Kapitel 2, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Künftiges Leid sollte vermieden werden.

Sanskrit Text:

heyaṁ duḥkham-anāgatam ||16||

हेयं दुःखमनागतम् ॥१६॥

heyam duhkham anagatam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • heya = zu vermeiden
  • duḥkha = Leid, Elend, Schmerz
  • anāgata = künftig, noch nicht eingetreten, Zukünftiges

Kommentar

Das klingt banal. Aber wie oft wissen wir ganz genau: Wenn ich so weitermache, führt das zu Leid. Und trotzdem können wir es nicht lassen. Diesen Vers kann man wie ein mantra oder einen Schlachtruf wiederholen: „Heyam duhkham anâgatam“. Wir müssen uns aufmerksam beobachten: Wo ist Leid dabei, sich zu manifestieren, und wo oder wie können wir es vermeiden, sowohl für uns selbst als auch für andere? Wenn wir dabei sind, eine Dummheit zu begehen, zu faul sind, etwas zu verändern, oder zu schüchtern, um Rat zu bitten, wenn wir nicht stark genug sind, einer Sucht zu widerstehen oder etwas Edles zu tun, dann wiederholen wir: „Heyam duhkham anâgatam“, „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“.

Das ist eine gute Ergänzung zu ishvara pranidhana, Loslassen, Vertrauen zu Gott, alles ist in Ordnung, wie es ist, und zu tapas, Askese, bewußt auch einmal Dinge tun, die der Geist nicht mag, um innere Stärke zu bekommen.

Patanjali hat vorher schon über karma und kleshas gesprochen. Im folgenden Vers macht er es noch klarer:

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Kapitel 2, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Die zu vermeidende Ursache (des Leidens) ist die Identifikation des Sehers mit dem Gesehenen.

Sanskrit Text:

draṣṭṛ-dṛśyayoḥ saṁyogo heyahetuḥ ||17||

द्रष्टृदृश्ययोः संयोगो हेयहेतुः ॥१७॥

drashtri drishyayoh sanyogo heyahetuh ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • draṣṭṛ = des Sehers, des Wahrnehmenden, das wahre Selbst, Drastu
  • dṛśyaḥ = das Gesehene, Erfahrene
  • saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Identifikation
  • heya = was vermieden werden soll
  • hetu = Ursache

Kommentar

Der Seher (drashtra) identifiziert sich mit dem Gesehenen (drishya). Was heißt das?

Wir sagen: „Das ist mein Körper, mein Hund, meine Katze, mein Ehemann, meine Kleider, mein Wunsch, meine Handlung, meine Klugheit, mein Verdienst, meine Fähigkeit …“. Diese Identifikation führt zu karma und zu Lektionen, die wir noch zu lernen haben.

Und wozu das Ganze?

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Kapitel 2, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Das Gesehene (das Universum), das aus den Eigenschaften der Natur, sattva, rajas und tamas besteht, wird erfahren durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Sinnesorganen. Es existiert zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung.

Sanskrit Text:

prakāśa-kriyā-sthiti-śīlaṁ bhūtendriya-ātmakaṁ bhoga-apavarga-arthaṁ dṛśyam ||18||

प्रकाशक्रियास्थितिशीलं भूतेन्द्रियात्मकं भोगापवर्गार्थं दृश्यम् ॥१८॥

prakasha kriya sthiti shilam bhutendriya atmakam bhoga apavarga artham drishyam ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • prakāśa = Leuchten, Reinheit, Licht, Sattva
  • kriyā = Handlung, Aktivität, Rajas
  • sthiti = Stetigkeit, Trägheit, Tamas
  • śīla = Eigenschaften
  • bhūta = fünf Elemente, grobstofflich, physisch
  • indriya = Sinnesorgane, Wahrnehmungsorgane, Sinne, feinstofflich
  • ātmakaṁ = derart, seiend
  • bhoga = Genuss, Vergnügen
  • apavarga = Befreiung, Erfüllung, Erlösung
  • arthaṁ = Zweck, Sinn, Ziel
  • dṛśyam = das Gesehene, das Wahrnehmbare, Objekte

