anwendung der Raja Yoga-Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung entwickeln wir allmählich eine starke Willens- und Gedankenkraft.

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Kapitel 3, Vers 47

Deutsche Übersetzung:

Vollkommenheit des Körpers ist Schönheit, Anmut, Kraft und diamantene Festigkeit.

Sanskrit Text:

rūpa-lāvaṇya-bala-vajra-saṁhananatvāni kāyasaṁpat ||47||

रूपलावण्यबलवज्रसंहननत्वानि कायसंपत् ॥४७॥

rupa lavanya bala vajra sanhananatvani kayasanpat ||47||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • rūpa = Schönheit, richtige Gestalt
  • lāvaṇya = Anmut
  • bala = Stärke, Kraft
  • vajra = Diamant, Donnerkeil
  • saṁhana-natvāni = Härte, Festigkeit
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit

Kommentar

Durch die Konzentration auf die Elemente kann man das alles bekommen, wenn man will. Da der Körper aus den Elementen besteht, kann man ihn durch Konzentration auf die Elemente vervollkommnen.

Es gibt eine Tradition im Hatha Yoga, deren Hauptziel es ist, den physischen Körper unsterblich zu machen. Wobei damit nicht wirklich unsterblich gemeint ist, sondern die Absicht, ihn möglichst lange jung, gesund und leistungsfähig zu erhalten. Zu den spezifischen Techniken dabei gehören in Abständen von einigen Jahren jeweils mehrere Monate dauernde „Verjüngungskuren“ mit allen möglichen kriyas (Reinigungshandlungen), mudras, asanas, wo vor allem Kopfstand und Schulterstand sehr sehr lange gehalten werden, mit besonderer Diät und Kräutern, und auch die Elementekonzentration. Durch die Elementekonzentration bekommt man Herrschaft über die Elemente, und so kann man den physischen Körper etwas länger erhalten.

Heutzutage gibt es Menschen, die ihre Zellen unsterblich machen wollen. Ich persönlich sehe keinen großen Sinn darin. Ob der physische Körper nun ein paar Jahrzehnte länger lebt oder nicht, was bedeutet das schon? Das Selbst ist unsterblich.

Trotzdem, die Herrschaft über den Körper kann über die Elementekonzentration erreicht werden.

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Kapitel 3, Vers 48

Deutsche Übersetzung:

Ausführung des samyama auf die Wahrnehmungskraft, ihre eigene Natur, die Beziehung zu ihrer Funktion und zum Ego führt zur Herrschaft über die Sinne.

Sanskrit Text:

grahaṇa-svarūpa-asmitā-avaya-arthavattva-saṁyamāt-indriya jayaḥ ||48||

ग्रहणस्वरूपास्मितावयार्थवत्त्वसंयमातिन्द्रिय जयः ॥४८॥

grahana svarupa asmita avaya arthavattva sanyamat indriya jayah ||48||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • grahaṇa = Wahrnehmung
  • svarūpa = eigene Natur, tatsächliche Form
  • asmitā = Egoismus, Selbstbezogenheit
  • anvaya = Verbindung
  • arthavattva = Zweckdienlichkeit, Funktion
  • saṁyama = tiefe Versenkung, Meditation
  • indriya = Sinnesorgane
  • jayaḥ = Herrschaft, Sieg, Meisterschaft

Kommentar

Auf diese Weise könnte man Hören, Sehen, Riechen u.s.w. verbessern.

Aber die Meisterung ist hier zweifach zu verstehen.

Zum einen kann man die Sinnesorgane besser benutzen und zum zweiten kann man sie auch besser beherrschen.

Samyama ausführen auf die Kraft der Wahrnehmung heißt, ganz bewußt etwas anzuschauen und sich dabei auf die Wahrnehmungskraft zu konzentrieren. Oder man kann sich auf die wahre Natur der Kraft der Wahrnehmung als solches konzentrieren, auf ihre Beziehung zu unserem Ego, auf ihre Funktion und schließlich auf ihre Beherrschung. Das enthüllt einem dann intuitiv, wie man das Organ beherrscht, so daß man nicht mehr durch das Organ nach draußen gezogen wird. Zum anderen können wir damit erreichen, daß die Organfunktion besser erfüllt wird.

