Kapitel 1, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Der höchste Zustand des Nichtanhaftens entsteht durch Erkenntnis des Selbst und ist frei von Gier nach den Eigenschaften der Natur.

Sanskrit Text:

tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam ||16||

तत्परं पुरुषख्यातेः गुणवैतृष्ण्यम् ॥१६॥

tatparam purusha khyateh guna vaitrishnyam ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = dessen, das
  • paraṁ = höchste
  • puruṣa = das wahre Selbst, das unwandelbare Selbst
  • khyāti = Verständnis, Verwirklichung, Bewusstheit, Erfahrung
  • guṇa = die drei Grundeigenschaft der Natur
  • vaitṛṣṇya = ohne Durst, durstlos

 

Kommentar

Vairagya (Wunschlosigkeit) ist eines der vier Mittel zur Befreiung, eines der Charakteristika im subecha-Zustand (Sehnsucht, Suche nach Wahrheit), der ersten Stufe der sieben bhumikas. Zu subecha gehören:

  • viveka, Unterscheidungskraft,
  • vairagya, Nichtanhaften oder Wunsch- bzw. Leidenschaftslosigkeit,
  • shatsampat, die sechs edlen Tugenden, und
  • mumukshutva, tiefes Verlangen nach Befreiung.

Hier greift Patanjali besonders vairagya heraus. In den vorherigen Versen hat er gesagt, daß die Kontrolle der vrittis durch abhyasa und vairagya herbeigeführt wird. Vairagya wird auf einer Ebene erreicht durch Willensanstrengung und zum zweiten auf einer tieferen Ebene als Zustand von Nichtanhaften, der aus dem Bewußtsein des purusha kommt. Purusha ist das eine Selbst Gottes. Wenn man in diesem Bewußtsein ist, entsagt man den drei Eigenschaften der Natur. Das funktioniert auch, wenn man noch nicht im höchsten Zustand ist. Wenn man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt ist, wenn das Göttliche spürbar wird oder durchschimmert, dann fallen verschiedene Wünsche von selbst weg. Das kennst du vielleicht aus eigener Erfahrung. Irgendwann hast du mit Yoga angefangen, vielleicht, um gesund zu werden oder zu bleiben, weil es Spaß gemacht hat, um Spannungen loszuwerden, aus Neugier, um etwas gegen Streß zu unternehmen oder weil du einfach das Gefühl hattest, es wäre gut, mal einen Yogakurs zu machen. Den ersten Yogakurs machen Leute aus den verschiedensten Gründen. Manchmal wird man auch irgendwie geführt und weiß nicht warum. Manchmal hat man ein konkretes Problem und manchmal schleppt einen ein Freund oder eine Freundin hin. Anschließend hilft einem das Yoga, etwas mehr zu sich selbst zu kommen. Und plötzlich fallen alle möglichen Sachen ab. Es ist zum Beispiel ein verbreitetes Phänomen, daß etwa drei Viertel der Menschen, die Yoga üben, von selbst aufhören zu rauchen, ohne daß sie sich darum bemühen. Es geschieht einfach. Etwas weniger, aber mindestens auch die Hälfte, werden bei regelmäßiger Yogapraxis zum Vegetarier oder Fast-Vegetarier. Der Wunsch, Fleisch zu essen, hört mehr oder weniger von selbst auf. Es geschieht einfach, da man sich tieferer Schichten seiner selbst bewußt wird.

Wenn man regelmäßig meditiert, fallen verschiedene andere Verhaftungen von selbst weg. Wenn man durch Übungen allmählich Zugang zu seinem wahren Wesen bekommt, fallen eine ganze Reihe von Verhaftungen an die drei gunas, die drei Eigenschaften, die allem Existierenden innewohnen, ab. Und beim vollen Bewußtsein purushas, bei der vollen Selbstverwirklichung, gibt es überhaupt keine Wünsche mehr. Man ist vollkommen wunschlos. Man handelt nicht mehr, um etwas zu erreichen, sondern ist nur noch ein Instrument in den Händen Gottes oder des Kosmischen.

Viele Menschen erwarten, daß auf dem Yogaweg alles so von selbst geschieht. Das stimmt aber nicht. Wir zäumen öfter das Pferd von hinten auf. Eine andere Übersetzung des 15. Verses ist: „Vairagya kommt durch Meisterung des Willens“. Wir müssen manchmal auch unsere Willenskraft einsetzen. Willenskraft ist eine Manifestation von buddhi. Wie wir schon gesehen haben, ist die Unterscheidungskraft, viveka, ein Ausdruck von buddhi. Und die Energie hinter der Unterscheidungskraft ist die Willenskraft. Das ist im Deutschen schwierig zu erklären, da im Deutschen oft Wunsch und Wille mehr oder weniger gleichgesetzt werden.

Der Wille (iccha shakti) ist die Kraft, mit der wir das umsetzen, was wir für richtig halten; und zwar sowohl das, was wir aufgrund von viveka für richtig halten, als auch das, was aus einer tieferen Intuition kommt. Manchmal fühlt man irgendwie intuitiv: Das muß ich tun und das muß ich lassen, das sollte ich nicht mehr tun. Die Intuition kommt mehr vom Bewußtsein des purusha her. Wenn man beispielsweise feststellt: „Immer wenn ich etwas Bestimmtes esse, geht es mir anschließend schlecht“, kommt die viveka und sagt: „Also muß ich aufhören, das zu essen“, woraus man dann dank der Willenskraft Konsequenzen zieht. Das Verlangen muß zuerst einmal bewußt gemeistert werden. Nicht alles fällt von selbst ab.

Man stellt zum Beispiel fest, immer wenn man eine Tafel Schokolade gegessen hat, fühlt man sich eine Stunde später abgeschlafft. Man merkt, daß es einem tatsächlich nicht guttut. Also kommt jetzt die bewußte Entscheidung: „Ich sollte keine Schokolade mehr essen – oder höchstens noch an meinem Geburtstag oder am Geburtstag anderer Leute ein kleines Stückchen.“ Man hat diese Entscheidung getroffen. Was passiert anschließend? Natürlich kommt der Wunsch nach Schokolade!

Der Geist ist zufrieden, wenn er weiß, da gibt es jemanden, der Herr im Hause ist. Aber das muß er erst lernen, so wie wir einem Hund beibringen müssen, bei Fuß zu gehen. Das geschieht typischerweise durch Lob und Tadel. Tadel geht relativ einfach. Wenn der Hund abhaut, gibt man ihm einen kurzen Ruck mit dem Halsband. Das macht man mehrmals immer dann, wenn er weggeht, obwohl man „Fuß“ gesagt hat. Und wenn er folgt, lobt man ihn. Wenn man das zwei, drei Tage lang konsequent gemacht hat, geht der Hund immer neben einem, wenn man „Fuß“ sagt. Dann muß man vielleicht noch ab und zu einmal einen Ruck geben, und irgendwann braucht man gar keine Leine mehr. Aber man muß konsequent sein. Und das können die wenigsten Menschen. Noch nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Hund.

So ist es auch mit unserem Geist. Was wir uns vorgenommen haben, tun wir. Weshalb wir uns auch nicht zuviel vornehmen dürfen. Wenn man dem Hund innerhalb einer Woche Fuß, Platz, Sitz, Pfote geben, auf Kommando Stöckchen holen, beibringen will, wird er rebellieren. Er weiß dann gar nicht mehr, was er überhaupt noch machen soll.

Natürlich muß man ihn auch loben, wenn er es richtig gemacht hat. Und Lob muß nicht immer über das Essen gehen. Das einfachste Lob ist, ihn zu streicheln und zu sagen: „Ja, guter Hund, das hast du gut gemacht.“ Auf diese Weise können wir auch unser Unterbewußtsein loben. Wenn wir uns beispielsweise entschieden haben, eine Woche oder einen Monat keine Schokolade zu essen, darf es keine Ausnahme davon geben. Lieber erst mal etwas Kleines vornehmen, aber das Unterbewußtsein auf jeden Fall daran gewöhnen: Was auch immer man sich vornimmt, muß man auch tun. Das gilt auch für die spirituelle Praxis. Besser ist es, sich am Anfang eher wenig vorzunehmen, es aber konsequent auszuführen. Wenn man es gemacht hat, darf man sich ruhig mal auf die Schulter klopfen, geistig oder körperlich. Manche Menschen haben Angst, es würde ihr Ego erhöhen, wenn sie zu sich selbst sagen: „Das hast du gut gemacht.“ Es erhöht das Ego nur, wenn man sich damit identifiziert. Man kann seinen Geist loben, indem man ihm sagt: „Danke, liebes Unterbewußtsein, das hast du gut gemacht, du hast jetzt eine Woche lang auf Schokolade verzichtet oder eine Woche lang täglich asanas gemacht, ich bin zufrieden mit dir.“ Man muß ihn nicht unbedingt dadurch belohnen, daß man ins beste Restaurant oder ins Kino geht. Meistens reicht es aus, wenn man sich einen Moment Zeit nimmt, vielleicht in der Meditation, sich hinsetzt und sagt: „Ja, liebes Unterbewußtsein, ich bin zufrieden mit dir, das ist gut, was du gemacht hast.“ Manche Menschen legen sich zuviel auf, wollen zu schnell immer mehr vom Unterbewußtsein. Das ist nicht gut, irgendwann folgt darauf eine totale Gegenreaktion.