Kommentar

Das stammt direkt aus der samkhya-Philosophie. Die samkhya-Philosophie und hier auch Patanjali gehen davon aus, daß es mindestens auf der relativen Ebene tatsächlich ein Universum gibt. Dieses Universum erfahren wir als Wechselwirkung zwischen unseren Sinnen und dem, was außen ist. Die vedanta-Philosophie geht ja noch weiter, und sagt: Es gibt es kein Universum, es gibt nur Bewußtsein. Die Vorstellung, es gäbe etwas vom Bewußtsein Getrenntes ist nur Illusion.

Wenn wir zum Beispiel eine Uhr anschauen, dann sehen wir die Uhr nicht so, wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie uns unsere Sinne vermitteln. Physiker würden sagen, sie ist einfach nur Schwingung; sie besteht aus Elektronen, Neutronen, Protonen, die eine bestimmte Schwingung ausstrahlen bzw. reflektieren, und dieses bestimmte Schwingungsspektrum wird vom Gehirn als Form und Farbe wahrgenommen – durchaus ähnlich der samkhya-Philosophie, wonach alles nur Energie, eine Manifestation von prakriti, ist. Die Sinne schaffen dann den Anschein, als ob es Klänge, Gerüche u.s.w., gäbe.

Dieses Universum hat nun – und das ist sehr wichtig – zwei Zwecke: Es dient der Erfahrung und der Befreiung. Die Dinge, die auf uns zukommen, sind deshalb da, damit wir sie erfahren können, und sie helfen uns, zur Befreiung zu gelangen. Man könnte es auch noch etwas pointieren. Alles, was auf uns zukommt, haben wir uns entweder so gewünscht, oder es kommt, um uns daran zu erinnern, wieder aus der Täuschung herauszukommen. Angenommen, wir gehen in einen Irrgarten hinein. Warum gehen wir in den Irrgarten hinein? Paradoxerweise nur aus dem einen Grund, wieder herauszukommen. Warum gehen wir dann überhaupt erst hinein? Denselben Hintergrund hat die Frage: „Warum hat purusha (das Bewußtsein) sich in die prakriti (die Welt) hineinbegeben?“ – Er wollte irgend etwas erfahren.

Purusha, das reine Selbst, identifiziert sich in die prakriti hinein, um etwas zu erfahren. Die Aufgabe der prakriti ist es, purusha alle Erfahrungen zu geben, die er haben will. Infolgedessen muß jeder Wunsch, den wir haben, irgendwann einmal in Erfüllung gehen. Glücklicherweise braucht sich nicht jede Wunscherfüllung im physischen Raum zu manifestieren. Manche Wünsche können im Traum ausgelebt werden. Es gibt sogar eine Wissenschaft darüber, wie man Erfahrungen und Wünsche aus dem physischen Leben in das Traumleben hineinbringen kann. So kann man Träume daran hindern, sich im physischen Leben zu manifestieren. Das ist unter anderem eine Technik, um Schuldgefühle, Ärger und andere negative Emotionen zu verarbeiten. Manche Wünsche können zwischen zwei Leben ausgelebt werden. Aber starke Wünsche müssen in diesem oder im nächsten Leben ausgelebt werden.

Purusha – und damit jeder einzelne von uns – hat aber auch eine Sicherheit eingebaut. Angenommen, du würdest in ein Labyrinth hineingehen, von dem du weißt, daß schon viele Menschen hineingegangen und nicht wieder herausgekommen sind. Sie sind dort elendiglich verhungert. Würdest du dich trotzdem hineinbegeben? Es gibt Abenteurernaturen, die das durchaus reizt. Aber wer klug ist, baut vor. Was macht man also? Man baut eine Sicherheit ein. Man nimmt vielleicht ein Wollknäuel mit wie Theseus bei Minotaurus oder ein Handy oder ein Funksprechgerät. Und so hat auch purusha, als er sich in prakriti verwickelt hat, etwas eingebaut, damit er sich nicht hoffnungslos verliert. Und so kommen bestimmte Ereignisse deshalb, damit wir wieder aufwachen.

