Kapitel 3, Vers 46

Deutsche Übersetzung:

Daraus entspringen Fähigkeiten wie den Körper winzig klein zu machen sowie Vollkommenheit und Unverwundbarkeit des Körpers.

Sanskrit Text:

tato-‚ṇimādi-prādurbhāvaḥ kāyasaṁpat tad-dharānabhighātśca ||46||

ततोऽणिमादिप्रादुर्भावः कायसंपत् तद्धरानभिघात्श्च ॥४६॥

tato ’nimadi pradurbhavah kayasanpat tad dharanabhighatscha ||46||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • aṇiman = Fähigkeit, den Körper winzig klein zu machen
  • prādurbhāvaḥ = Erscheinung, Auftauchen, Entspringen
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit
  • tat = von diesem, dessen
  • dharma = Funktion, Aufgabe, Pflichterfüllung
  • anabhighāta = Nichtüberwältigung, Unverwundbarkeit
  • ca = und

Kommentar

Hier spricht Patanjali die acht maha siddhis, die großen Kräfte, an. Diese sind:

  • Fähigkeit, winzige Größe anzunehmen, sich zu verkleinern zum Atom
  • Fähigkeit zu kolossaler Größe
  • Fähigkeit zu Schwerelosigkeit
  • Fähigkeit, sich ganz schwer zu machen, zu großem Gewicht
  • Jede Wunscherfüllung und alles Wissen
  • Eintritt in den Körper eines anderen
  • Unbehinderter Wille
  • Göttliche Macht

Auf eine gewisse Weise bekommen wir diese acht Fähigkeiten auch im Kleinen am Anfang unseres spirituellen Weges. Was bedeuten diese acht maha siddhis für den spirituellen Alltag?

Wir sind in der Lage, winzige Größe anzunehmen. Es macht uns zum Beispiel nichts aus, die Toiletten zu putzen und ähnliche Arbeiten zu verrichten oder uns mal tadeln zu lassen.

Aber gleichzeitig auch zu kolossaler Größe: Wenn wir aufgefordert werden, vor fünfhundert Leuten einen Vortrag zu halten oder große Verantwortung zu übernehmen, dann machen wir das halt.

Meistens fällt uns das letztere schwerer als das erste. Aber wir können beides. Und wir verhaften uns an keines von beidem.

Schwerelosigkeit: Wir können uns an andere anpassen, wir brauchen nicht immer diese große Schwere zu haben, wo es um uns selbst geht. Wir sind in der Lage, auch mal das zu tun, was die anderen wollen und doch ganz autonom zu bleiben.

Großes Gewicht: Wir können wenn nötig auch auf unserem Standpunkt beharren, uns durchsetzen.

Wir haben die Fähigkeit zu jedem Wunsch oder Wissen. Wir können uns ab und zu unsere Wünsche erfüllen. Umgekehrt heißt Herrschaft über den Wunsch auch, daß wir in der Lage sind, den Wunsch nicht zu erfüllen. Beides gehört zum Yogi. Er ist in der Lage, sich mal einen Wunsch zu erfüllen und alles Mögliche dafür zu tun, er ist aber auch in der Lage, den Wunsch nicht zu erfüllen, ohne sich deshalb frustriert zu fühlen. Und damit erwirbt er auch das Wissen, das er braucht.

Eintritt in den Körper eines anderen bedeutet im übertragenen Sinn: Man kann sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, mit ihm fühlen, wie schon weiter oben besprochen.

Unbehinderter Wille und göttliche Macht: Durch regelmäßige Übung der Yogapraktiken, Innenschau, Hingabe an Gott, Anwendung der Raja Yoga-Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung entwickeln wir allmählich eine starke Willens- und Gedankenkraft.

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Kapitel 3, Vers 47

Deutsche Übersetzung:

Vollkommenheit des Körpers ist Schönheit, Anmut, Kraft und diamantene Festigkeit.

Sanskrit Text:

rūpa-lāvaṇya-bala-vajra-saṁhananatvāni kāyasaṁpat ||47||

रूपलावण्यबलवज्रसंहननत्वानि कायसंपत् ॥४७॥

rupa lavanya bala vajra sanhananatvani kayasanpat ||47||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • rūpa = Schönheit, richtige Gestalt
  • lāvaṇya = Anmut
  • bala = Stärke, Kraft
  • vajra = Diamant, Donnerkeil
  • saṁhana-natvāni = Härte, Festigkeit
  • kāya = physischer Körper
  • saṁpat = Vollkommenheit

Kommentar

Durch die Konzentration auf die Elemente kann man das alles bekommen, wenn man will. Da der Körper aus den Elementen besteht, kann man ihn durch Konzentration auf die Elemente vervollkommnen.

Es gibt eine Tradition im Hatha Yoga, deren Hauptziel es ist, den physischen Körper unsterblich zu machen. Wobei damit nicht wirklich unsterblich gemeint ist, sondern die Absicht, ihn möglichst lange jung, gesund und leistungsfähig zu erhalten. Zu den spezifischen Techniken dabei gehören in Abständen von einigen Jahren jeweils mehrere Monate dauernde „Verjüngungskuren“ mit allen möglichen kriyas (Reinigungshandlungen), mudras, asanas, wo vor allem Kopfstand und Schulterstand sehr sehr lange gehalten werden, mit besonderer Diät und Kräutern, und auch die Elementekonzentration. Durch die Elementekonzentration bekommt man Herrschaft über die Elemente, und so kann man den physischen Körper etwas länger erhalten.

Heutzutage gibt es Menschen, die ihre Zellen unsterblich machen wollen. Ich persönlich sehe keinen großen Sinn darin. Ob der physische Körper nun ein paar Jahrzehnte länger lebt oder nicht, was bedeutet das schon? Das Selbst ist unsterblich.

Trotzdem, die Herrschaft über den Körper kann über die Elementekonzentration erreicht werden.

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Kapitel 3, Vers 48

Deutsche Übersetzung:

Ausführung des samyama auf die Wahrnehmungskraft, ihre eigene Natur, die Beziehung zu ihrer Funktion und zum Ego führt zur Herrschaft über die Sinne.