Das ist oft so bei spirituellen Aspiranten. Sie machen etwas und das geht gut. Also nehmen sie sich noch mehr vor. Das klappt auch. Sie nehmen sich noch mehr vor. Klappt auch. Noch mehr asanas, noch mehr pranayama, noch mehr Meditation, noch weniger Zeit für dieses, noch weniger Zeit für jenes … Und irgendwann rebelliert das Unterbewußtsein, so daß nichts mehr klappt. Und was macht man, wenn nichts mehr klappt? Man geht ins Café und ißt Schokoladenkuchen. Jetzt hat das Unterbewußtsein die Lektion gelernt: Wenn ich alles tue, was mein Herr will, dann werde ich bestraft und muß mehr und mehr machen. Tue ich es dagegen nicht, werde ich belohnt. Also, die Lektion ist ganz klar. Es ist so einfach und weil es so einfach ist, denkt man in den wenigsten Fällen daran.

Wir nehmen uns also etwas vor, tun es eine Weile ganz konsequent und belohnen unser Unterbewußtsein dafür. Aber wir nehmen uns nicht zuviel vor. Wir nehmen uns kleine Dinge vor und schauen, wie es geht.

Ich empfehle oft Anfängern, sich zunächst vorzunehmen, jeden Tag drei Minuten zu meditieren. Wenn man Lust hat, kann man ja länger meditieren. Aber drei Minuten macht man auf jeden Fall jeden Tag. Das ist möglich, und wenn man konsequent eine Woche lang jeden Tag drei Minuten meditiert hat, weil man es sich vorgenommen hat, stärkt das den Willen ungemein.

Wenn das Verlangen auf diese Weise allmählich kontrolliert wird, verschwindet es irgendwann auch ganz. Den meisten Menschen geht es zum Beispiel so, wenn sie eine Weile lang kein Fleisch mehr gegessen haben. Sie haben dann keine Lust mehr darauf, das Verlangen danach verschwindet. Auch wenn man radikal auf Süßigkeiten verzichtet, verschwindet der Wunsch danach. Er mag ab und zu vielleicht noch einmal hochkommen, dann verschwindet er ganz. Es ist nicht so, daß man gar keine Süßigkeiten mehr essen darf. Aber man kann sich beweisen, daß es geht und daß man Herr über den Wunsch ist.

Im zweiten Kapitel kommt Patanjali auf dieses Thema nochmals an zwei Stellen zurück: Einmal bei der Behandlung von tapas, Askese, und zum anderen bei santosha, Zufriedenheit. Das spielt im Raja Yoga eine große Rolle.

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Kapitel 1, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Samprajnata samadhi (samadhi mit Erkenntnis) wird von Denken, Überlegen, Freude und reinem Ich-Gefühl begleitet.

Sanskrit Text:

vitarka-vicāra-ānanda-asmitā-rupa-anugamāt-saṁprajñātaḥ ||17||

वितर्कविचारानन्दास्मितारुपानुगमात्संप्रज्ञातः ॥१७॥

vitarka vichara ananda asmita rupa anugamat sanprajnatah ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vitarka = Ahnung, Meinung, Denken
  • vicāra = Erfahrung, Kontemplation, überlegen, nachdenken
  • ānanda = Glück, Freude, Glückseligkeit
  • asmitā = Einheitswahrnehmung, Ich-Gefühl
  • rūpa = Form, Natur
  • asmitā-rūpa = Einheitswahrnehmung mit der Natur / eigenen Form
  • anugamāt = aus diesen Schritten
  • saṁprajñāta = vollkommenes Wissen, vollkommene Erkenntnis

 

Kommentar

Das ist eine abstrakte Raja YogaMeditationstechnik in vier beziehungsweise sieben Stufen.

Große Meister führt diese Technik sofort zu samâdhi, aber auch wir können sie ab und zu ausprobieren, selbst wenn wir keine großen Meister sind und nur Vorstufen üben können.

Es gibt verschiedene Interpretationen dieser samadhi-Zustände und Meditationstechniken. Eine davon, die Shri Karthikeyan erklärt hat, ist:

Savitarka ist Meditation über die physischen Elemente in Raum und Zeit, die Identifikation mit dem Universum der Erscheinungen in Raum und Zeit.

Man wird sich zunächst des Körpers bewußt und des Bewußtseins hinter diesem Körper. Dann geht man dazu über, festzustellen, daß dieser physische Körper nicht im abstrakten Nichts lebt, sondern in ständigem Austausch mit seiner Umwelt. Luft strömt in die Lungen, wird ein Teil des Körpers. Wir atmen Kohlendioxid aus, das in unseren Zellen entsteht. Warum sollten wir uns mit dem Kohlendioxid nur so lange identifizieren können, solange es beispielsweise in unserem Fuß ist? Wir können versuchen, die Luft in uns und draußen zu spüren. Man kann tatsächlich nicht nur den physischen Körper wahrnehmen, sondern auch die Luft darum herum. Ebenso kann man das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume oder des Baches nicht nur hören, sondern sein Bewußtsein darauf ausdehnen.

Die westliche Theorie der Wahrnehmung würde sagen, daß von einem Objekt Klangschwingungen ausgehen, die in die Luft gelangen, sich als Welle bis zum Ohr fortpflanzen und dort die Gehörknöchelchen in Bewegung setzen. Dies führt zu verschiedenen Impulsen, die im Gehirn als Klang interpretiert werden.

Die samkhya-Theorie sagt, unser Bewußtsein geht zum Objekt hin; dadurch werden wir uns des Objektes bewußt. Auch Sheldrake sagt – ohne sich auf die samkhya-Philosophie zu beziehen –, daß es bestimmte Phänomene der Wahrnehmung gibt, die wir eigentlich mit unserer normalen westlichen Sichtweise nicht erklären können, sondern damit, daß man sich zu dem Objekt hin ausdehnt. Ich fand es sehr interessant, daß Sheldrake von einer ganz anderen Warte aus zu einer ähnlichen Aussage kommt, nämlich daß es nicht oder nicht allein so ist, daß Klangschwingungen in unser Bewußtsein eindringen, sondern daß unser Bewußtsein mittels der betreffenden Sinneswahrnehmung nach außen geht und wir die Dinge wahrnehmen, weil unser Bewußtsein zu ihnen geht.

Und das können wir ganz gezielt machen: Wir gehen mit dem Bewußtsein zu den Objekten, die wir sinnlich wahrnehmen: vielleicht die Erde, auf der wir sitzen, die Luft, die wir auf der Haut spüren (besonders wenn sie sehr warm oder kalt ist oder wenn es windig ist), und zu den Dingen, die wir hören. Man kann diese Meditation sogar mit offenen Augen in der Natur machen: sich hinsetzen, Dinge anschauen und versuchen, sie zu spüren, ihr Wesen zu erfassen, in sie hineinzugehen.

Schließlich geht savitarka so weit, daß wir das ganze Universum spüren. Wir spüren, ich bin das ganze Universum und das Unendliche hinter dem Universum.

Der nächste Schritt, nirvitarka, ist schwer zu erklären. Nirvitarka ist Identifikation mit dem Universum jenseits von Raum und Zeit, das Erfassen des Prinzips des Körpers beziehungsweise des Universums an sich. Wir identifizieren uns mit dem Bewußtsein hinter der Gesamtheit des Universums.

In savitarka versuchen wir zwar auch, das physische Universum als organisches Ganzes wahrzunehmen, aber wir nehmen auch seine Veränderungen wahr. Wir konzentrieren uns darauf, das Universum mit allen seinen Veränderungen als ein organisches Ganzes bewußt zu spüren. Bezogen auf den eigenen Körper könnte man sagen, in savitarka nimmt man seinen eigenen Körper mit all seinen Veränderungen wahr, in nirvitarka stellt man fest, der Körper ist doch ein Ganzes, jenseits aller Veränderungen.

