Kapitel 1, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Der höchste Zustand des Nichtanhaftens entsteht durch Erkenntnis des Selbst und ist frei von Gier nach den Eigenschaften der Natur.

Sanskrit Text:

tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam ||16||

तत्परं पुरुषख्यातेः गुणवैतृष्ण्यम् ॥१६॥

tatparam purusha khyateh guna vaitrishnyam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = dessen, das
  • paraṁ = höchste
  • puruṣa = das wahre Selbst, das unwandelbare Selbst
  • khyāti = Verständnis, Verwirklichung, Bewusstheit, Erfahrung
  • guṇa = die drei Grundeigenschaft der Natur
  • vaitṛṣṇya = ohne Durst, durstlos

 

Kommentar

Vairagya (Wunschlosigkeit) ist eines der vier Mittel zur Befreiung, eines der Charakteristika im subecha-Zustand (Sehnsucht, Suche nach Wahrheit), der ersten Stufe der sieben bhumikas. Zu subecha gehören:

  • viveka, Unterscheidungskraft,
  • vairagya, Nichtanhaften oder Wunsch- bzw. Leidenschaftslosigkeit,
  • shatsampat, die sechs edlen Tugenden, und
  • mumukshutva, tiefes Verlangen nach Befreiung.

Hier greift Patanjali besonders vairagya heraus. In den vorherigen Versen hat er gesagt, daß die Kontrolle der vrittis durch abhyasa und vairagya herbeigeführt wird. Vairagya wird auf einer Ebene erreicht durch Willensanstrengung und zum zweiten auf einer tieferen Ebene als Zustand von Nichtanhaften, der aus dem Bewußtsein des purusha kommt. Purusha ist das eine Selbst Gottes. Wenn man in diesem Bewußtsein ist, entsagt man den drei Eigenschaften der Natur. Das funktioniert auch, wenn man noch nicht im höchsten Zustand ist. Wenn man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt ist, wenn das Göttliche spürbar wird oder durchschimmert, dann fallen verschiedene Wünsche von selbst weg. Das kennst du vielleicht aus eigener Erfahrung. Irgendwann hast du mit Yoga angefangen, vielleicht, um gesund zu werden oder zu bleiben, weil es Spaß gemacht hat, um Spannungen loszuwerden, aus Neugier, um etwas gegen Streß zu unternehmen oder weil du einfach das Gefühl hattest, es wäre gut, mal einen Yogakurs zu machen. Den ersten Yogakurs machen Leute aus den verschiedensten Gründen. Manchmal wird man auch irgendwie geführt und weiß nicht warum. Manchmal hat man ein konkretes Problem und manchmal schleppt einen ein Freund oder eine Freundin hin. Anschließend hilft einem das Yoga, etwas mehr zu sich selbst zu kommen. Und plötzlich fallen alle möglichen Sachen ab. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Phänomen, daß etwa drei Viertel der Menschen, die Yoga üben, von selbst aufhören zu rauchen, ohne daß sie sich darum bemühen. Es geschieht einfach. Etwas weniger, aber mindestens auch die Hälfte, werden bei regelmäßiger Yogapraxis zum Vegetarier oder Fast-Vegetarier. Der Wunsch, Fleisch zu essen, hört mehr oder weniger von selbst auf. Es geschieht einfach, da man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt wird.

Wenn man regelmäßig meditiert, fallen verschiedene andere Verhaftungen von selbst weg. Wenn man durch Übungen allmählich Zugang zu seinem wahren Wesen bekommt, fallen eine ganze Reihe von Verhaftungen an die drei gunas, die drei Eigenschaften, die allem Existierenden innewohnen, ab. Und beim vollen Bewußtsein purushas, bei der vollen Selbstverwirklichung, gibt es überhaupt keine Wünsche mehr. Man ist vollkommen wunschlos. Man handelt nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern ist nur noch ein Instrument in den Händen Gottes oder des Kosmischen.