Sanskrit Text:

grahaṇa-svarūpa-asmitā-avaya-arthavattva-saṁyamāt-indriya jayaḥ ||48||

ग्रहणस्वरूपास्मितावयार्थवत्त्वसंयमातिन्द्रिय जयः ॥४८॥

grahana svarupa asmita avaya arthavattva sanyamat indriya jayah ||48||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • grahaṇa = Wahrnehmung
  • svarūpa = eigene Natur, tatsächliche Form
  • asmitā = Egoismus, Selbstbezogenheit
  • anvaya = Verbindung
  • arthavattva = Zweckdienlichkeit, Funktion
  • saṁyama = tiefe Versenkung, Meditation
  • indriya = Sinnesorgane
  • jayaḥ = Herrschaft, Sieg, Meisterschaft

Kommentar

Auf diese Weise könnte man Hören, Sehen, Riechen u.s.w. verbessern.

Aber die Meisterung ist hier zweifach zu verstehen.

Zum einen kann man die Sinnesorgane besser benutzen und zum zweiten kann man sie auch besser beherrschen.

Samyama ausführen auf die Kraft der Wahrnehmung heißt, ganz bewußt etwas anzuschauen und sich dabei auf die Wahrnehmungskraft zu konzentrieren. Oder man kann sich auf die wahre Natur der Kraft der Wahrnehmung als solches konzentrieren, auf ihre Beziehung zu unserem Ego, auf ihre Funktion und schließlich auf ihre Beherrschung. Das enthüllt einem dann intuitiv, wie man das Organ beherrscht, so daß man nicht mehr durch das Organ nach draußen gezogen wird. Zum anderen können wir damit erreichen, daß die Organfunktion besser erfüllt wird.

Vielleicht eine praktische Anwendung für Menschen, die sehr am Essen hängen. Wir sind ja in unserer Zivilisation eine Gesellschaft von Eßgestörten. Viele denken, sie seien zu dick, manche denken, sie seien zu dünn. Fast niemand meint, das richtige Gewicht zu haben. Etwa 10 % der weiblichen Jugendlichen, nach anderen Untersuchungen sogar 20 %, haben die Eß-Brechsucht oder die Freß-Fastsucht, sind also sehr essensgestört. Vieles kompensieren wir über das Essen. Nur noch im Zusammenhang mit Essen spricht man von „Sünden“.

Diesen Sinn kann man beherrschen, indem man samyama ausführt auf den Geschmack an sich. Was ist Geschmack an sich? Was ist die Natur des Schmeckens? Wie bezieht sich mein Ego auf dieses Schmecken? Was bedeutet für mich Beherrschung dieses Geschmacksinns? Und was ist eigentlich die ursprüngliche Funktion des Geschmacksinns? Das kann man zunächst einmal als Anlaß nehmen für swadhyaya, für Selbststudium, logisches Nachdenken. Das ist noch nicht samyama. Auch das kann schon helfen. Paradoxerweise, wenn ich jetzt darüber schreibe, sammelt sich Speichel im Mund. Geht es dir auch so? – Die Kraft des Geistes! Man schreibt nur über Geschmack und die Kraft der Wahrnehmung – wenn du dir noch dazu einen Obstkuchen oder eine saftige Mango vorstellst ….! Danach geht man über das Nachdenken hinaus, führt samyama darüber aus, das heißt, man spürt einfach und geht in das hinein, worüber man vorher nachgedacht hat. Man versucht, die Natur des Schmeckens, des Geschmacksinns, seine Funktion, die persönliche Beziehung dazu u.s.w. jetzt intuitiv zu erfassen. So kann man den Eßsinn beherrschen, wenn man will.

Aber statt zu versuchen, den Eßsinn zu beherrschen, ist es meist sinnvoller, nicht mehr zu denken, man müsse aussehen wie eine Barbiepuppe.

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Kapitel 3, Vers 49

Deutsche Übersetzung:

Daraus entsteht Schnelligkeit des Geistes, außersinnliches Wissen und Herrschaft über die Natur.

Sanskrit Text:

tato mano-javitvaṁ vikaraṇa-bhāvaḥ pradhāna-jayaś-ca ||49||

ततो मनोजवित्वं विकरणभावः प्रधानजयश्च ॥४९॥

tato mano javitvam vikarana bhavah pradhana jayash cha ||49||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher, davon
  • mano = Geist, Verstand
  • javitvaṁ = Schnelligkeit
  • vikaraṇa = Werkzeuge, hier: die Sinnesorgane
  • bhāvaḥ = Befreiung, Unabhängigkeit
  • pradhāna = Materie, Natur, Schöpfung
  • jaya = Herrschaft, Meisterschaft, Sieg
  • ca = und

Kommentar

Wer die Sinnesorgane meistert, kann darüber die Fähigkeit zur direkten Wahrnehmung ohne Sinne erwerben. Patanjali sagt hier, wir bekommen direktes Wissen ohne Einschaltung des Geistes, einfach indem wir uns in etwas hineinversetzen. Aber wir können ebenso, wenn wir unseren Geist beherrschen, ihn ohne die Sinne zu einem Objekt oder einem Wesen hinschicken und es so intuitiv wahrnehmen. Auch bei geschlossenen Augen können wir zum Beispiel in einen Raum nebenan schauen.

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Kapitel 3, Vers 50

Deutsche Übersetzung:

Nur durch die Verwirklichung des Unterschiedes zwischen sattva und purusha erlangt man die Beherrschung aller Daseinsformen und Allwissenheit.

Sanskrit Text:

sattva-puruṣa-anyatā-khyātimātrasya sarva-bhāvā-adhiṣṭhātṛtvaṁ sarva-jñātṛtvaṁ ca ||50||

सत्त्वपुरुषान्यताख्यातिमात्रस्य सर्वभावाधिष्ठातृत्वं सर्वज्ञातृत्वं च ॥५०॥

sattva purusha anyata khyatimatrasya sarva bhava adhishthatritvam sarva jnatritvam cha ||50||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Reinheit, eine der drei guṇas, physische Welt
  • puruṣa = das wahre Selbst
  • anyata = Unterschied
  • khyāti = Erkenntnis, Verwirklichung
  • mātrasya = nur daraus
  • sarva = alle
  • bhāva = Gefühle, Emotionen
  • adhiṣṭhāṭṛtvaṁ = Vorherrschaft, Beherrschung, Allmacht
  • sarva = alle
  • jñātṛṭva = Weisheit, Wissen
  • ca = und

Kommentar

Diese Unterscheidung zwischen unserem wahren Selbst, purusha, und sattva, der Reinheit, hatten wir schon einmal. Reinheit ist das, womit man sich als spiritueller Aspirant gerne identifiziert: Freude, Wonne, Schönheit, Reinheit, Wissen, Licht, Liebe und all das. Sattva ist zwar positiver als rajas und tamas, aber auch die Identifikation mit sattva ist und bleibt eine Identifikation, die uns bindet. Und letztlich kann es einem nie gelingen , sein Leben wirklich in jeder Hinsicht und vollständig sattvig zu machen. Denn sattva ist eine guna (Eigenschaft der Natur), und die gunas sind parinama, d.h., in ständiger Veränderung. So ist alles im Leben mal schön, mal nicht so schön – sattva, rajas und tamas lösen sich ab. Man sollte also nach mehr sattva streben, aber unverhaftet bleiben.

Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen diesen wunderschönen sattvigen Visionen, den wunderschönen Wonneerfahrungen der anandamaya kosha oder auch samprajnata samadhi und unserem wahren Selbst. Indem wir uns auf diesen Unterschied zwischen sattva und purusha konzentrieren, erreichen wir Allwissenheit. Denn sattva gilt als erste Manifestation der prakriti (Schöpfung, Natur), die von purusha ausging. Indem wir den Unterschied zwischen sattva und purusha erfassen, kommen wir zurück zu diesem Urpunkt, von dem die Schöpfung und unsere eigene Verwicklung in prakriti ausgeht. Wir erkennen intuitiv das Prinzip, das Warum und Wie der Schöpfung. Was jetzt nicht notwendigerweise heißt, daß wir es wirklich in allen Details wissen – dazu müssen wir nochmals die spezifischen samyamas ausführen –, aber wir haben das generelle Wissen darüber, die richtige Antwort auf die Frage: Warum ist das Universum zustandegekommen? Was ist die Ursache für das Universum? Die richtige Antwort ist dann jedoch nicht in Worte zu fassen. Verwirkliche den Unterschied zwischen purusha und sattva, dann weißt du es!

Das zweite wichtige Stichwort ist Allmacht. Allmacht des purusha ist auf zwei Weisen zu verstehen. Einmal hat der routinierte Yogi jetzt alle siddhis, das ist der machtvollste Zustand. Er kehrt zurück zum Beginn der Schöpfung, ist in diesem Urprinzip, und hat von daher die Fähigkeit, alles in der Schöpfung zu ändern. Aber insbesondere hat er die Fähigkeit, die Schöpfung zu verlassen, wenn und wann er will, d.h., in nirvikalpa samadhi, asamprajnata samadhi, einzugehen oder auch wieder zurückzukehren, wenn er weiß, daß der Körper noch karma abzuarbeiten hat. Er hat diese ursprüngliche Macht zurückgewonnen, in die Welt hinein- und aus der Welt herauszugehen.

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Kapitel 3, Vers 51

Deutsche Übersetzung:

Durch Nichtanhaften sogar an diese (Allmacht und Allwissenheit) kommt die Zerstörung des Samens der Unreinheit und man erlangt Befreiung.

Sanskrit Text:

tad-vairāgyād-api doṣa-bīja-kṣaye kaivalyam ||51||

तद्वैराग्यादपि दोषबीजक्षये कैवल्यम् ॥५१॥

tad vairagyad api dosha bija kshaye kaivalyam ||51||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = an sie
  • vairāgya = Verhaftungslosigkeit, Gelassenheit, Nichtanhaften
  • api = sogar
  • doṣa = Unreinheit, Dysbalancen
  • bīja = Samen, Grundlage
  • kṣaya = Zerstörung
  • kaivalya = Befreiung, Erleuchtung

Kommentar

Mit der Verwirklichung des Unterschiedes zwischen purusha und sattva, dem subtilsten Teil von prakriti, hat der Yogi vollkommene Allmacht erlangt. Wenn er sich daran nicht verhaftet, tad-vairagyad, also auch diesem entsagt, dann kommt der Yogi zu kaivalya, zur Befreiung. Api dosha bija kshaye: Der letzte Samen der Bindung wird zerstört.

Jetzt kommt noch einmal eine Warnung:

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Kapitel 3, Vers 52

Deutsche Übersetzung:

Laden ihn himmlische Wesen ein, sollte der Yogi Vergnügen oder Stolz vermeiden; denn es droht die Wiederbelebung des Unerwünschten.

Sanskrit Text:

sthāny-upa-nimantraṇe saṅga-smaya-akaraṇaṁ punar-aniṣṭa-prasaṅgāt ||52||

स्थान्युपनिमन्त्रणे सङ्गस्मयाकरणं पुनरनिष्टप्रसङ्गात् ॥५२॥

sthany upa nimantrane sanga smaya akaranam punar anishta prasangat ||52||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sthāni = himmlisches Wesen
  • upanimantraṇe = eingeladen
  • saṅga = Anhaftung
  • smaya = Stolz, Gefallen
  • akaraṇaṁ = er soll vermeiden, nicht annehmen
  • punaḥ = wieder, noch einmal
  • aniṣṭa = Unerwünschtes, Schlechtes
  • prasaṇgāt = aus dem Kontakt

Kommentar

Es gibt, wie bereits besprochen, verschiedene Versuchungen durch astrale Wesen. Es kommen Wesen in Engelsgestalt, wunderschöne gandharvas (Engelswesen, himmlische Musikanten) und apsaras (himmlische Wesen, Gemahlinnen der gandharvas) u.s.w., mit herrlicher Musik, die einem himmlische Erfahrungen, Gefühle, Bilder versprechen, einem die Gesetze verschiedener Ebenen lehren wollen. Da gilt es, vorsichtig zu sein, denn das ist nicht das Ziel! Und vor allem muß man sich vor dem Aufblähen des Egos hüten.

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Kapitel 3, Vers 53

Deutsche Übersetzung:

Durch samyama auf einen Augenblick und seine Folge erreicht man aus Unterscheidungskraft geborenes Wissen.