Diese beiden Bewußtseinszustände, savitarka und nirvitarka, lassen sich auch in der vedanta-Philosophie ausdrücken. Die Identifikation mit dem physischen Universum als Ganzes ist viratsvarupa. „Das ganze Universum ist mein Körper“ – das ist die Erfahrung dieser Meditation, darin mündet sie.

Die gleiche Unterscheidung gibt es bei den nächsten beiden Stufen, savichara und nirvichara. Savichara, mit Nachdenken, heißt, wir identifizieren uns mit dem Prinzip des Nachdenkens im Universum, also mit dem kosmischen Gemüt.

Wenn man den Körper wahrnimmt, nimmt man auch Emotionen und Gedanken wahr. Wir können das eigene Gemüt, das kosmische Gemüt oder die Psyche einschließlich Gedanken und Emotionen wahrnehmen und dabei feststellen, daß unsere Emotionen und Gefühle nicht unabhängig von anderen Emotionen und Gefühlen sind. Dann können wir versuchen, andere Wesen und Objekte zu erfühlen, nicht mehr ihren Körper, sondern ihre Gedanken und Emotionen. Dann gehen wir noch einen Schritt weiter und fühlen: „Ich bin das Bewußtsein hinter allen Gedanken und Gefühlen.“ Hinter dem gesamten Universum gibt es nicht nur einen abstrakten Geist, sondern auch ein Gemüt auf der Gefühls- und prana-Ebene. Dieses Gemüt versuchen wir als Ganzes zu fühlen. Das ist dann der savichara-Zustand, die Identifikation mit dem kosmischen Gemüt. Wir dehnen unser Bewußtsein aus und fühlen das gesamte Gemüt hinter der Schöpfung. Wir fühlen die kosmischen Gedanken und Emotionen, die kosmische Energie in allen ihren Veränderungen. Wir können nicht jede einzelne Veränderung spüren, aber wir merken: Da ist Veränderung, da ist Rhythmus.

Nirvichara bedeutet, daß wir alle Bindungen überschreiten. Wir spüren das kosmische Gemüt an sich als eine allumfassende Wirklichkeit, die irgendwie eine Einheit bildet.

Der Erfahrung von savichara und nirvichara entspricht hiranyagarbha in der vedanta, dem kosmischen Geist („cosmic mind“, nicht das, was man englisch mit „spirit“ bezeichnen würde; die Unterscheidung im Deutschen ist schwierig, da es für beides nur ein Wort gibt), im Sinne von kosmisches Gemüt.

Die nächste Stufe, sananda (mit Wonne), ist eigentlich die Konsequenz aus dem Vorhergehenden. Wenn es uns gelingt, uns als das Gemüt hinter allem, was geschieht, zu fühlen, ist das mit Wonne und Liebe verbunden. Ananda, Wonne, schließt immer prema, Liebe, ein und umgekehrt ist Liebe immer auch Wonne. Manchmal fragt man sich bei der abstrakten vedanta-Philosophie, wo die Liebe hinter dem Ganzen bleibt. Die Liebe ist in ananda enthalten. Wenn wir uns auf der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebene eins fühlen mit allen Wesen, dann entsteht ganz natürlicherweise eine umfassende Liebe und Wonne, ähnlich, wie auch Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Mein Selbst ist in mir wie auch im Nächsten.

Auf dieser Stufe der Meditation hört man auf, das ganze Wesen, das kosmische Gemüt, zu spüren. Statt dessen nimmt man einfach diese allumfassende Liebe und Wonne wahr.

Das führt zum nächsten Schritt, sasmita, der Identifikation mit dem kosmischen „Ich bin“.

Asmita werden wir noch im Rahmen des zweiten Kapitels als individuelles Ego kennenlernen. Dort gilt es als Teil der kleshas, der Ursachen des Leidens.

Aber hier ist asmita nicht als individuelles Ego gemeint, sondern als kosmisches Ego, als das kosmische Gefühl „Ich bin“. Dieses kosmische „Ich bin“-Gefühl mündet schließlich in den letzten Teil, in asamprajnata.

Die unteren sechs Stufen gelten als samprajnata = mit Bewußtsein. Prajna heißt Erkenntnis, samprajna = mit Erkenntnis. Dabei machen wir konkrete Erkenntnisse.

Asamprajnata heißt „ohne Erkenntnisse“: Wir machen keine Erkenntnisse, sondern sind reines Bewußtsein. Wir sind einfach: die Erfahrung reinen Seins. Dies schließt auch weiter Wonne ein, schließt auch weiter das kosmische Ich ein, das reine Selbst, purusha, transzendiert sie aber alle. Das ist der nirodha-Zustand oder, wie man im Jnana Yoga in der vedanta-Philosophie sagen würde, der Zustand von nirvikalpa samadhi, die Selbstverwirklichung.

Selbst wenn wir noch keine spirituellen Meister sind, können wir diese Meditationstechnik üben und andeutungsweise ihre Stufen erfühlen, auch wenn sie nicht sofort zu echtem asamprajnata samadhi führt. Es ist uns vielleicht möglich, das Bewußtsein auszudehnen, zu merken: „Ich bin das Bewußtsein hinter dem physischen Universum, ich bin das Bewußtsein hinter dem kosmischen Gemüt.“ Vielleicht gelingt es uns nicht gleich auf der ganzen kosmischen Ebene, aber doch so, daß wir mindestens unsere Umgebung und deren Emotionen, Gedanken, Gefühle, prana, erfühlen können. Das können wir immer weiter ausdehnen, bis wir sananda, die Liebe und Wonne dahinter spüren. Vielleicht gelingt es uns, sasmita, das Bewußtsein, das „Ich bin“-Gefühl, zu erleben und einen Moment lang im reinen Sein zu verharren.

All diese Schritte sind zunächst nur das Bemühen um Konzentration, dharana. Es kann uns gelingen, auf jeder Ebene voll zu verschmelzen in dhyana (Kontemplation) und schließlich wird es wirklich samadhi (überbewußter Zustand).

Es gibt also die vier Stufen von samprajnata samadhi: vitarka, vichara, ananda, sasmita, die später noch weiter unterteilt werden in savitarka und nirvitarka sowie savichara und nirvichara.

Statt sie nun auf dieser kosmischen Ebene zu betrachten, kann man diese Stufen auch als konkrete Meditationsthemen auffassen, wie es Swami Vishnu-devananda gerne machte:

  •  Vitarka in diesem Sinne ist Meditation über Gegenstände, die wir aus dem physischen Universum kennen, zum Beispiel eine Kerzenflamme, das Meer, einen Klang, also Elemente in Raum und Zeit.
  • Vichara ist Meditation über Elemente außerhalb des physischen Universums, also Urprinzipien, Archetypen o.ä. Dazu gehören beispielsweise mantras (Sanskritklang, -formel, -vers) oder chakras (Energiezentren) oder Götter. Shiva zum Beispiel ist keine Gestalt, die es auf der physischen Ebene gibt, sondern ein kosmisches Prinzip im ganzen Universum.
  • Sananda und sasmita sind dann noch subtiler. Meditationsgegenstand auf der sananda-Ebene ist Liebe, reine Liebe zu Gott, und sasmita bedeutet, ganz in das umfassende Gefühl des „Ich bin“ hineinzugehen.

Wir können die Einteilung auch nach koshas, den Körperhüllen, vornehmen:

  • Die vitarka-Meditation dreht sich um die annamaya kosha (Nahrungshülle) und spielt sich auf der Ebene des Physischen ab.
  • In der vichara-Meditation sind es Objekte in der pranamaya kosha (vitale Hülle, Lebensenergie), manomaya kosha (Geisthülle) und vijnanamaya kosha (intellektuelle Hülle). Dazu gehören beispielsweise die Eigenschaftsmeditation, die Energiemeditation oder auch Reflexion, Nachdenken.
  • In sananda und sasmita befindet sich die Meditation auf der anandamaya kosha-Ebene (Wonnehülle) und ist sehr abstrakt. Dann sind wir in diesem transzendentalen Gefühl von Wonne und reinem Sein. Trotzdem verbleibt dort immer noch ein Rest von „Ich bin“: ich fühle Wonne, ich fühle Liebe“. Das heißt, es besteht noch Dualität, Getrenntheit, Zweiheit. Deshalb gehört es noch zu samprajnata.

Asamprajnata samadhi tritt ein, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören. Es gibt kein Gefühl mehr von “Ich“, „Du“ oder „Ich erfahre“. Es bleibt nur reines Sein.