Viele Menschen erwarten, daß auf dem Yogaweg alles so von selbst geschieht. Das stimmt aber nicht. Wir zäumen öfter das Pferd von hinten auf. Eine andere Übersetzung des 15. Verses ist: „Vairagya kommt durch Meisterung des Willens“. Wir müssen manchmal auch unsere Willenskraft einsetzen. Willenskraft ist eine Manifestation von buddhi. Wie wir schon gesehen haben, ist die Unterscheidungskraft, viveka, ein Ausdruck von buddhi. Und die Energie hinter der Unterscheidungskraft ist die Willenskraft. Das ist im Deutschen schwierig zu erklären, da im Deutschen oft Wunsch und Wille mehr oder weniger gleichgesetzt werden.

Der Wille (iccha shakti) ist die Kraft, mit der wir das umsetzen, was wir für richtig halten; und zwar sowohl das, was wir aufgrund von viveka für richtig halten, als auch das, was aus einer tieferen Intuition kommt. Manchmal fühlt man irgendwie intuitiv: Das muß ich tun und das muß ich lassen, das sollte ich nicht mehr tun. Die Intuition kommt mehr vom Bewußtsein des purusha her. Wenn man beispielsweise feststellt: „Immer wenn ich etwas Bestimmtes esse, geht es mir anschließend schlecht“, kommt die viveka und sagt: „Also muß ich aufhören, das zu essen“, woraus man dann dank der Willenskraft Konsequenzen zieht. Das Verlangen muß zuerst einmal bewußt gemeistert werden. Nicht alles fällt von selbst ab.

Man stellt zum Beispiel fest, immer wenn man eine Tafel Schokolade gegessen hat, fühlt man sich eine Stunde später abgeschlafft. Man merkt, daß es einem tatsächlich nicht guttut. Also kommt jetzt die bewußte Entscheidung: „Ich sollte keine Schokolade mehr essen – oder höchstens noch an meinem Geburtstag oder am Geburtstag anderer Leute ein kleines Stückchen.“ Man hat diese Entscheidung getroffen. Was passiert anschließend? Natürlich kommt der Wunsch nach Schokolade!

Der Geist ist zufrieden, wenn er weiß, da gibt es jemanden, der Herr im Hause ist. Aber das muß er erst lernen, so wie wir einem Hund beibringen müssen, bei Fuß zu gehen. Das geschieht typischerweise durch Lob und Tadel. Tadel geht relativ einfach. Wenn der Hund abhaut, gibt man ihm einen kurzen Ruck mit dem Halsband. Das macht man mehrmals immer dann, wenn er weggeht, obwohl man „Fuß“ gesagt hat. Und wenn er folgt, lobt man ihn. Wenn man das zwei, drei Tage lang konsequent gemacht hat, geht der Hund immer neben einem, wenn man „Fuß“ sagt. Dann muß man vielleicht noch ab und zu einmal einen Ruck geben, und irgendwann braucht man gar keine Leine mehr. Aber man muß konsequent sein. Und das können die wenigsten Menschen. Noch nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Hund.

So ist es auch mit unserem Geist. Was wir uns vorgenommen haben, tun wir. Weshalb wir uns auch nicht zuviel vornehmen dürfen. Wenn man dem Hund innerhalb einer Woche Fuß, Platz, Sitz, Pfote geben, auf Kommando Stöckchen holen, beibringen will, wird er rebellieren. Er weiß dann gar nicht mehr, was er überhaupt noch machen soll.