Sanskrit Text:

kṣaṇa-tat-kramayoḥ saṁyamāt vivekajaṁ-jñānam ||53||

क्षणतत्क्रमयोः संयमात् विवेकजंज्ञानम् ॥५३॥

kshana tat kramayoh sanyamat vivekajam jnanam ||53||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kṣaṇa = Augenblick, kleinste vorstellbare Zeiteinheit, Moment
  • tat = seine
  • krama = Folge, Abfolge
  • saṁyama = durch tiefe Versenkung, Meditation
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • jam = kommend aus, aus
  • jñāna = Wissen, Verständnis

Kommentar

Wenn man einen bestimmten Augenblick, nämlich diesen Moment, dieses Jetzt, bewußt wahrnimmt, und sich bewußt wird, was daraus entstehen könnte, dann bekommt man Unterscheidungskraft. Man merkt, was da ist, was für einen Wunsch man zum Beispiel gerade hat. Dann kann man sich konzentrieren auf diesen Augenblick, wo man gerade dabei ist, eine Dummheit zu begehen. Und man konzentriert sich auf die Folge. Dann kommt die Unterscheidungskraft: Lieber nicht – in Anlehnung an einen Vers aus dem zweiten Kapitel (II 16): „Heyam duhkham anagatam“, „Leid, das sich noch nicht manifestiert hat, sollte vermieden werden“ – ein wichtiger Vers, den wir öfter vergessen.

Viele Menschen machen das leider nicht – einen Augenblick innezuhalten und sich auf die Folgen und Auswirkungen eines Wunsches oder einer Handlung zu konzentrieren –, sondern sie tun es einfach. Das ist die einfache Interpretation dieses Verses.

Er hat aber auch eine tiefere, philosophischere Ebene. Wenn man über den Augenblick und seine Folge nachdenkt, kommt man zur letzten Unterscheidungskraft, nämlich, daß Zeit eine Illusion ist.

Er ist im Kleinen anzuwenden wie auch im Großen, wie fast alle Verse des dritten Kapitels.

Eine weitere interessante Interpretation hat Swami Vishnu gerne genannt: Lebe im Hier und Jetzt. Konzentriere dich auf das Jetzt, statt immer in der Zukunft zu leben. Überlege nicht immer wieder: Was könnte ich noch machen, was muß ich noch tun, ich werde glücklich sein, wenn…

Auch mir geht es mit dem Yoga Vidya Ashram hier so. Ich denke immer, wenn die und die Mitarbeiter so und so lange da sind, sich in dieses und jenes Gebiet eingearbeitet und richtig eingelebt haben und wenn die Mannschaft vollständig ist, dann wird alles glatt laufen. Eigentlich müßte ich es besser wissen. Ich bin jetzt seit mehr als 20 Jahren in solchen Yogazentren, und es war nie so gewesen, daß alles ideal lief.

Man denkt, in Zukunft wird es so sein, anstatt jetzt im Augenblick, in diesem Moment zu sein, zu leben, zu genießen. Deshalb bemühe ich mich immer wieder darum, diesen Moment, mit allem Chaos, das ab und zu herrscht, als das Leben anzunehmen. Swami Vishnu sagte: „Chaos muß herrschen, dann kann sich das karma richtig ausarbeiten. Sobald alles unter Kontrolle ist, lernt man nichts Neues mehr.“ Swami Vishnu hat in den Sivananda Zentren auch immer für Chaos gesorgt, wenn es irgendwo einmal funktioniert hat. Wenn wir in einem Center mal ein Team hatten, in dem sich alle gut verstanden haben, konnte man sicher sein, daß Swami Vishnu bald anrufen und denjenigen versetzen würde, der für die Harmonie im Team vielleicht am notwendigsten war. Oder er versetzte einen neuen Mitarbeiter dorthin, der ein richtiger Unruhestifter war und sich woanders hoffnungslos mit allen überworfen hatte. Viele solcher Dinge hat Swami Vishnu im Bewußtsein gemacht, Diener und Kanal Gottes zu sein.

Wir können uns nicht ausruhen, sondern wir lernen, immer wieder im Moment zu sein, zu tun, was jetzt in diesem Moment notwendig ist, und wir lernen, alle Verhaftungen aufzugeben. Wir müssen immer wieder bereit sein, Projekte oder unsere Aufgaben aufzugeben, etwas anderes zu tun, wenn es notwendig ist, ohne uns dabei zu verheddern. Indem wir Konzentration auf den Augenblick üben: Was liegt in dem Moment an? Was ist in dem Moment zu tun? Was lerne ich in dem Moment? Wie manifestiert sich Gott in diesem Moment? Wie offenbart er sich in diesem Moment? bekommen wir Unterscheidungskraft.

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Kapitel 3, Vers 54

Deutsche Übersetzung:

So kommt das Wissen um den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten, deren Unterschied nicht durch Art, Merkmale oder Ort bestimmt werden kann.

Sanskrit Text:

jāti-lakṣaṇa-deśaiḥ anyatā-anavacchedāt tulyayoḥ tataḥ pratipattiḥ ||54||

जातिलक्षणदेशैः अन्यतानवच्छेदात् तुल्ययोः ततः प्रतिपत्तिः ॥५४॥

jati lakshana deshaih anyata anavachchhedat tulyayoh tatah pratipattih ||54||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • jāti = Art
  • lakṣaṇa = Merkmal, Eigenschaft
  • deśa = Ort, Position
  • anyata = Unterschied
  • anavacchedāt = infolge der Abwesenheit von Definition
  • tulyayoḥ = über Gleiches, Ähnliches
  • tataḥ = davon, daraus, daher
  • pratipattiḥ = Verständnis, Wissen, Erkenntnis

Kapitel 3, Vers 55

Deutsche Übersetzung:

Das höchste Wissen, geboren aus der Unterscheidungskraft, transzendiert alle Objekte und Sphären auf jede Weise gänzlich und gleichzeitig.

Sanskrit Text:

tārakaṁ sarva-viṣayaṁ sarvathā-viṣayam-akramaṁ-ceti vivekajaṁ jñānam ||55||

तारकं सर्वविषयं सर्वथाविषयमक्रमंचेति विवेकजं ज्ञानम् ॥५५॥

tarakam sarva vishayam sarvatha vishayam akramam cheti vivekajam jnanam ||55||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tāraka = transzendieren, hinübertragen
  • sarva = alle
  • viṣaya = Objekt
  • sarvathā = auf alle Weisen, zu allen Zeiten, gänzlich
  • viṣaya = Objekt
  • akrama = ohne Abfolge, ungeordnet, gleichzeitig
  • ca = und
  • iti = fertig, Ende
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • vivekaja = aus Viveka kommend, aus Unterscheidungskraft
  • jñāna = Wissen, Verständnis

Kommentar

Wenn wir diese Unterscheidungskraft, viveka, gut trainiert haben, wenn wir ganz in der Gegenwart leben, wenn wir uns auf diesen Augenblick und seine Folge bzw. eigentlich sogar auf das Geschehen zwischen Augenblick und Folge konzentrieren, dann sind wir in allem. Aus dieser Unterscheidungskraft transzendieren wir alles.