Patanjali unterscheidet also drei Ursachen für Ereignisse, die uns zustoßen:

  1. Manche Ereignisse kommen, weil wir sie uns gewünscht haben, in diesem oder einem früheren Leben (II 14).
  2. Manche Ereignisse kommen, weil wir aus Tugend oder Laster heraus gehandelt haben. Die Handlung zieht karmisch Vergnügen oder Schmerz nach sich und manifestiert sich als bestimmtes Ereignis oder Situation.
  3. Bestimmte Ereignisse kommen, um uns helfen, wieder aufzuwachen und zur Befreiung zu kommen.

Bei Ereignissen können wir uns also immer überlegen:

  1. Habe ich mir das so gewünscht?
  2. Gab es in meinem Leben etwas, wo ich vielleicht ein karma erzeugt habe, wovon das die Frucht sein könnte? Wir können das natürlich nur begrenzt sehen, denn vieles kommt auch aus früheren Leben. Aber manchmal geht es mit dem karma und seinem Gesetz von Ursache und Wirkung auch ganz schnell. Wenn man jemandem hinterrücks etwas angetan hat oder jemandem einmal nicht beigestanden hat, der krank war oder Hilfe gebraucht hat, und ihm nur gesagt hat: „Stell dich nicht so an“, und dann selbst in eine ähnliche Situation kommt, dann weiß man, aha, das ist das karma dafür. Es hat natürlich keinen Zweck, sich nun im nachhinein Selbstvorwürfe zu machen oder Schuldgefühle zu entwickeln. Das karma hebt ja die frühere Erfahrung auf. Wir können im Gegenteil erleichtert sein, wenn wir auf diese Art das karma ausarbeiten können.
  3. Was kann ich aus der Situation lernen? Wie hilft mir diese Situation, mich zu befreien?

Diese prakriti, diese Welt, ist etwas so Fantastisches, daß sich alle drei Aspekte auch vermischen können. Wir können es uns gewünscht haben, es kann eine karmische Konsequenz sein, und es hilft uns gleichzeitig, uns zu befreien.

Hier möchte ich aber davor warnen, ständig überlegen: „Was will mir das sagen? Wozu ist diese Situation da? Was ist der Sinn in dieser Situation?“ Ich kannte einmal eine Frau, die einen schweren Unfall hatte und jahrelang gegrübelt hat, warum ihr dieser Unfall zugestoßen ist. Fünf Jahre später hat sie mir erzählt, sie verstünde immer noch nicht, warum sie diesen Unfall damals hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie bleibende Schäden davon habe. Sie sagte, nein, eigentlich sei alles wieder geheilt, aber es würde sie nicht loslassen. Sie war besessen von dem Gedanken, herausfinden zu müssen, warum sie diesen Unfall gehabt hat. Da habe ich ihr gesagt, vielleicht hast du den Unfall deshalb gehabt, damit du erkennst, daß man nicht hinter allem den Sinn sofort sieht. Irgendwie hat sie das beruhigt, und sie hat erkannt, daß ihre Aufgabe bezüglich dieses Unfalls ist, Demut zu üben und zu erkennen, daß wir manchmal auch Dinge akzeptieren müssen, ohne einen unmittelbaren Sinn darin zu sehen. Und etwa zwei Jahre später kam sie zu mir und hat gesagt, jetzt hätte sie doch den Sinn gefunden. In dem Moment, wo sie aufgehört habe, den Sinn zu suchen, seien ihr immer mehr Gründe klar geworden. Aber in der ganzen Zeit dazwischen, in der sie ständig die Ursache gesucht hat, hat sie das und viele andere Situationen in ihrem Leben nicht mehr bewußt gelebt und wahrgenommen. Es hat also zwar alles seinen Sinn, aber wir können ihn nicht immer in allem sehen. Erst wenn wir selbstverwirklicht sind, erkennen wir den Sinn hinter allem.