Natürlich muß man ihn auch loben, wenn er es richtig gemacht hat. Und Lob muß nicht immer über das Essen gehen. Das einfachste Lob ist, ihn zu streicheln und zu sagen: „Ja, guter Hund, das hast du gut gemacht.“ Auf diese Weise können wir auch unser Unterbewußtsein loben. Wenn wir uns beispielsweise entschieden haben, eine Woche oder einen Monat keine Schokolade zu essen, darf es keine Ausnahme davon geben. Lieber erst mal etwas Kleines vornehmen, aber das Unterbewußtsein auf jeden Fall daran gewöhnen: Was auch immer man sich vornimmt, muß man auch tun. Das gilt auch für die spirituelle Praxis. Besser ist es, sich am Anfang eher wenig vorzunehmen, es aber konsequent auszuführen. Wenn man es gemacht hat, darf man sich ruhig mal auf die Schulter klopfen, geistig oder körperlich. Manche Menschen haben Angst, es würde ihr Ego erhöhen, wenn sie zu sich selbst sagen: „Das hast du gut gemacht.“ Es erhöht das Ego nur, wenn man sich damit identifiziert. Man kann seinen Geist loben, indem man ihm sagt: „Danke, liebes Unterbewußtsein, das hast du gut gemacht, du hast jetzt eine Woche lang auf Schokolade verzichtet oder eine Woche lang täglich asanas gemacht, ich bin zufrieden mit dir.“ Man muß ihn nicht unbedingt dadurch belohnen, daß man ins beste Restaurant oder ins Kino geht. Meistens reicht es aus, wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, vielleicht in der Meditation, sich hinsetzt und sagt: „Ja, liebes Unterbewußtsein, ich bin zufrieden mit dir, das ist gut, was du gemacht hast.“ Manche Menschen legen sich zuviel auf, wollen zu schnell immer mehr vom Unterbewußtsein. Das ist nicht gut, irgendwann folgt darauf eine totale Gegenreaktion.

Das ist oft so bei spirituellen Aspiranten. Sie machen etwas und das geht gut. Also nehmen sie sich noch mehr vor. Das klappt auch. Sie nehmen sich noch mehr vor. Klappt auch. Noch mehr asanas, noch mehr pranayama, noch mehr Meditation, noch weniger Zeit für dieses, noch weniger Zeit für jenes … Und irgendwann rebelliert das Unterbewußtsein, so daß nichts mehr klappt. Und was macht man, wenn nichts mehr klappt? Man geht ins Café und ißt Schokoladenkuchen. Jetzt hat das Unterbewußtsein die Lektion gelernt: Wenn ich alles tue, was mein Herr will, dann werde ich bestraft und muß mehr und mehr machen. Tue ich es dagegen nicht, werde ich belohnt. Also, die Lektion ist ganz klar. Es ist so einfach und weil es so einfach ist, denkt man in den wenigsten Fällen daran.

Wir nehmen uns also etwas vor, tun es eine Weile ganz konsequent und belohnen unser Unterbewußtsein dafür. Aber wir nehmen uns nicht zuviel vor. Wir nehmen uns kleine Dinge vor und schauen, wie es geht.

Ich empfehle oft Anfängern, sich zunächst vorzunehmen, jeden Tag drei Minuten zu meditieren. Wenn man Lust hat, kann man ja länger meditieren. Aber drei Minuten macht man auf jeden Fall jeden Tag. Das ist möglich, und wenn man konsequent eine Woche lang jeden Tag drei Minuten meditiert hat, weil man es sich vorgenommen hat, stärkt das den Willen ungemein.

Wenn das Verlangen auf diese Weise allmählich kontrolliert wird, verschwindet es irgendwann auch ganz. Den meisten Menschen geht es zum Beispiel so, wenn sie eine Weile lang kein Fleisch mehr gegessen haben. Sie haben dann keine Lust mehr darauf, das Verlangen danach verschwindet. Auch wenn man radikal auf Süßigkeiten verzichtet, verschwindet der Wunsch danach. Er mag ab und zu vielleicht noch einmal hochkommen, dann verschwindet er ganz. Es ist nicht so, daß man gar keine Süßigkeiten mehr essen darf. Aber man kann sich beweisen, daß es geht und daß man Herr über den Wunsch ist.

Im zweiten Kapitel kommt Patanjali auf dieses Thema nochmals an zwei Stellen zurück: Einmal bei der Behandlung von tapas, Askese, und zum anderen bei santosha, Zufriedenheit. Das spielt im Raja Yoga eine große Rolle.

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