In dieser viveka stehen wir zwischen purusha und prakriti und haben die Wahl, entweder das Universum als Ganzes gleichzeitig wahrzunehmen – was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Hier, Jetzt und Überall gleichzeitig einschließt – , oder prakriti, die Schöpfung als Ganzes wahrzunehmen, oder uns als reines Bewußtsein in uns zurückzuziehen und einfach nur zu sein, d.h. purusha zu verwirklichen.

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Kapitel 3, Vers 56

Deutsche Übersetzung:

Ist gleiche Reinheit in purusha und sattva, kommt die Befreiung.

Sanskrit Text:

sattva-puruṣayoḥ śuddhisāmye kaivalyam ||56||

सत्त्वपुरुषयोः शुद्धिसाम्ये कैवल्यम् ॥५६॥

sattva purushayoh shuddhisamye kaivalyam ||56||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sattva = Reinheit, eine der drei guṇas, physische Welt
  • puruṣa = Bewusstsein, wahre Natur, wahres Selbst
  • śuddhi = Reinheit
  • sāmya = Gleichheit, Ähnlichkeit
  • kaivalya = Befreiung

Kommentar

Wenn purusha in sich selbst ruht, hört prakriti auf zu arbeiten. Das Universum hört in diesem Augenblick für diese individuelle Manifestation des purusha auf zu existieren. Die Natur hört auf, zu bestehen und der Mensch ist endgültig befreit. Er ruht im Unendlichen. Er ist das Unendliche. Für die anderen, die diese Erfahrung nicht haben, bleibt die Welt jedoch bestehen.

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Kapitel 4, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Siddhis (übernatürliche Kräfte) sind angeboren oder werden durch Kräuter, mantras, Askese-Übungen oder samadhi erlangt.

Sanskrit Text:

janma-oṣadhi-mantra-tapas-samādhi-jāḥ siddhayaḥ ||1||

जन्मओषधिमन्त्रतपस्समाधिजाः सिद्धयः ॥१॥

janma oshadhi mantra tapas samadhi jah siddhayah ||1||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • janma = Geburt, Abstammung
  • oṣudhi = Drogen, Kräuter, Heilpflanzen
  • mantra = Mantra, Klangenergie
  • tapas = Askese, Selbstzucht
  • samādhi = überbewusster Zustand, Ziel des Yoga
  • -jāḥ = entstehen aus, kommen von
  • siddhayaḥ = übernatürliche Kräfte, übernatürliche Fähigkeiten

Kommentar

Diesen Vers haben wir schon behandelt (s. III 15).

Übernatürliche Kräfte kann man nicht nur durch spirituellen Fortschritt erlangen, sondern auch auf anderen Wegen.

Wenn jemand übernatürliche Kräfte zur Schau stellt, kann man zuerst einmal überprüfen, ob er irgendeinen Zaubertrick anwendet. Vieles, was als übernatürlich erscheint, beruht einfach nur auf Taschenspieler- und Schauspielertricks. Swami Vishnu hatte als Jugendlicher das Hobby, den Trick hinter angeblichen übernatürlichen Kräften von Menschen herauszufinden. Als Jugendlicher war er ein großer Skeptiker, der von Spiritualität, Heiligen u.s.w. wenig gehalten hat. Denn es gibt in Indien sehr viele Pseudomeister und Pseudoheilige – und nicht nur in Indien.

Einmal sah er unterwegs, wie jemand auf dem Rücken auf dem Boden lag und einen riesigen Stein auf dem Bauch trug. Alle dachten, das muß ein großer Heiliger sein, haben sich verneigt und ihm Geld gegeben. Swami Vishnu hat sich überlegt: „Wie ist das möglich?“ Und er dachte: „Irgendwann muß der ja mal aufs Klo gehen. Ich warte hier einfach lang genug.“ Gegen Abend kamen Schüler des „Heiligen“ und wollten den Weg absperren. Aber Swami Vishnu weigerte sich, wegzugehen. Es wurde immer später, und irgendwann fragte der Mann, der dort lag: „Du willst jetzt nicht gehen?“ Swami Vishnu antwortete: „Nicht, bevor ich deinen Trick herausgefunden habe.“ – Was ja an sich schon eine Anmaßung ist, jemandem, der als heilig gilt, einen Trick zu unterstellen! Daraufhin fragte der Mann: „Wieviel Geld hast du dabei?“ „Ja, so ein paar Paisas“. „Gut, gib sie mir, dann zeige ich es dir.“ Swami Vishnu gab ihm seine paar Münzen. Der Mann öffnete seine Beine. Zwischen den Oberschenkeln lag ein kleinerer Stein, auf dem der riesige Felsblock so lag, daß es ausgesehen hatte, als ob der Fels auf seinem Oberschenkel und Bauch ruhen würde. Bei solchen Dingen muß man also durchaus kritisch sein.

Swami Vishnu hat öfter versucht, uns zu desillusionieren, und gesagt: „Hört auf mit eurem naiven Glauben.“ Aber er sagte, in Indien sei das auch nicht anders. Einmal wollte er zeigen, wie leicht man auf irgendwelche Vorspiegelungen hereinfällt:

Eines Abends gab er einen öffentlichen Vortrag. Am Ende des Vortrags kam ein sehr asketisch wirkender Inder kurz herein, setzte sich einen Augenblick für eine Meditation hin und ging dann wieder hinaus. Swami Vishnu stellte ihn mit den Worten vor: „Das ist ein ganz großer Yogi aus dem Himalaya. Seit zwanzig Jahren spricht er nicht mehr. Morgen früh wird er zum ersten Mal wieder etwas sagen, aber nur zehn Minuten lang. In diesen zehn Minuten wird er denen, die dann anwesend sind – und es dürfen maximal nur zehn Leute sein – eine Minute lang ganz wichtige Ratschläge geben. Das macht er nur zwischen 2.30h und 2.40h nachts. Jeder, der dabei sein will, muß vorher 2000 Mark bezahlen. Anmeldung ist nicht möglich. Die ersten, die kommen, dürfen rein.“ Das hat er bei einem Vortrag von ungefähr hundert Leuten gesagt. Nachts um ein Uhr warteten über zweihundert Leute vor dem Hotel. Swami Vishnu hat sie alle hereingelassen und den großen Meister enthüllt, der gar kein Inder war, sondern ein Westler, der sich das Gesicht gefärbt hatte. Und er hat gesagt: „So naiv und leichtgläubig seid ihr! Ohne irgend etwas zu prüfen, glaubt ihr sofort, daß jemand im Besitz der alleinigen Weisheit ist.“ Denn die meisten der Zuhörer waren Menschen, die auch Swami Vishnu nicht kannten und gar nicht wissen konnten, ob er selbst überhaupt authentisch war oder nicht. Natürlich hat er ihnen das Geld wieder zurückgegeben und sie darauf hingewiesen, daß sie sich das eine Lektion sein lassen sollten.