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Kapitel 2, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Die Zustände der drei gunas sind grob, fein, manifest und unmanifest.

Sanskrit Text:

viśeṣa-aviśeṣa-liṅga-mātra-aliṅgāni guṇaparvāṇi ||19||

विशेषाविशेषलिङ्गमात्रालिङ्गानि गुणपर्वाणि ॥१९॥

vishesha avishesha linga matra alingani gunaparvani ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viśeṣa = besonders, bestimmt, unterschiedlich
  • aviśeṣa = unspezifisch, unbestimmt, nicht unterscheidbar
  • liṅga = Symbol
  • mātra = wiedergebbar, ausdrückbar
  • liṅga-mātra = symbolhaft
  • aliṅga = ohne Symbol, jenseits von Symbolen
  • guṇa = die drei Grundeigenschaften der Materie, Natur
  • parvan = Entwicklungsstufen, Zustände, Schritt

Kapitel 2, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

Der Sehende ist Bewußtsein an sich und obwohl er rein ist, scheint er durch den Geist zu sehen.

Sanskrit Text:

draṣṭā dṛśimātraḥ śuddho-‚pi pratyaya-anupaśyaḥ ||20||

द्रष्टा दृशिमात्रः शुद्धोऽपि प्रत्ययानुपश्यः ॥२०॥

drashta drishimatrah shuddho ‚pi pratyaya anupashyah ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • draṣṭā = der Seher, der Wahrnehmende, das wahre Selbst, Drashtu
  • dṛśi = Sehen, das sehende Prinzip
  • mātraḥ = ausschließlich, nur
  • ṣuddha = unvergänglich, rein
  • api = obgleich, trotzdem
  • pratyaya = richtige Wahrnehmung
  • anupaśya = scheint zu sehen mit, das Sehen basiert auf

Kommentar

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Kapitel 2, Vers 21

Deutsche Übersetzung:

Das Gesehene ist für den Sehenden da.

Sanskrit Text:

tadartha eva dṛśyasya-ātmā ||21||

तदर्थ एव दृश्यस्यात्मा ॥२१॥

tadartha eva drishyasya atma ||21||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • artha = Zweck, Ziel
  • eva = allein, nur
  • dṛśyasya = des Gesehenen, Prakriti, Schöpfung, Kosmos
  • ātmā = Wesen, Natur, Selbst, wahres Selbst, Drastu

Kommentar

Das physische Universum hat keinen Selbstzweck, sondern es ist für purusha da, für das Bewußtsein dahinter, für seine Erfahrung.

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Kapitel 2, Vers 22

Deutsche Übersetzung:

Die prakriti wird für den, der sein Ziel erreicht hat, unwirklich. Da sie jedoch allen gemein ist, existiert sie für die anderen weiter.

Sanskrit Text:

kṛtārthaṁ pratinaṣṭaṁ-apy-anaṣṭaṁ tadanya sādhāraṇatvāt ||22||

कृतार्थं प्रतिनष्टंप्यनष्टं तदन्य साधारणत्वात् ॥२२॥

kritartham pratinashtam apy anashtam tadanya sadharanatvat ||22||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kṛṭa = vollendet
  • arthaṁ = Ziel, Sinn, Zweck
  • prati = für, zu
  • naṣṭam = zerstört, nicht vorhanden
  • apy = obgleich, trotzdem
  • anaṣṭaṁ = nicht zerstört, vorhanden, bestehen bleiben
  • tat = als das
  • anya = andere
  • sādhāranatvāt = da es allgemein ist, Allgemeingültigkeit

Kommentar

Mit anderen Worten, für den, der die Selbstverwirklichung vollständig erreicht hat, das letzte karma ausgearbeitet hat, gibt es das Universum nicht mehr. Dann ist prakriti verschmolzen mit purusha, dem Selbst, und er ist auf ewig befreit. Aber für die anderen existiert die prakriti weiter.