Dies beschreibt Patanjali im 18. Vers.

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Kapitel 1, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Asamprajnata samadhi entsteht, wenn durch Übung alle geistigen Inhalte zur Ruhe gebracht wurden und nur unmanifestierte Eindrücke verbleiben.

Sanskrit Text:

virāma-pratyaya-abhyāsa-pūrvaḥ saṁskāra-śeṣo-’nyaḥ ||18||

विरामप्रत्ययाभ्यासपूर्वः संस्कारशेषोऽन्यः ॥१८॥

virama pratyaya abhyasa purvah sanskara shesho ’nyah ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • virāma = ruhen, aufhören, fallen lassen
  • pratyaya = richtige Wahrnehmung, Erkenntnis, Eindruck, Geistesinhalt
  • abhyāsa = Beharrlichkeit, enthusiastische Übung
  • pūrva = das Vorherige, Unmanifestierte, Frühere, Vorangegangene
  • saṁskāra = Prägungen aus der Vergangenheit, auch aus dem Vorleben, unsere Neigungen
  • śeṣa = übrig geblieben, Reste
  • anyaḥ = das andere (die andere Form der Erkenntnis)

 

Kommentar

Asamprajnata samadhi ist die Selbstverwirklichung. Es gibt keinen Gedanken mehr.

Wenn wir das wieder auf die sieben bhumikas beziehen, dann ist der Verwirklichte asamshakti („durch nichts berührt“), ein jivanmukta (ein lebendig Befreiter). In asamshakti erreicht der Mensch asamprajnata samadhi. Am Ende des Lebens, im padarthabhavana-Zustand („sieht Brahman überall“) handelt er fast nicht mehr und in turiya (endgültige Befreiung) hört er ganz damit auf.

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Kapitel 1, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Asamprajnata samadhi kommt von Geburt an zu denen, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit prakriti erlangt haben.

Sanskrit Text:

bhava-pratyayo videha-prakṛti-layānam ||19||

भवप्रत्ययो विदेहप्रकृतिलयानम् ॥१९॥

bhava pratyayo videha prakriti layanam ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • bhava = Ursprung, Geburt
  • pratyaya = Ursache, Sicherheit, Geistesinhalt
  • videha = körperlos
  • prakṛti = Natur
  • laya = Auflösung, Verschmelzung
  • prakṛti-layana = verschmolzen mit der Natur /Prakriti, Naturverbundenheit

 

Kommentar

Es gibt Menschen, die praktisch mit einem solchen Bewußtsein geboren werden und relativ schnell in diesem Leben ohne größere Anstrengung die Verwirklichung erreichen. Und zwar deshalb, weil sie in einem früheren Leben eine hohe Stufe der Verwirklichung erreicht haben.

Wenn sich ein Mensch auf der vierten Stufe des Wissens befindet, auf sattvapatti (Reinheit des Geistes), ist er in samprajnata samadhi (Selbstverwirklichung mit Bewußtsein). Von dort gelangt er weiter zu asamshakti („durch nichts berührt“) und erreicht als jivanmukta (lebendig Befreiter) die Selbstverwirklichung. Oder es besteht die Möglichkeit, nach dem Tod in videhamukti einzugehen, in den befreiten, körperlosen Zustand. Dann erfährt man die letzten Stufen des Bewußtseins nach dem Tode.

Nun gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Wenn man die Stufe von sasmita samadhi erreicht hat, wo man sich als das Ich hinter dem ganzen Universum identifiziert, kann man sich mit der gesamten prakriti (Schöpfung) identifizieren, anstatt direkt weiter zu purusha, zum eigentlichen göttlichen Selbst, zu gehen. Man fühlt sich als das Bewußtsein hinter dem ganzen Universum und gleichzeitig als das ganze Universum an sich. Dann erreicht man die Selbstverwirklichung in dem Moment, wo das ganze Universum aufhört zu bestehen, am Ende des Schöpfungszyklus. Bis dahin fühlt man sich eins mit dem Universum und hört erst dann auf zu existieren, wenn das Universum aufhört zu bestehen. Es kann aber auch sein, daß man sich eine Weile mit dem ganzen Universum identifiziert, dann aber erkennt, daß man doch lieber die Verwirklichung erreichen will. In diesem Fall nimmt man nochmals einen Körper an, weil das schneller geht als zu warten, bis das Universum aufhört.

Wenn ein Meister schon sehr weit gekommen ist, kann es sein, daß er die Verwirklichung schrittweise nach dem Tod erreicht, was allerdings sehr lange dauert. Eine andere Möglichkeit ist, daß er diese höheren Stufen von Körperlosigkeit, videha oder prakriti layana, die Verschmelzung mit prakriti, erreicht hat und sich entscheidet, nochmals auf diese Welt zurückzukehren. Dann erreicht er die Befreiung relativ schnell.

Der Weise Ramana Maharishi zum Beispiel kam sehr schnell zu asamprajnata samadhi. Er war um die sechzehn, als er plötzlich das Gefühl hatte zu sterben. Seine Beine, Arme und Hände wurden gefühllos, sein Atem hörte auf, das Herz stand still. Und trotzdem merkte er, daß er immer noch lebte. Zwar war sein Körper tot, er spürte ihn nicht mehr, aber es waren immer noch Gedanken da. Er dachte: „Wenn ich schon sterbe, dann sterbe ich auch richtig und höre auf zu denken.“ Er brachte die Gedanken zum Stillstand und hatte sofort die Erfahrung von samadhi. Nach diesem Erlebnis kam er doch wieder ins Leben zurück. Anschließend lief er von zu Hause weg und begab sich in eine Höhle. In der Höhle haben die Ratten ihn angefressen, bis er von jemandem gefunden wurde, der ihn pflegte. Er war sich all dessen nicht bewußt. Schließlich entstand um ihn herum ein ashram. Manchmal sprach er ein paar Worte, aber nur sehr wenige. Die meisten Schüler, die zu ihm kamen und Fragen hatten, setzten sich einfach zu ihm und ihre Fragen erledigten sich von selbst. Ramana Maharishi hat kein systematisches gründliches sadhana (spirituelle Praxis) gemacht, um seine Natur zu transformieren; es kam bei ihm ganz spontan und natürlich.

So auch bei Anandamayi Ma, von der es heißt, sie sei schon als Selbstverwirklichte auf die Welt gekommen.

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Kapitel 1, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

Für andere kommt asamprajnata samadhi durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewußtsein.

Sanskrit Text:

śraddhā-vīrya-smṛti samādhi-prajñā-pūrvaka itareṣām ||20||

श्रद्धावीर्यस्मृति समाधिप्रज्ञापूर्वक इतरेषाम् ॥२०॥

shraddha virya smriti samadhi prajna purvaka itaresham ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śraddhā = Glaube, Vertrauen, Gewissheit, Überzeugung
  • vīrya = Energie, fester Wille, Kraft
  • smṛti = Erinnerung, das daran denken
  • samādhi = Ziel des Yoga, Erleuchtung, aber auch: richtige Wahrnehmung, balanciertes Denken, objektive Betrachtung
  • prajñā =Ahnung, Wissen, Weisheit, Abschätzungsvermögen
  • samādhi-prajñā = klares Bewußtsein, Wissen wesentlich für samadhi
  • pūrvaka = vorangehen
  • itareṣā = für andere

 

Kommentar

Um zu asamprajnata samadhi zu kommen sind vier Dinge nötig.

Das erste ist Glaube. Wir müssen Vertrauen haben. Zwar brauchen wir zu Anfang des Weges eine gesunde Skepsis, aber immerzu an allem zu zweifeln führt uns auch nicht weiter. Wir müssen prüfen: Macht das Ganze Sinn? Beruht es auf alten Schriften? Dann müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad darauf einlassen, glauben oder auch um Glauben bitten. Anschließend machen wir dann eigene Erfahrungen.

Als zweites müssen wir natürlich Energie hineinstecken. Von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt. Alles, was wir an Energie in unsere spirituelle Praxis investieren, bekommen wir vielfach zurück. Es ist also ein „Engelskreis“ – im Unterschied zum „Teufelskreis“. Wir strengen uns beispielsweise an, unser Leben sattvig (rein) zu gestalten. Dabei stoßen wir auf Widerstände unterschiedlicher Art: innere Widerstände, eigenes tamas (Trägheit), das eigene Unterbewußtsein und äußere Widerstände. Man hat wenig Zeit, andere Menschen erwarten etwas anderes. Aber wir tun es trotzdem. Und weil wir es machen, bekommen wir mehr Energie. Und weil wir mehr Energie haben, können wir noch mehr Energie hineinstecken u.s.w.