Wenn man einen Meister einmal geprüft hat, dann folgt man ihm natürlich. Aber man sollte nicht naiv sein und sich von Showbusiness beeindrucken lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ein Riesen-Showbusiness aufgezogen haben. Mit ein bißchen psychologischer Show kann man die meisten Menschen betrügen. Natürlich, einfach, authentisch zu sein, wirkt aber langfristig besser.

Natürlich gibt es nicht nur Zaubertricks, sondern auch echte siddhis. Aber selbst diese sind kein verläßliches Zeichen dafür, daß jemand tatsächlich ein großer Meister ist. Ethisches Verhalten ist ein viel wichtigeres Zeichen.

Wobei man dabei auch nicht das Kind mit dem Bad ausschütten darf. Selbst hoch entwickelte (aber noch nicht voll verwirklichte) Meister können einmal einer Versuchung erliegen. Das heißt noch lange nicht, daß sie deshalb verachtenswert sind oder daß wir das Recht haben, sie zu verurteilen. Ich habe von spirituellen Lehrern gehört, die zweifellos ernsthaft waren, nie Anspruch auf Vollkommenheit erhoben haben und etwas sehr Großartiges aufgebaut haben. Und plötzlich kam heraus, daß sie einmal in ihrem Leben, vor vielen Jahren irgend etwas Komisches oder nicht hundertprozentig Ethisches gemacht haben. Und schon liefen alle Schüler weg, oder der Lehrer wurde von seinen eigenen Schülern rausgeworfen. Auch bei einer relativ geringfügigen Sache ist ein Meister sofort unten durch, nur, weil er nicht ganz so perfekt ist, wie die Schüler es in ihn hineinprojizieren.

Wir müssen uns also vor verschiedenen Sachen hüten. Zum einen dürfen wir uns nicht von Shows beeindrucken lassen, auch nicht von übernatürlichen Kräften. Aber es gibt auch echte Meister, die trotzdem auch einmal einen Fehler machen. Man muß letztlich schauen: Ist es wirklich nur ein Fehler, oder ist es ein systematisches Vorgehen, bei dem ein Meister seine Schüler und Schülerinnen ausnützt und ruiniert. Das gibt es ja leider auch. Dann wird es sehr unethisch.

Siddhis können auch erlangt werden als Ergebnis der Geburt. Manche Menschen haben siddhis von Geburt an, wahrscheinlich durch karmische Eindrücke aus früheren Leben.

Manche Menschen können Kräfte erzeugen durch Drogen, Pilze, Kräuter und ähnliches.

Es gibt auch Rituale und mantras, mit denen man spezifische übernatürliche Kräfte erzeugt, wie zum Beispiel der Feuerlauf, von dem ich schon berichtet habe.

Ich habe einmal eine kavâdi-Zeremonie zur Verehrung von Shanmug (myth.: anderer Name von Subramanya, dem Sohn Shivas) miterlebt. Dort hat jemand bestimmte Rituale ausführt und anschließend seine Haut mit 108 Speeren durchbohrt und mit einem Metallgestell befestigt (die Speerspitze im Körper, der Schaft im Metallgestell). Anschließend tanzte und sang er zwei Stunden lang. Es floß fast kein Blut, es gab keine Infektionen und innerhalb von wenigen Stunden waren alle Wunden zu. Man sah nichts mehr. Rituale und mantras können also außergewöhnliche Kräfte verleihen. Der Ausführende des Rituals befand sich in einem Trancezustand, jenseits des Normalbewußtseins. Er stellte seinen Körper der Gottheit zur Verfügung. Das ist, neben der Verehrung, der zweite Sinn dieses Rituals: Man stellt sich als Kanal Gottes zur Verfügung, um spirituelle Energie zu verbreiten.

Übungen der Selbstdisziplin, tapas, haben wir bereits besprochen, auch, daß Patanjali die intensive Übung von asanas und pranayama als tapas bezeichnen würde. Wenn man ein paar Monate lang jeden Tag elf bis zwölf Stunden lang pranayama macht, bekommt man bestimmt übernatürliche Kräfte.

Und samadhi bringt natürlich auch übernatürliche Kräfte.

Im nächsten Vers erklärt Patanjali, daß diese scheinbar übernatürlichen Kräfte nicht wirklich übernatürlich sind.

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Kapitel 4, Vers 2

Deutsche Übersetzung:

Die Umwandlungen der Existenzformen kommen vom Fließen der prakriti (Natur) her.

Sanskrit Text:

jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt ||2||

जात्यन्तरपरिणामः प्रकृत्यापूरात् ॥२॥

jaty antara parinamah prakrity apurat ||2||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • jātī = Existenzform, Wesen
  • antara = andere, innere
  • pariṇāma = Wandlung, Verwandlung
  • prakṛti = Schöpfung, Natur, Materie, physisch
  • āpūrāt = durch Füllen, Überfließen, Strömen, Vervollkommnung

Kommentar

Alles, auch die siddhis, geschieht nur aufgrund und in Erfüllung von Naturgesetzen. Alles ist Naturgesetzen unterworfen. Wir kennen nur nicht alle, denn auf anderen Ebenen als der physischen gelten andere Gesetze.

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Kapitel 4, Vers 3

Deutsche Übersetzung:

Eine sichtbare (vom Menschen hervorgerufene) Ursache bewirkt nicht die Vorgänge in der Natur; sondern sie beseitigt nur wie ein Bauer die Hindernisse. (Der Bauer räumt Steine beiseite, um Wasser aus einem Bewässerungskanal auf sein Feld fließen zu lassen).