Audio

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Kapitel 2, Vers 23

Deutsche Übersetzung:

Der Zweck der Verbindung von purusha und prakriti ist, daß purusha Bewußtsein seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte erkennt, die in ihm und in prakriti liegen.

Sanskrit Text:

svasvāmi-śaktyoḥ svarūp-oplabdhi-hetuḥ saṁyogaḥ ||23||

स्वस्वामिशक्त्योः स्वरूपोप्लब्धिहेतुः संयोगः ॥२३॥

svasvami shaktyoh svarup oplabdhi hetuh sanyogah ||23||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sva = eigene, hier: das wandelbare, Chitta, Prakriti
  • svāmi = Meister, das wahre Selbst, Drashtu, Atma
  • śakti = Kraft, Energie, das wandelbare Selbst, Chitta
  • svarūpa = eigene Form, wahre Natur
  • upalabdhi = erfahren, hervortreten, sich zeigen
  • hetu = Ursache, Grund, Zweck
  • saṁyoga = Verbindung, Vereinigung, Identifikation

Kommentar

Purusha, das Selbst, das Bewußtsein, verbindet sich mit prakriti. Jeder einzelne von uns identifiziert sich mit einem Teil der prakriti, mit Körper und Geist, und anschließend kommt er wieder heraus. Nun kann man sich fragen, was macht das Ganze für einen Sinn. Warum sind wir überhaupt in die Identifikation, in das Leid gegangen? Verschiedene Philosophiesysteme geben verschiedene Antworten, sogar innerhalb des Yoga. Buddha sagte: Stelle diese Frage nicht, sie ist transzendent und kann mit dem Intellekt nicht beantwortet werden. Die vedanta-Philosophie sagt: Es macht keinen Sinn, so etwas zu fragen, denn es ist gar nichts passiert. Alles war und ist immer Bewußtsein. Die Vorstellung, wir seien im Leiden, ist nur eine Illusion. Die Frage: „Warum sind wir in der Identifikation?“ ist wie zu fragen: „Warum hat eine Krähe Zähne und was ist deren Zweck?“ Die Krähe hat keine Zähne, daher haben sie auch keinen Zweck, und es gibt auch keinen Grund dafür. Genauso ist es mit dem Universum. Es existiert nicht als etwas Getrenntes, ist einfach nur eine Illusion. Zu fragen, welchen Grund, welchen Sinn es haben soll, ist daher sinnlos. Diese Philosophie ist logisch, stringent, aber sie befriedigt einen nicht. Im Bhakti Yoga (Yoga der Hingabe) wird gesagt, das Universum ist lila, Spiel Gottes. Das befriedigt emotional, aber nicht intellektuell. Was wäre das für ein Gott, der spielen will?

Patanjali wählt hier einen Zwischenstandpunkt. Er sagt, purusha und prakriti kommen zusammen, damit purusha wieder das Bewußtsein seiner wahren Natur erlangt, indem er zunächst aus sich heraus- und nachher zu sich zurückkommt. Erst so erkennt er wirklich, wer er ist. Und außerdem erkennt er die Kräfte, die latent in ihm und in der prakriti liegen. Das Ganze hat also einen Sinn. Er kommt nachher zurück zu sich selbst, klüger als vorher. Das befriedigt uns emotional, ist aber logisch nicht ganz schlüssig. Denn wenn purusha tatsächlich reines Bewußtsein an sich ist, dann ist in diesem Bewußtsein alles Wissen immer schon vorhanden. Trotzdem, purusha geht aus irgendeiner avidya (Unwissenheit) heraus ins Universum hinein, und durch den Lebenszyklus erkennt er seine wahre Natur immer mehr. Er erkennt die Kräfte, die in ihm und in der prakriti liegen. In diese Identifikation hinein- und dann wieder hinauszugehen ist etwas Sinnvolles. Den meisten Menschen fällt es leichter, eine solche Erklärung und Sichtweise anzunehmen als die des vedanta.