Und wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wozu wir das alles machen. Es geht so schnell, zu vergessen, was eigentlich unser Ziel im Leben ist. Man vergißt es im Laufe des Tages, wenn man seine Arbeiten erledigt, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzt, wenn man schläft. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, unser sadhana (spirituelle Praxis) regelmäßig zu machen und auch daran, wozu wir das Ganze tun. Wir müssen uns daran erinnern, das mantra auch zwischendurch zu wiederholen. Wir müssen uns erinnern, uns an Gott zu erinnern.

Und natürlich brauchen wir klares Bewußtsein. Wir müssen bewußt durch die Welt gehen, die Gegenwart bewußt erfahren. Wenn wir bewußt leben, bewußt asanas und pranayama machen, bewußt mit Menschen sprechen, bewußt die Lektionen des täglichen Lebens lernen, können wir sehr schnelle Fortschritte machen.

Man kann diesen Vers auch auf die vier Hauptaspekte des Yoga beziehen:

  • Glauben ist Bhakti Yoga.
  • Energie ist Karma Yoga, denn wir müssen ins tägliche Leben Energie hineinstecken.
  • Erinnerung gehört zum Raja Yoga, denn im Raja Yoga sind diese Techniken erläutert, an die wir uns immer wieder erinnern müssen.
  • Klares Bewußtsein brauchen wir im Jnana Yoga, wo wir versuchen, bewußt durchs Leben zu gehen, unsere viveka, die Unterscheidungskraft, und die Intuition zu schulen.

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Kapitel 1, Vers 21

Deutsche Übersetzung:

Den intensiv Strebenden ist samadhi nahe.

Sanskrit Text:

tīvra-saṁvegānām-āsannaḥ ||21||

तीव्रसंवेगानामासन्नः ॥२१॥

tivra sanveganam asannah ||21||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tīvra = stark, intensiv
  • saṁvegāna = Übung, Praxis, Intensität
  • āsanna = Nähe

 

Kapitel 1, Vers 22

Deutsche Übersetzung:

Das Streben kann mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.

Sanskrit Text:

mṛdu-madhya-adhimātratvāt-tato’pi viśeṣaḥ ||22||

मृदुमध्याधिमात्रत्वात्ततोऽपि विशेषः ॥२२॥

mridu madhya adhimatratvat tato’pi visheshah ||22||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • mṛdu = mild, sanft
  • madhya = mittelmäßig, mäßig
  • adhimātra = intensiv, mächtig, stark
  • vāt = oder
  • tataḥ = diese, (diese Praxis)
  • api = auch, sogar
  • viśeṣa = Abstufung, Unterscheidung

 

Kommentar

Wir sollten zwar allen Wünschen entsagen, aber es gibt einen, den wir verstärken sollten, und das ist der Wunsch nach Befreiung. Viele Menschen wollen die Befreiung, aber gleichzeitig auch noch so viele andere Dinge. Du kannst einmal grundsätzlich überlegen: Was will ich im Leben noch erreichen, und worauf wäre ich bereit zu verzichten – wirklich zu verzichten? Der Grad der Priorität des Wunsches nach Befreiung bestimmt, wie schnell es mit der Verwirklichung geht. Nur wenn der Wunsch nach Befreiung mindestens 50 % deines Strebens ausmacht, wird die Befreiung schnell kommen. Ist der Wunsch nach Befreiung niedriger als 50 %, ist er weniger wichtig als all die anderen Sachen. Ist er hingegen wichtiger als alle anderen Dinge, dann ist der Weg zur Befreiung da. Denn wenn er mehr als 50 % deines gesamten Strebens ausmacht, dann bestimmt dieser Wunsch alle deine Entscheidungen, dein tägliches Leben, dein ständiges Denken und Fühlen.

Den Wunsch nach Befreiung kann und sollte man auch kultivieren. Fünf Wege dahin möchte ich erwähnen:

  1. Eine Möglichkeit dafür ist satsang, das Zusammensein mit anderen auf dem Weg, wenn möglich sogar mit selbstverwirklichten Meistern. In der Gegenwart von selbstverwirklichten Meistern entsteht der Wunsch: So möchte ich auch sein. Es gibt auch den sogenannten indirekten satsang. Das heißt, Bücher von oder über selbstverwirklichte Meister/innen zu lesen oder Videos über diese Meister/innen anzuschauen. Das inspiriert und erhebt. Wenn man nicht physisch mit einem Meister zusammen sein kann, dann kann man es über Bücher, Videos oder Kassetten tun. Satsang ist sehr wichtig, eine Quelle der Inspiration. Regelmäßig mit anderen spirituellen Suchern zusammen zu praktizieren, vielleicht auch in einen ashram zu gehen und dort zu üben, hilft, den Wunsch nach Befreiung zu erhöhen.
  2. Eine zweite Weise, den Wunsch nach Befreiung zu verstärken ist vicâra, Unterscheidung zu üben, das Leben zu studieren. „Look into the defects of material life“ („Studiere die Unzulänglichkeiten des äußerlichen Lebens“), wie Swami Sivananda sagt. Das ist zwar ein unpopulärer Aspekt des Yoga. Lieber ist uns die Betrachtungsweise, daß Yoga das Leben befriedigend macht, unserem Leben Erfüllung gibt. Viveka (Unterscheidungskraft) üben heißt letztlich, zu erkennen, daß das Leben mit dem Tod endet. Was ist wirklich sinnvoll vor dem Hintergrund, daß die äußere Welt mit dem Tod aufhört? Alles, was wir auf der physischen Ebene aufbauen, werden wir irgendwann verlieren. Die Manu Smriti – eine alte Schrift von einem Meister namens Manu– sagt:Es gibt drei Dinge auf dieser Welt:

    Erstens die materiellen Dinge, ohne die der Mensch kommt, die er im Leben anhäuft und ohne die er wieder geht. Wir kommen nackt und wir gehen nackt. Wir nehmen nichts mit. Noch nicht einmal einen Pfennig oder Aktien und auch kein Gold. Nichts an materiellen Werten ist sicher. Aber es ist ganz sicher, daß wir auf der materiellen Ebene alles verlieren werden. Vieles verliert man sogar noch im Leben. Viele Menschen, die Geschäfte aufgebaut haben, sind gescheitert. Häuser, die Menschen sich gebaut haben, sind eingestürzt. In Kriegsgebieten oder bei Naturkatastrophen verlieren die Menschen alles. Wer sagt, daß uns das nicht auch so gehen kann? Wir denken immer, uns passiert das nicht. Es kann aber schnell passieren, und sei es nur durch eine Wirtschaftskrise. In der Volkswirtschaftslehre ist es sehr wohl bekannt, daß unsere Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren zusammenbrechen kann, wenn ungünstige Umstände zusammenkommen. Deshalb sollten wir uns überlegen, ob es sich wirklich lohnt, auf dieser Ebene so viel Energie, Zeit, Gedanken und Gefühle zu investieren.

    Dann gibt es etwas, mit dem kommen wir, das verändert sich im Laufe des Lebens und wenn wir gehen, nehmen wir es anders mit. Das ist unser Charakter und unser karma. Wir kommen mit einem bestimmten Charakter und unserem karma auf die Welt. Schon Babys haben ihre eigene Persönlichkeit. Bei derselben Mutter und demselben Vater, in gleichen Lebensumständen, sind Kleinkinder deutlich unterschiedlich. Und hoffentlich entwickeln wir im Lauf des Lebens unseren Charakter auf positive Weise. Wenn wir schon die Selbstverwirklichung nicht erreichen, sind wir mindestens am Ende unseres Lebens eine positivere, liebevollere, willensstärkere Persönlichkeit. Und hoffentlich haben wir viel Gutes getan, wenn es uns schon nicht gelungen ist, das ganze Leben nur nishkamya karma yoga auszuführen, also vollkommen wunsch-und verhaftungslos zu handeln. Wir haben hoffentlich wenigstens etwas getan, um positives karma zu erzeugen. Das Ziel des Yogis ist es natürlich, gar kein karma zu erzeugen, auch kein positives. Aber wenn wir schon karma erzeugen, weil es uns nicht gelingt, unser Ego ganz zurückzunehmen, dann wollen wir wenigstens gutes karma erzeugen. Swami Vishnu hat manchmal im Scherz gesagt: „Die beste Investition sind Spenden und gute Werke, denn das bekommt man ganz sicher wieder zurück, sogar mit Zinsen. Was wir in den Aktienmarkt investieren, verlieren wir ganz sicher, todsicher, nämlich spätestens mit dem Tod.“

    Und das dritte ist: Wir kommen mit etwas, das sich nicht verändert, und wir gehen auch damit. Das ist unser Selbst. Das Selbst, mit dem wir kommen und gehen, ist ewig, ohne Anfang und Ende, unberührt und unveränderlich.