Sanskrit Text:

nimittam-aprayojakaṁ prakṛtīnāṁ-varaṇa-bhedastu tataḥ kṣetrikavat ||3||

निमित्तमप्रयोजकं प्रकृतीनांवरणभेदस्तु ततः क्षेत्रिकवत् ॥३॥

nimittam aprayojakam prakritinam varana bhedastu tatah kshetrikavat ||3||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • nimitta = sichtbare Ursache
  • aprayojakaṁ = nicht verursachend, nicht zutreffend
  • prakṛti = Natur, Materie, Schöpfung, physisch
  • varaṇa = Hindernis
  • bheda = Beseitigung, Auflösung, spaltet
  • tu = aber
  • tataḥ = davon
  • kṣetrikavat = wie der Bauer

Kommentar

In Indien wird sehr viel künstlich bewässert. Es gibt riesige Bewässerungskanäle. Wenn ein Bauer sein Feld bewässern will, muß er ein paar Steine aus dem Bewässerungskanal herausnehmen, damit das Wasser auf sein Feld gelenkt wird. Die Dorfgemeinschaft stellt genaue Regeln und ein ausgeklügeltes System auf, so daß alle Bauern der Dorfgemeinschaft ihre Felder bewässern können, ohne daß jemand zu viel hat oder zu kurz kommt. Zu einem festgelegten Zeitpunkt nimmt man die Steine weg, die den Kanal zum eigenen Feld verschließen. So bekommt man das nötige Wasser in seine Reisfelder. Der Bauer erzeugt also kein Wasser, sondern er räumt Hindernisse aus dem Weg, damit das Wasser fließen kann

Nicht alles, was an spiritueller Erfahrung, Kräften, Fähigkeiten kommt, haben wir notwendigerweise selbst durch unsere Übungen, durch unsere Anstrengung, geschaffen. Wenn man beispielsweise eine Vision Gottes, eine Erfahrung der Einheit oder ein ekstatisches Gefühl beim Mantrasingen oder in der Meditation hat, dann hat man es nicht wirklich durch die ganzen eigenen Praktiken erzeugt. Durch diese Praktiken haben wir die Steine – Hindernisse, Unreinheiten – weggeräumt, die im Wege standen, so daß die göttliche Gnade durch uns hindurchfließen kann. Das, was vorher schon da war, enthüllt sich, das Göttliche kann sich manifestieren. Wir schaffen nicht wirklich Freude in der Meditation, wir räumen nur die Hindernisse aus dem Weg, so daß die natürliche Freude, die immer schon da war, erfahrbar wird. Wir machen uns zum Instrument der kosmischen Energie, die durch uns wirken will. Wir müssen uns nur für sie öffnen.

Wenn es regnet und du Wasser brauchst, was mußt du haben? – Ein Gefäß. Was mußt du mit dem Gefäß machen? – In den Regen halten. Das allein reicht aber nicht aus. Du mußt es richtig in den Regen halten, wie nämlich? – Mit der Öffnung nach oben. Genauso ist auch die göttliche Gnade immer da. Wir müssen nur unser Gefäß, unser Bewußtsein, unseren Geist, nach oben öffnen. Die meisten Menschen haben ihren Geist nach unten geöffnet. Daher spüren sie keine Gnade.

Natürlich kommt die Gnade nicht wirklich von oben, nicht räumlich von oben. Sie kommt nicht von der Sonne und auch nicht vom Polarstern, sondern von höheren Ebenen. Energie strömt ständig von ishvara, dem Göttlichen, aus. Wirklich verstehen kann man es, wenn man den Unterschied verwirklicht hat zwischen sattva und purusha. Bis wir soweit sind, können wir es sehr wohl erfahren und kleine Erklärungen dazu abgeben. Das Göttliche gibt ständig Gnade, Energie in diese physische Ebene hinein und in unser jetziges Bewußtsein. Wir müssen uns nur dafür öffnen.

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Kapitel 4, Vers 4

Deutsche Übersetzung:

Chittas (Gemüter) werden vom Ego geschaffen.

Sanskrit Text:

nirmāṇa-cittāny-asmitā-mātrāt ||4||

निर्माणचित्तान्यस्मितामात्रात् ॥४॥

nirmana chittany asmita matrat ||4||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • nirmāṇa = schaffen, erzeugen, entstehen
  • cittāni = Chitta, alles Wandelbare des Menschen, Geist, Verstand
  • asmitāḥ = Selbstbezogenheit, Egoismus, Identifikation mit dem Wandelbaren
  • mātrāt = allein daraus

Kommentar

Für diese drei Verse [Kommentar von Sukadev zu Vers 4, 5 und 6] gibt es zwei Interpretationen. Swami Vishnu interpretiert sie so:

Unser chitta, der Geist im Sinne von Gemüt, kommt vom Ego her. Das Gemüt beginnt letztlich mit dem Ego. Solange wir im Ego sind, sind wir im individuellen Gemüt. Es gibt sehr viele verschiedene chittas – nämlich so viele, wie es Wesen gibt –, aber all diese verschiedenen Gemüter sind Bestandteil des einen kosmischen Geistes.

Im ersten Kapitel (I 17) haben wir eine besondere Meditationstechnik kennengelernt, die in den Stufen von savitarka, nirvitarka, savichara, nirvichara und sananda zu sasmita führt, wo man versucht, aufzuhören, sich mit dem Individuum zu identifizieren.

Nicht einmal auf der physischen Ebene sind wir tatsächlich so getrennt, wie wir immer glauben. Sobald wir zwei Minuten lang nicht atmen, sind wir schon tot – gut, erfahrene pranayama-Yogis können die Luft auch schon mal drei Minuten lang anhalten, aber nach fünf Minuten ist man normalerweise tot. Wir sind also über den Atem verbunden, nicht nur untereinander, sondern mit dem ganzen Universum. Das physische Universum bildet ein organisches Ganzes und wird deshalb in der vedanta als viratswarupa bezeichnet.

Auch auf der emotionalen, psychisch-geistigen Ebene sind wir miteinander verbunden. Wir denken nicht im luftleeren Raum. Unsere Gedanken und Gefühle sind nicht nur beeinflußt von dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, von unserer persönlichen Vergangenheit und unseren Gehirnfunktionen, sondern sie sind auch bestimmt durch andere Gemüter, durch individuelle und kollektive Gedankenschwingungen. Alle zusammen bilden wir das kosmische Gemüt, hiranyagarbha.