Patanjali fährt fort:

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Kapitel 2, Vers 24

Deutsche Übersetzung:

Die Ursache dieser Verbindung ist avidya, Unwissenheit.

Sanskrit Text:

tasya hetur-avidyā ||24||

तस्य हेतुरविद्या ॥२४॥

tasya hetur avidya ||24||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • hetu = Ursache
  • avidyā = Unwissenheit, mangelnde Erkenntnisfähigkeit

Kommentar

Aufgrund von Unwissenheit identifiziert sich purusha in die prakriti, verliert sich dort selbst, kommt in die Unwissenheit und somit ins Leiden, ist dem karma unterworfen. Dann müssen irgendwelche Ereignisse kommen, die ihn wieder an seinen Zustand des wahren Seins erinnern, und prakriti hilft ihm nun, daß er nicht darin hängen bleibt. Das ist die Geschichte unseres Daseins!

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Kapitel 2, Vers 25

Deutsche Übersetzung:

Durch das Überwinden der Unwissenheit verschwindet diese Verbindung (von purusha und prakriti), und der Sehende erreicht die Befreiung.

Sanskrit Text:

tad-abhābāt-saṁyoga-abhāvo hānaṁ taddṛśeḥ kaivalyam ||25||

तदभाबात्संयोगाभावो हानं तद्दृशेः कैवल्यम् ॥२५॥

tad abhabat sanyoga abhavo hanam taddrisheh kaivalyam ||25||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = dessen
  • abhāva = Überwindung, Verschwinden
  • saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Identifikation
  • abhāva = Verschwinden, Überwindung
  • hāna = aufgeben, aufhören
  • tat = das, dessen
  • dṛśeḥ = des Sehers
  • kaivalya = Befreiung, Erlösung

Kapitel 2, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

Das Mittel, avidya zu überwinden, ist viveka kyhati (ungebrochenes Unterscheidungsvermögen).

Sanskrit Text:

viveka-khyātir-aviplavā hānopāyaḥ ||26||

विवेकख्यातिरविप्लवा हानोपायः ॥२६॥

viveka khyatir aviplava hanopayah ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viveka = Unterscheidungskraft, Differenzierung, Auseinanderhalten
  • khyāti = Erkenntnis, Begreifen
  • a-viplava = ununterbrochen, ständig, gerichtet
  • hāna = Ziel, Ende
  • upāya = Mittel
  • hanopāya = Mittel zum Ziel

Kommentar

Viveka kyati ist mehr als Unterscheidungsvermögen, es ist die Lebenseinstellung des Unterscheidungsvermögens, andauerndes Unterscheidungsvermögen.

Patanjali meint hier die Unterscheidung zwischen purusha und prakriti. Es ist die ständige Unterscheidung zwischen dem, was ich wirklich bin, dem Objekt des Sehens und dem Instrument der Wahrnehmung (Körper und Geist). Ich bin das Bewußtsein. Gedanken, Gefühle und Bilder sind die Instrumente der Wahrnehmung, und das Äußere ist das Wahrgenommene, das Objekt. Wenn ich mich also zum Beispiel ärgere, dann weiß ich, mein eigentliches Ich ist davon unberührt. Ich kann feststellen, der Ärger ist eine Manifestation des Instruments der Wahrnehmung, eben meines Geistes, und er beruht darauf, daß bestimmte äußere wahrgenommene Sachen nicht so sind, wie das Instrument der Wahrnehmung es gerne hätte. Sich dessen immer bewußt zu sein, diese Unterscheidung zu machen, das ist dieses viveka kyati, das Patanjali hier beschreibt.