    Das sollten wir uns öfter vor Augen führen, vor allem dann, wenn wir wieder im Begriff sind zu glauben, daß wir irgend etwas unbedingt brauchen. Wir sollten uns fragen: „Macht mich das wirklich glücklich?“ Und schrittweise werden wir erkennen: „So glücklich macht es mich gar nicht.“ Vielleicht tun wir es trotzdem, weil unser Unterbewußtsein nicht ausreichend davon überzeugt ist. Manche Wünsche muß man sich einfach erfüllen. Aber nachher, wenn man es erreicht hat und feststellt, daß es einen wirklich nicht glücklich gemacht hat, kann man seinem Geist sagen: „Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt.“ Vor allen Dingen verlieren wir so die Besessenheit, mit der Menschen ihren Wünschen folgen. Viele denken, sie brauchen unbedingt dies oder jenes, um glücklich zu sein. Aber in Wirklichkeit braucht man keine konkreten äußeren Objekte. Natürlich ist es wichtig, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben, zu wissen, man ist auch am nächsten Tag noch seines Lebens relativ sicher. Aber über diese existentiellen Grundbedürfnisse hinaus ist alles andere nicht so wichtig.

    Durch solche Reflexion gewinnt man eine große innere Sicherheit. Und als nächstes führt sie einen zu der Überlegung: „Wonach lohnt es sich wirklich zu streben? Was macht mich wirklich glücklich?“ – Und das ist nur der Wunsch nach Befreiung, nach Selbstverwirklichung, Gottesverwirklichung, Erfahrung der Liebe Gottes, wie auch immer wir es ausdrücken wollen. Das ist es, was glücklich macht. Indem wir also viveka, Unterscheidungskraft, entwickeln und gleichzeitig auch vairagya, Wunschlosigkeit, können wir den Wunsch nach Befreiung kultivieren.

  3. Wir können den Wunsch nach Befreiung durch Gebet erhöhen: „Oh Gott, ich habe so viele Wünsche. Bitte erhöhe in mir den Wunsch nach Befreiung.“
  4. Als vierter Weg gilt Karma Yoga. Es heißt, wenn wir gutes karma, gute Handlungen, ausführen, ohne etwas zu erwarten, dann ist das Resultat ein gesteigerter Wunsch nach Befreiung. Wenn wir jemandem etwas Gutes tun mit der Vorstellung, dafür belohnt zu werden, erhalten wir tatsächlich irgendwann irgendeine Art von Belohnung. Wenn wir dagegen jemandem helfen, weil es einfach nötig war, weil es die Situation erforderte und wir gerade da waren, also im Sinn einer wirklichen Karma-Yoga-Handlung, dann manifestiert sich das in einem gesteigerten Wunsch nach Befreiung.
  5. Dasselbe gilt für Bhakti-Yoga-Übungen. Wenn wir pujas (Verehrungsrituale) ausführen, mantras singen, innere Hingabe und Demut üben, zieht das die Gnade Gottes an, die sich dann als gestärkter Wunsch nach Befreiung äußert.

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Kapitel 1, Vers 23

Deutsche Übersetzung:

(Schneller Erfolg kommt) auch durch Hingabe an Gott.

Sanskrit Text:

īśvara-praṇidhānād-vā ||23||

ईश्वरप्रणिधानाद्वा ॥२३॥

ishvara pranidhanad va ||23||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • īśvara = Gott
  • pranidhāna = Hingabe
  • vā = oder, auch

 

Kommentar

Hier erscheint erstmals das Konzept von ishvara, Gott. Patanjali erläutert nicht weiter, wer oder was Gott ist. Denn das Raja-Yoga-System beruht auf der samkhya-Philosophie, einem der sechs klassischen Philosophiesysteme. Samkhya ist eigentlich ein atheistisches System, in dem zwar nicht gesagt wird, daß es keinen Gott gibt, sondern das Thema wird einfach nicht erwähnt.

Patanjali als Praktiker hat nun aber beobachtet, daß Menschen, die einen starken Glauben an Gott haben, Gott verehren und Gott hingegeben sind, die Selbstverwirklichung sehr schnell erreichen. Hingabe an Gott ist eine der schnellsten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Und er hat auch festgestellt, daß längst nicht alle Menschen, die Gott verehren, zur Befreiung kommen, sondern daß es einer bestimmten Einstellung dazu bedarf. Es gab immer schon auch in Indien Menschen, deren Glauben eher fanatisch oder nur rein äußerlich war. Allerdings wurden Religionszwistigkeiten in der Regel über Diskussionen ausgetragen. Bis zum Einfall der Moslems waren Religionskriege in Indien relativ unbekannt. Aber fanatischer oder nicht-verinnerlichter Glaube führt eben nicht zur Befreiung.

Deshalb hat Patanjali beobachtet und definiert, wie die Gottesverehrung beschaffen sein muß, bei der man die Befreiung erreicht:

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Kapitel 1, Vers 24

Deutsche Übersetzung:

Ishvara ist ein besonderes Bewußtseinszentrum frei von Leid, Karma und Wünschen.

Sanskrit Text:

kleśa karma vipāka-āśayaiḥ-aparāmṛṣṭaḥ puruṣa-viśeṣa īśvaraḥ ||24||

क्लेश कर्म विपाकाशयैःपरामृष्टः पुरुषविशेष ईश्वरः ॥२४॥

klesha karma vipaka ashayaih aparamrishtah purusha vishesha ishvarah ||24||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • kleśa = Hindernisse des spirituellen Aspiranten, Leid, Ursache des Leides
  • karma = Handlung und Wirkung
  • vipāka = Wirkung der Handlung, Folgen der Handlungen
  • āśayaiḥ = Sediment, das von den Handlungen übrig bleibt. Also sowohl Erinnerung als auch Ursprung für neue Wünsche
  • aparāmṛṣṭaḥ = unberührt
  • puruṣa = das unveränderbare Selbst, Drashtu, hier Individuum
  • viśeṣa = besonders
  • īśvara = persönlicher Gott, ideal gedachtes Wesen

 

Kommentar

Hingabe an Gott führt da zur Befreiung, wo wir uns Gott vorstellen als

  • unberührt von Leiden. Gott leidet nicht, auch wenn er in seinen Verkörperungen zu leiden scheint
  • nicht dem karma unterworfen
  • wunschlos.

Die Vorstellung, daß Gott leidet oder es uns übelnimmt, wenn wir ihn nicht verehren, führt uns nicht zur Befreiung. Gott braucht keine Verehrung und auch keine Opfergaben. Gott hat nicht den Wunsch, daß alle Menschen Christen oder Moslems oder Hindus werden. Gott erwartet auch nicht von uns, daß wir dieses oder jenes tun, und wenn wir es nicht tun, ist er uns böse. Natürlich gibt es das Gesetz des karmas. Aber es ist nicht so, daß Gott Wünsche oder Vorlieben hätte. Gott ist frei von Leiden, frei von karma und frei von Wünschen. Gott bevorzugt weder Hindus noch Moslems noch Christen. Gott in seinem höchsten Aspekt hat auch nicht den Wunsch, daß mehr Menschen Yoga praktizieren.

Gottesverehrung hilft dem Menschen zur Befreiung, aber nicht Gott. Es heißt zwar, daß Gott uns sucht und, wenn wir einen Schritt zu ihm hin machen, hundert Schritte auf uns zugeht. Aber das ist nicht ein Wunsch, den er hat, sondern es liegt in der Natur Gottes, in seiner allumfassenden, bedingungslosen Liebe.

Patanjali verliert also nicht viele Worte darüber, was ishvara ist. Ob er weiblich oder männlich, persönlich oder unpersönlich, Schöpfer der Welt ist oder nicht, bleibt dahingestellt. Wir können ihn uns auf verschiedene Weisen vorstellen.

Patanjali gibt noch drei weitere Aphorismen über ishvara:

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Kapitel 1, Vers 25

Deutsche Übersetzung:

In Ihm ist der Same der Höchsten Allwissenheit.