Auf der Kausalebene sind wir erst recht nicht getrennt. Gerade auf dieser Ebene stehen wir alle miteinander in Verbindung als ishvara. Ishvara steht für verschiedene Manifestationen Gottes: Viratswarupa, die ganze physische Welt als physischer Körper Gottes. Hiranyagharba, alle Gemüter als zusammenhängende Teile des kosmischen Gemütes. Ishvara, alle Kausalkörper als Teil des universellen Kausalkörpers. Das ist vedanta-Philosophie.

Die samkhya-Philosophie sagt dasselbe mit anderen Worten. Aus dem einen Gemüt, mahat, sind die einzelnen chittas als individuelle Gemüter entstanden. Aber alle diese chittas werden letztlich beherrscht von dem einen kosmischen Geist, eka (= ein).

Wenn uns das bewußt ist, können wir letztlich auch unser eigenes Gemüt Gott opfern. Wir können sagen: „Oh Gott, du bist alles und überall. Du bist auch mein eigenes Gemüt. Du manifestierst dich auch durch meine Gedanken und Emotionen, und auch diese stelle ich dir zur Verfügung. Und all meine Schwächen bist du ja auch. Also stelle ich auch sie zur Verfügung. Und was auch immer ich heute tue, mit Körper, Gedanken, Emotionen, aus meiner eigenen Natur, aus meinem Selbst, aus meinen Verhaftungen heraus, all das opfere ich dir, denn du wirkst durch mich.“

So können wir uns von allen Schuldkomplexen und auf die falsche Ebene gesetzten Vollkommenheitsansprüchen befreien. Denn die physische Welt ist unvollkommen, in ständiger Veränderung. Selbst unsere unvollkommenen Gedanken und Emotionen sind Manifestationen des Göttlichen. Und sogar wenn wir mal aus der Rolle gefallen sind – natürlich sollten wir versuchen, das zu vermeiden –, können wir auch das Gott opfern und sagen: „Oh Gott, du hast dich jetzt so manifestiert, und auch das opfere ich dir.“ Wenn etwas schiefgegangen ist: „Bitte, Gott, kümmere du dich darum.“ Damit gibt man ohne Zweifel eine gewisse Verantwortung ab, und das ist gut so. Aber wir geben nicht alle Verantwortung ab. Vorher und gleichzeitig bemühen wir uns natürlich, uns zu entwickeln, aus Fehlern zu lernen.

Krishna sagt das in der Bhagavad Gita (XVIII 66) wie folgt:

sarvadharmân parityajya
mâm êkam sharanam vratja
aham tvâ sarvapâpêbhyô
môksha ishyâmi mâ shuksha

Sarvadharmân parityajya: Gib alle Pflichten auf. Das beinhaltet auch, alle Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ aufzugeben
Mâm êkam sharanam vratja: Nimm zu mir allein Zuflucht.
Aham tvâ sarvapâpêbhyô: Ich werde dich befreien (moksha) von sarva papa, von allen Sünden und Fehlern.
Môksha ishyâmi mâ shuksha: Mach dir keine Sorgen. Du kommst zur Befreiung.

Eigentlich ist das ja eine anarchistische Aussage: Du kannst machen, was du willst, es spielt keine Rolle. Opfere einfach alles Gott. Gott wird dich von allem befreien. Deshalb macht Krishna anschließend sofort die Einschränkung: „Gib das niemandem weiter, dem es nicht darum geht, zu Gott zu kommen, erzähle dies niemandem, der sich nicht bemüht, zur Vollkommenheit zu gelangen, und erzähle es niemandem, der sich nicht selbst beherrscht.“ (BhG XVIII 67) Denn das gilt nur für Menschen, die sich um Vollkommenheit, Selbstbeherrschung, Dienst am Nächsten und Hingabe an Gott bemühen. Diese vier Kriterien müssen erfüllt sein, dann können wir irgendwann loslassen, die Entscheidung Gott überlassen und unserem Intellekt eine Pause gönnen.

Wem es um all das geht, wer versucht, an sich selbst zu arbeiten, sich Gott hinzugeben, anderen Gutes zu tun, wer nach Befreiung strebt, dem kann man das sagen, denn er bemüht sich ernsthaft, im richtigen Geist, und anschließend kann er sagen: „Oh Gott, was auch immer ich getan habe, überlasse ich dir, einschließlich all meiner Unvollkommenheiten.“ Zuerst bemüht man sich, und dann läßt man los. Das ist das Beste. Es gibt kein besseres Rezept für geistige Entwicklung und Zufriedenheit. Nicht so gut machen, wie man denkt, daß man es können müßte, auch nicht so gut, wie ein anderer es tatsächlich oder vermeintlich machen kann, sondern mit der inneren Einstellung: Ich bin jetzt in diese Situation hineingestellt worden als Teil Gottes, weil meine Fähigkeiten und Möglichkeiten in dieser Situation und in diesem Augenblick die richtigen sind. Wäre ich nicht der Richtige, hätte Gott jetzt jemand anderen dorthin gestellt.

Wir bleiben uns der Tatsache bewußt, daß letztlich alle chittas von dem Einen kontrolliert werden. Und der chitta, der aus dhyana (Meditation, Kontemplation) geboren ist, ist frei von vergangenen Tendenzen, den sogenannten samskaras. Wenn jemand in der Meditation zu höheren Bewußtseinsebenen kommt, ersetzt die Erfahrung der Meditation seine alten samskaras und er erfährt eine grundlegende Veränderung seines Charakters. Wer zur Selbstverwirklichung kommt, wird frei von Unvollkommenheiten. Es geht schon darum, sich von diesen Unvollkommenheiten zu befreien, aber ohne Besessenheit, ohne Fanatismus und ohne sich ein schlechtes Gewissen einzureden.

Diese drei Verse haben noch eine andere, etwas eigenartige Bedeutung, die man in manchen Kommentaren findet:

Ein spiritueller Meister hat auch die Fähigkeit, aus seinem eigenen Geist andere chittas zu schaffen, um so karma schneller auszuarbeiten. Er manifestiert sich also in mehreren Körpern gleichzeitig. Wenn man ein solches chitta allein aus der Meditation schafft, ohne es mit früheren samskaras zu verbinden, hat dieses Gemüt keine samskaras und man kann das karma vorurteilsfrei ausarbeiten.

Die beiden nächsten Verse haben wir schon behandelt (siehe Kommentar zu II 14):

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