Es gibt natürlich noch eine andere Unterscheidungskraft, eine relative viveka. Das ist die Unterscheidung zwischen dem wahren Glück und dem Leid, zwischen dem, was uns zum Glück führt und was zum Leid, was ewig ist und was vergänglich u.s.w.

Im samkhya-System gilt viveka kyati als das Mittel schlechthin, avidya zu zerstören. Es gibt auch Methoden, wie wir viveka schärfen können, zum Beispiel die sakshi-bhav-Techniken des Beobachtens, wo wir lernen, etwas wahrzunehmen und zu beobachten, zum Beispiel ein Gefühl, einen Gedanken, ein Geräusch, und gleichzeitig feststellen: Ich bin nicht das Wahrgenommene. Allmählich stellen wir fest: Ich bin der Beobachter, ich bin nicht das Beobachtbare. Die vipassanaMeditation, die Beobachtungsmeditation der Buddhisten, ist eigentlich keine urbuddhistische Methode, sondern sie ist als sakshi bhav im Yoga schon lange vorher bekannt. Das umfaßt sowohl eine Meditationstechnik als auch eine Lebenseinstellung wie auch Unterscheidungskraft in jeder Situation. Wenn wir uns darin wieder und wieder üben, verliert sich langsam diese Bindung an die prakriti. Man beobachtet und erkennt, hier ist ein Mensch, der denkt, handelt, fühlt, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin das Bewußtsein dahinter, der Beobachter. Man kann auch sagen, ich bin etwas anderes als dieser Körper. Ich bin jemand anders als diese Gedanken und diese Gefühle, denn die kann ich alle wahrnehmen. Das kann man schulen und mit der Zeit immer mehr fühlen. So kommen wir zur Befreiung. Ein Selbstverwirklichter lebt ständig in diesem Bewußtsein.

Hier könnten die Aphorismen des Patanjali eigentlich zu Ende sein. Er hat uns bis hierher schon so viel beigebracht. Jetzt macht er es uns noch einfacher, mindestens bis zum Ende des 2. Kapitels, wo er leichtere, konkretere und praktischere Techniken gibt. Denn jetzt folgen die acht Stufen des Raja Yoga, die ashtangas.

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Kapitel 2, Vers 27

Deutsche Übersetzung:

Erleuchtung wird in sieben Stufen erreicht.

Sanskrit Text:

tasya saptadhā prānta-bhūmiḥ prajña ||27||

तस्य सप्तधा प्रान्तभूमिः प्रज्ञ ॥२७॥

tasya saptadha pranta bhumih prajna ||27||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = dieser
  • saptadhā = siebenfältig
  • prānta = Pfad, Weg, Grenzpfad, Kante
  • bhūmiḥ = Stufe
  • prajñā = Erkenntnis

Kommentar

Gemeint sind die acht Stufen des Raja Yoga. Er sagt sieben, denn die achte ist schon samadhi (Erleuchtung, überbewußter Zustand). Über die ersten sieben Stufen, nämlich yama, niyama, asana, pranayama, pratyahara, dharana, dhyana kommen wir zur Erleuchtung, zu samadhi.

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Kapitel 2, Vers 28

Deutsche Übersetzung:

Durch die Übung der verschiedenen Stufen des Yoga verschwinden die Unreinheiten, das Licht des Wissen erstrahlt und es entsteht ununterbrochenes Unterscheidungsvermögen.