Sanskrit Text:

tatra niratiśayaṁ sarvajña-bījam ||25||

तत्र निरतिशयं सर्वज्ञबीजम् ॥२५॥

tatra niratishayam sarvajna bijam ||25||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tatra = dort, in Ihm, in Ishvara
  • nir = nicht
  • atiśaya = überlegen, erhaben
  • nir-atiśayam = das Höchste, Unübertroffene
  • sarvajña = der Allwissende, alles Wissen
  • bīja = Same, Wurzel, Ursprung

 

Kommentar

Wir können alles Wissen erfahren, wenn wir uns auf ishvara beziehen. Wir können entweder zum höchsten Wissen kommen, indem wir meditieren und in uns selbst hineingehen, denn in uns selbst ist alles Wissen. Oder wir können zu Gott beten. Wenn wir zu Gott beten, wird er uns führen und uns alles Wissen bringen.

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Kapitel 1, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

Er ist der ursprüngliche Lehrer, unbegrenzt durch Zeit.

Sanskrit Text:

sa eṣa pūrveṣām-api-guruḥ kālena-anavacchedāt ||26||

स एष पूर्वेषामपिगुरुः कालेनानवच्छेदात् ॥२६॥

sa esha purvesham api guruh kalena anavachchhedat ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sa = er, jener
  • eṣa = dieser
  • pūrveṣām = von den Alten, von den Vorherigen
  • api = auch, sogar
  • guru = Lehrer, Meister, Guru
  • kāla = Zeit
  • anavacchedāt = nicht begrenzt, unverändert

 

Kommentar

Ishvara selbst ist der ursprüngliche guru (Lehrer). Die guru parampara (Schüler-Lehrer-Tradition) in der Schule Sivanandas beginnt bei Narayana. Narayana ist Vishnu, also eine Manifestation von ishvara. Die Hatha Yoga Guru Parampara fängt bei Shiva an. Alle guru paramparas in Indien fangen letztlich mit Gott an, indem ursprünglich ein Lehrer die Weisheit direkt von Gott empfangen hat. So ist Gott der Lehrer aller Lehrer.

Unabhängig davon können wir direkten Zugang zu Gott und göttliche Führung erhalten, indem wir zu Gott beten.

Wenn wir vor wichtigen Entscheidungen stehen, die logisch nicht zu treffen sind, haben wir drei Möglichkeiten:

Wir können uns zum einen an unser Unterbewußtsein richten. Das Unterbewußtsein verfügt über bestimmte Erfahrungen und ein gewisses Wissen.

Noch besser wäre es, sich an das höhere Selbst zu wenden, aber oft ist beides schwierig, wenn wir etwas verzweifelt sind.

Den meisten fällt es dann leichter, sich an ishvara, an Gott, zu erinnern oder auch an den guru. Und wenn wir tief genug von Herzen beten, bekommen wir unweigerlich, in jeder Situation, überall, Führung – sei es in Form einer inneren Gewißheit oder sogar als Vision Gottes.

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Kapitel 1, Vers 27

Deutsche Übersetzung:

Das Ihn offenbarende Wort ist Om.

Sanskrit Text:

tasya vācakaḥ praṇavaḥ ||27||

तस्य वाचकः प्रणवः ॥२७॥

tasya vachakah pranavah ||27||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = sein (d.h. Ishvaras)
  • vācakaḥ = das Bezeichnende, das Offenbarende
  • praṇava = das Mantra OM

 

Kommentar

Eine weitere Weise, zu Gott zu kommen, ist die Mantrawiederholung. Patanjali nennt hier besonders Om als grundlegendes mantra.

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Kapitel 1, Vers 28

Deutsche Übersetzung:

Ständige Wiederholung von Om mit Gefühl und Bewußtsein seiner Bedeutung (führt zu ishvara bzw. samadhi).

Sanskrit Text:

taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam ||28||

तज्जपः तदर्थभावनम् ॥२८॥

taj japah tad artha bhavanam ||28||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = dessen, seine
  • japa = Wiederholung
  • tat = seine, dessen
  • artha = Sinn, Bedeutung
  • bhāvanam = Spirituelle Ausrichtung, Gefühl, Hingabe, Versenkung

 

Kommentar

Wenn wir Om wiederholen, über Om meditieren, führt uns das zu Gott und zu samadhi.

Das ist die dritte Meditationstechnik, die Patanjali anbietet. Die erste war die siebenstufige abstrakte samprajnata-Meditation, die für sehr fortgeschrittene Schüler hilfreich ist und auch für weniger fortgeschrittene ab und zu. Als ausschließliche Meditationstechnik ist sie aber für die Mehrheit nicht geeignet, weil sie zu abstrakt ist.

Eine zweite Möglichkeit ist, einfach Gott zu verehren, abstrakt an Gott zu denken, über ihn zu meditieren, zu ihm zu beten.

Und die dritte, die er hier erwähnt, ist über Om zu meditieren, und zwar mit Gefühl und Gewahrwerden der Bedeutung. Das gilt natürlich nicht nur für Om, sondern für die Meditation über jedes mantra.

Jetzt sagt er noch etwas Interessantes:

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Kapitel 1, Vers 29

Deutsche Übersetzung:

Die Wiederholung von Om verhilft zu erleuchteter Innenschau und zum Verschwinden aller Hindernisse.

Sanskrit Text:

tataḥ pratyak-cetana-adhigamo-‚py-antarāya-abhavaś-ca ||29||

ततः प्रत्यक्चेतनाधिगमोऽप्यन्तरायाभवश्च ॥२९॥

tatah pratyak chetana adhigamo ‚py antaraya abhavash cha ||29||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = von ihr (dieser Übung)
  • pratyak = Innenschau
  • cetanā = erleuchtet, ausgezeichnet
  • adhigamḥ = erhalten, erreichen
  • api = auch
  • antarāya = Hindernisse
  • abhava = Abwesenheit, Verschwinden
  • ca = und

 

Kommentar

Wenn man normalerweise über etwas nachdenkt, versinkt man meist schnell im Sumpf seiner Gedanken. Ist das Allgemeinbefinden beim Nachdenken gerade gut, dann ist es schön. Wenn es einem aber nicht so gut geht und man dann nachdenkt, kreisen die Gedanken beständig und man sackt immer mehr in den Sumpf hinein. Wenn man dann ein mantra wiederholt, wird der Geist klarer. Wenn man mit diesem durch Meditation erhobenen Geist nachdenkt, kann die Antwort leichter kommen. Das bedeutet erleuchtete Innenschau.

Und Patanjali verspricht uns auch noch die Beseitigung aller Hindernisse. Wir brauchen nur Om zu wiederholen und alle Hindernisse sind beseitigt. Das klingt gut – ob es wohl ausreicht ….?

Nach der indischen Unabhängigkeit kam einmal ein Politiker zu Swami Sivananda in den Ashram und zeichnete ihm ein vollständiges Bild aller Schwierigkeiten, vor denen Indien damals stand: Die Flüchtlinge, die aus Pakistan nach Indien geflohen waren. Die Moslems, die Angst hatten, daß die Hindus sich jetzt an ihnen rächen würden. Da waren die Konflikte zwischen den verschiedenen Bundesstaaten innerhalb Indiens. Die hohen Schulden und der Aufbau der Verwaltung. Die Engländer hatten Indien mehr oder weniger überstürzt verlassen, alle hohen Posten in der Verwaltung waren von Engländern besetzt gewesen, und niemand war darauf vorbereitet. Die ganze Verwaltung drohte zusammenzubrechen. Wie kann die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wie kommt man der Korruption bei? Die Gefahr eines Krieges mit Pakistan drohte u.s.w. Insgesamt ein riesiger Berg von Schwierigkeiten, vor dem das Land stand. Swami Sivananda hörte sich das alles aufmerksam und geduldig an, und als der Politiker ihn fragte, was die Lösung für all diese Probleme sein könnte, sagte Swami Sivananda im Brustton der Überzeugung: „Repeat the name of God that is the only solution“ – „Wiederholen Sie den Namen Gottes, das ist die einzige Lösung.“ Der andere war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte erwartet, Swami Sivananda würde ihm großartige Ratschläge zu den einzelnen Problemen geben. Aber er sagte tatsächlich nur: „Wiederholen Sie den Namen Gottes ….“

Wenn die Probleme so groß sind, daß wir sie nicht lösen können, dann kann sie nur Gott lösen. Indem wir den Namen Gottes wiederholen, bekommen wir Zugang zu ihm. Dann kommt die Gnade Gottes, so daß wir fähig werden, das auszuführen, was nötig ist und was innerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Außerdem befreit es uns von dem Gefühl, daß wir die Verantwortung für alles haben, daß wir alles ändern und tun müssen. Wir haben ohne Zweifel Aufgaben und wir versuchen, sie so gut wie möglich zu erfüllen. Aber es ist Gottes Aufgabe, sich um diese Welt zu kümmern. Wir sind das Instrument dafür und wir müssen offen sein, damit Gottes Gnade durch uns fließen kann, so daß wir auch in unübersichtlichen Situationen richtig handeln.