Vielleicht eine praktische Anwendung für Menschen, die sehr am Essen hängen. Wir sind ja in unserer Zivilisation eine Gesellschaft von Eßgestörten. Viele denken, sie seien zu dick, manche denken, sie seien zu dünn. Fast niemand meint, das richtige Gewicht zu haben. Etwa 10 % der weiblichen Jugendlichen, nach anderen Untersuchungen sogar 20 %, haben die Eß-Brechsucht oder die Freß-Fastsucht, sind also sehr essensgestört. Vieles kompensieren wir über das Essen. Nur noch im Zusammenhang mit Essen spricht man von „Sünden“.

Diesen Sinn kann man beherrschen, indem man samyama ausführt auf den Geschmack an sich. Was ist Geschmack an sich? Was ist die Natur des Schmeckens? Wie bezieht sich mein Ego auf dieses Schmecken? Was bedeutet für mich Beherrschung dieses Geschmacksinns? Und was ist eigentlich die ursprüngliche Funktion des Geschmacksinns? Das kann man zunächst einmal als Anlaß nehmen für swadhyaya, für Selbststudium, logisches Nachdenken. Das ist noch nicht samyama. Auch das kann schon helfen. Paradoxerweise, wenn ich jetzt darüber schreibe, sammelt sich Speichel im Mund. Geht es dir auch so? – Die Kraft des Geistes! Man schreibt nur über Geschmack und die Kraft der Wahrnehmung – wenn du dir noch dazu einen Obstkuchen oder eine saftige Mango vorstellst ….! Danach geht man über das Nachdenken hinaus, führt samyama darüber aus, das heißt, man spürt einfach und geht in das hinein, worüber man vorher nachgedacht hat. Man versucht, die Natur des Schmeckens, des Geschmacksinns, seine Funktion, die persönliche Beziehung dazu u.s.w. jetzt intuitiv zu erfassen. So kann man den Eßsinn beherrschen, wenn man will.

Aber statt zu versuchen, den Eßsinn zu beherrschen, ist es meist sinnvoller, nicht mehr zu denken, man müsse aussehen wie eine Barbiepuppe.

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Kapitel 3, Vers 49

Deutsche Übersetzung:

Daraus entsteht Schnelligkeit des Geistes, außersinnliches Wissen und Herrschaft über die Natur.

Sanskrit Text:

tato mano-javitvaṁ vikaraṇa-bhāvaḥ pradhāna-jayaś-ca ||49||

ततो मनोजवित्वं विकरणभावः प्रधानजयश्च ॥४९॥

tato mano javitvam vikarana bhavah pradhana jayash cha ||49||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • mano = Geist, Verstand
  • javitvaṁ = Schnelligkeit
  • vikaraṇa = Werkzeuge, hier: die Sinnesorgane
  • bhāvaḥ = Befreiung, Unabhängigkeit
  • pradhāna = Materie, Natur, Schöpfung
  • jaya = Herrschaft, Meisterschaft, Sieg
  • ca = und

Kommentar

Wer die Sinnesorgane meistert, kann darüber die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung ohne Sinne erwerben. Patanjali sagt hier, wir bekommen direktes Wissen ohne Einschaltung des Geistes, einfach indem wir uns in etwas hineinversetzen. Aber wir können ebenso, wenn wir unseren Geist beherrschen, ihn ohne die Sinne zu einem Objekt oder einem Wesen hinschicken und es so intuitiv wahrnehmen. Auch bei geschlossenen Augen können wir zum Beispiel in einen Raum nebenan schauen.

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Kapitel 3, Vers 50

Deutsche Übersetzung:

Nur durch die Verwirklichung des Unterschiedes zwischen sattva und purusha erlangt man die Beherrschung aller Daseinsformen und Allwissenheit.