Sanskrit Text:

yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir-āviveka-khyāteḥ ||28||

योगाङ्गानुष्ठानादशुद्धिक्षये ज्ञानदीप्तिराविवेकख्यातेः ॥२८॥

yoga anga anushthanad ashuddhi kshaye jnana diptir aviveka khyateh ||28||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • yoga = Yoga
  • āṅga = Glieder, Teil
  • anuṣṭhāna = Übung, Praxis
  • aśuddhi = Unreinheit
  • kṣaye = überwinden, reduzieren, zerstören
  • jñāna = Wissen, Weisheit
  • dīpti = leuchten, strahlen, Licht
  • ā = endlos, unbegrenzt
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • khyāti = ununterbrochen, fortwährend

Kommentar

Hier beschreibt Patanjali, was alles geschieht, während wir Yoga üben:

Wir zerstören Unreinheiten, merzen sie aus. Das ist ein großer Teil des Yoga. Dann kommt jnâna dîpti, das Licht des Wissens, oft auch als „spirituelle Erleuchtung“ übersetzt. Damit kommen auch spirituelle Erfahrungen, Intuition, ein gewisses Gefühl für das Selbst. All das führt zu viveka khyâti, ungebrochener Unterscheidungskraft zwischen dem, was wir nicht sind und dem, was wir sind.

Über diese sieben beziehungsweise acht Stufen kommen wir langsam zu diesem Zustand von viveka khyâti. Im tiefsten, letzten Stadium ist viveka khyâti nämlich nicht mehr intellektuell, sondern tatsächliche Unterscheidung zwischen unserem Selbst und unserem Geist. Das ist die tiefste Form von viveka khyâti, die schließlich zur Selbstverwirklichung führt.

Im folgenden geht er näher auf diese Stufen ein.

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Kapitel 2, Vers 29

Deutsche Übersetzung:

Yama, niyama, asana, pranayama, pratyahara, dharana, dhyana und samadhi sind die acht Glieder.

Sanskrit Text:

yama niyama-āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo-‚ṣṭāvaṅgāni ||29||

यम नियमासन प्राणायाम प्रत्याहार धारणा ध्यान समाधयोऽष्टावङ्गानि ॥२९॥

yama niyama asana pranayama pratyahara dharana dhyana samadhayo ’shtavangani ||29||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • yama = ethische Ratschläge oder Vorschriften im Umgang mit anderen
  • niyama = ethische Ratschläge für unser Privatleben
  • āsana = Stellung
  • prāṇāyāma = Atembeherrschung, Harmonie mit der Lebensenergie
  • pratyāhāra = Zurückziehen der Sinne, Harmonie mit den Emotionen
  • dhāraṇā = Konzentration, Harmonie mit den Gedanken
  • dhyāna = Versenkung, Meditation, Kontemplation
  • samādhaya = Ekstase, Samadhi, Ziel des Yoga, Erleuchtung, überbewusster Zustand
  • aṣṭa = acht
  • aṅga = Glieder

Kommentar

yama = ethische Ratschläge oder Vorschriften im Umgang mit anderen
niyama = ethische Ratschläge für unser Privatleben
asana = Stellung
pranayama = Atmung, Herrschaft über das prana
pratyahara = Zurückziehen der Sinne
dharana = Konzentration
dhyana = Meditation
samadhi = Überbewußtsein

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Kapitel 2, Vers 30

Deutsche Übersetzung:

Die yamas bestehen aus Nicht-Verletzen, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Enthaltsamkeit und Unbestechlichkeit.

Sanskrit Text:

ahiṁsā-satya-asteya brahmacarya-aparigrahāḥ yamāḥ ||30||

अहिंसासत्यास्तेय ब्रह्मचर्यापरिग्रहाः यमाः ॥३०॥

ahimsa satya asteya brahmacharya aparigrahah yamah ||30||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • ahiṁsā = nicht verletzen, Gewaltlosigkeit
  • satya = Wahrhaftigkeit, die Wahrheit sagen, nicht lügen
  • asteya = nicht stehlen
  • brahma = Gott, ein höheres Ideal
  • carya = wandeln in
  • brahmacarya = Wandeln im Bewusstsein eines höheren Ideals, im Bewusstsein Gottes handeln, Mönch-Sein, das Zölibat
  • leben, Enthaltsamkeit
  • aparigrahā = Unbestechlichkeit, nicht Horten, Anspruchslosigkeit
  • yamā = Regeln im Umgang mit anderen