Sanskrit Text:

sattva-puruṣa-anyatā-khyātimātrasya sarva-bhāvā-adhiṣṭhātṛtvaṁ sarva-jñātṛtvaṁ ca ||50||

सत्त्वपुरुषान्यताख्यातिमात्रस्य सर्वभावाधिष्ठातृत्वं सर्वज्ञातृत्वं च ॥५०॥

sattva purusha anyata khyatimatrasya sarva bhava adhishthatritvam sarva jnatritvam cha ||50||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Reinheit, eine der drei guṇas, physische Welt
  • puruṣa = das wahre Selbst
  • anyata = Unterschied
  • khyāti = Erkenntnis, Verwirklichung
  • mātrasya = nur daraus
  • sarva = alle
  • bhāva = Gefühle, Emotionen
  • adhiṣṭhāṭṛtvaṁ = Vorherrschaft, Beherrschung, Allmacht
  • sarva = alle
  • jñātṛṭva = Weisheit, Wissen
  • ca = und

Kommentar

Diese Unterscheidung zwischen unserem wahren Selbst, purusha, und sattva, der Reinheit, hatten wir schon einmal. Reinheit ist das, womit man sich als spiritueller Aspirant gerne identifiziert: Freude, Wonne, Schönheit, Reinheit, Wissen, Licht, Liebe und all das. Sattva ist zwar positiver als rajas und tamas, aber auch die Identifikation mit sattva ist und bleibt eine Identifikation, die uns bindet. Und letztlich kann es einem nie gelingen , sein Leben wirklich in jeder Hinsicht und vollständig sattvig zu machen. Denn sattva ist eine guna (Eigenschaft der Natur), und die gunas sind parinama, d.h., in ständiger Veränderung. So ist alles im Leben mal schön, mal nicht so schön – sattva, rajas und tamas lösen sich ab. Man sollte also nach mehr sattva streben, aber unverhaftet bleiben.

Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen diesen wunderschönen sattvigen Visionen, den wunderschönen Wonneerfahrungen der anandamaya kosha oder auch samprajnata samadhi und unserem wahren Selbst. Indem wir uns auf diesen Unterschied zwischen sattva und purusha konzentrieren, erreichen wir Allwissenheit. Denn sattva gilt als erste Manifestation der prakriti (Schöpfung, Natur), die von purusha ausging. Indem wir den Unterschied zwischen sattva und purusha erfassen, kommen wir zurück zu diesem Urpunkt, von dem die Schöpfung und unsere eigene Verwicklung in prakriti ausgeht. Wir erkennen intuitiv das Prinzip, das Warum und Wie der Schöpfung. Was jetzt nicht notwendigerweise heißt, daß wir es wirklich in allen Details wissen – dazu müssen wir nochmals die spezifischen samyamas ausführen –, aber wir haben das generelle Wissen darüber, die richtige Antwort auf die Frage: Warum ist das Universum zustandegekommen? Was ist die Ursache für das Universum? Die richtige Antwort ist dann jedoch nicht in Worte zu fassen. Verwirkliche den Unterschied zwischen purusha und sattva, dann weißt du es!

Das zweite wichtige Stichwort ist Allmacht. Allmacht des purusha ist auf zwei Weisen zu verstehen. Einmal hat der routinierte Yogi jetzt alle siddhis, das ist der machtvollste Zustand. Er kehrt zurück zum Beginn der Schöpfung, ist in diesem Urprinzip, und hat von daher die Fähigkeit, alles in der Schöpfung zu ändern. Aber insbesondere hat er die Fähigkeit, die Schöpfung zu verlassen, wenn und wann er will, d.h., in nirvikalpa samadhi, asamprajnata samadhi, einzugehen oder auch wieder zurückzukehren, wenn er weiß, daß der Körper noch karma abzuarbeiten hat. Er hat diese ursprüngliche Macht zurückgewonnen, in die Welt hinein- und aus der Welt herauszugehen.

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