Auch auf vielen anderen Ebenen gibt es Hindernisse, die wir durch Mantrawiederholung überwinden können. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man das über eine gewisse Zeit ausprobiert: Konzentriert man sich auf das mantra und wiederholt es in schwierigen Situation etwas länger, dann verschwinden die Hindernisse. Es ist wirklich verblüffend, aber es ist tatsächlich so.

Und obwohl ich jetzt schon 20 Jahre lang mantras wiederhole, weiß ich bis heute nicht, wie sie eigentlich wirken, sondern nur, daß sie wirken. Ich halte zwar Vorträge über die Wirksamkeit von mantras, aber ihre Wirkungsweise an sich ist ein Mysterium.

Das sagt auch Shri Karthikeyan immer wieder, wenn er in unserem Seminarhaus ist: „Je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich, die ganze Welt ist ein Mysterium. Das Leben ist ein Mysterium. Der Geist ist ein Mysterium. Gott ist ein Mysterium. Mantras sind ein Mysterium. Niemand weiß, wie alles funktioniert.“ Daß es wirkt, wissen wir; wie genau, darüber haben wir zwar verschiedene Theorien, zum Beispiel Klangschwingungen, Resonanz, chakras, prana u.s.w., aber die Wirkung ist tiefer, als man logisch erfassen kann.

Und jetzt zählt uns Patanjali die Hindernisse auf, die es auf dem Weg gibt:

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Kapitel 1, Vers 30

Deutsche Übersetzung:

Die Hindernisse für die Verwirklichung sind Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Verlangen nach Vergnügen, Täuschung, die Unfähigkeit zur Konzentration und Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen.

Sanskrit Text:

vyādhi styāna saṁśaya pramāda-ālasya-avirati bhrāntidarśana-alabdha-bhūmikatva-anavasthitatvāni citta-vikṣepāḥ te antarāyāḥ ||30||

व्याधि स्त्यान संशय प्रमादालस्याविरति भ्रान्तिदर्शनालब्धभूमिकत्वानवस्थितत्वानि चित्तविक्षेपाः ते अन्तरायाः ॥३०॥

vyadhi styana sanshaya pramada alasya avirati bhrantidarshana alabdha bhumikatva anavasthitatvani chitta vikshepah te antarayah ||30||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • vyādhi = Krankheit, körperliche Einschränkung
  • styāna = Stumpfsinn, geistige Trägheit, Steifheit, Rigidität
  • saṁśaya = Zweifel, Zögern, Unentschlossenheit
  • pramāda = Achtlosigkeit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit
  • ālasya = Faulheit
  • avirati = Haften an Dingen, Gier, Verlangen nach Vergnügen
  • bhrānti = Irrtum
  • darśana = Ansicht
  • bhrānti-darśana = Verblendung, Fanatismus
  • bhūmi = Erde, Stufe
  • alabdha-bhūmikatva = Nichterreichen einer Stufe, Unfähigkeit, einen Halt zu finden, Unfähigkeit zur Konzentration
  • anavasthitatvāni = Unstetigkeit, Unbeständigkeit
  • citta = Verstand
  • vikṣepa = Zerstreuung
  • te = sie, diese
  • antarāya = Hindernisse

 

Kommentar

Hier erwähnt Patanjali ein paar ganz typische Hindernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Wenn Menschen mir von ihrem Problem erzählen, reicht es oft aus, wenn ich ihnen sage, daß es den meisten Menschen so geht. Wenn sie wissen, das ist normal, andere haben das auch, können sie beruhigter damit umgehen.

Krankheit ist ein Hindernis aus verschiedenen Gründen. Zum einen natürlich, weil Krankheit uns schwächt. Wenn wir müde oder erkältet sind oder ein Bein gebrochen haben, ist es etwas schwer, sich zur Meditation hinzusetzen. Zum zweiten führt Krankheit aber auch oft zu Zweifeln am Yogaweg. Es gibt diese eigenartige Vorstellung, daß man nicht mehr krank wird, wenn man Yoga übt. Das wird bestärkt durch die teilweise etwas übertriebene Darstellung von Wirkungen der Yogaübungen in Yogabüchern – auch in denen von Swami Sivananda und Swami Vishnu-devananda. Im Kapitel über Gesundheit im Buch „Göttliche Erkenntnis“ von Swami Sivananda heißt es: „Gesundheit ist das Geburtsrecht des Menschen, und gesund sind wir dann, wenn wir die Gesetze der Natur beachten.“ Das ist der typisch indische Stil der Übertreibung. Es stimmt, daß wir weniger krank werden, wenn wir Yoga üben. In Amerika wurde eine Studie durchgeführt, die belegt, daß Menschen, die regelmäßig Yoga üben, nur ein Viertel der Krankheitskosten im Vergleich zum Durchschnitt verursachen. Das ist viel. Man könnte also die Gesundheitsvorsorgekosten auf ein Viertel reduzieren, wenn alle Yoga üben würden. Nur – Menschen, die Yoga üben, werden im Schnitt auch mindestens zehn Jahre älter als andere, so daß die Renten länger beansprucht werden. Folglich müßten die Krankenkassenbeiträge gesenkt und die Rentensätze erhöht werden. Es kann als gesichert gelten, daß Üben von Yoga in all seinen Aspekten – richtige Ernährung, Körperübungen, Entspannungstechniken, Atmung, positives Denken, gesunde Lebenseinstellung, Gottvertrauen, Sinn im Leben, gesunde Einstellung zum Schicksal und zum Streß – den Menschen erheblich gesünder macht und ein längeres Leben schenkt. Aber auch Yoga-Übende können Krankheiten bekommen.

Manche Krankheiten haben den Sinn, uns bestimmte Erfahrungen machen zu lassen, an denen wir wachsen. Diese Krankheiten suchen uns auch dann heim, wenn wir alles richtig machen im Leben. Andere Krankheiten kommen aus karmischen Gründen, weil wir in früheren Leben jemand anderem Krankheiten zugefügt haben oder ähnliches. Dann müssen wir uns mit der Krankheit abfinden. Und wieder andere kommen einfach deshalb, weil sie unseren Fortschritt beschleunigen.

In der Krankheit kann also durchaus eine Lektion liegen. Aber weil man dadurch oft träge wird und einem die spirituellen Praktiken wie asanas, pranayama und Meditation schwerfallen oder ganz unmöglich werden, kommen viele Menschen dadurch ins Zweifeln am ganzen Weg. Deshalb sind Krankheiten in erster Linie Hindernisse und wir bemühen uns insbesondere mit Hatha Yoga Übungen, unseren Körper gesund zu halten. Aber es kommt nicht auf die physische Langlebigkeit an, sondern darauf, wie viele Erfahrungen wir machen, wieviel wir lernen.

Das nächste Hindernis ist Trägheit. Patanjali erwähnt gleich drei Aspekte davon, nämlich geistige Trägheit, Gleichgültigkeit und Faulheit. Von den neun Hindernissen, die er aufzählt, sind drei letztlich tamas (Trägheit, Dunkelheit). Wir müssen tamas überwinden. Das geschieht durch regelmäßige spirituelle Praxis.

Als nächstes Hindernis folgt Zweifel. Der Mensch hat ständig Zweifel. Es heißt, es gibt nur zwei Arten von Menschen, die nie Zweifel haben: Das eine sind die Fanatiker und die anderen die Selbstverwirklichten. Bis zur Verwirklichung schlagen wir uns immer wieder mit vielen kleinen Zweifeln herum und ab und zu auch mit einem grundsätzlichen, größeren. Die Hauptzweifel sind:

  • Gibt es so etwas wie Selbstverwirklichung überhaupt?
  • Kann ich es tatsächlich selbst erreichen?
  • Befinde ich mich auf dem richtigen Weg dorthin?
  • Ist der Mensch oder der guru, dessen Tradition ich folge, der Richtige? Kann er mich richtig führen?
  • Ist das, was ich jetzt gerade praktiziere, überhaupt das richtige?“

Solche Fragen kommen oft auch noch nach Jahren der Praxis.

Wir müssen über Selbstverwirklichung lesen und hören und über Menschen, die sie wirklich selbst erreicht haben. Mit Menschen zu sprechen, die selbstverwirklichte Meister erlebt haben, oder vielleicht sogar persönlich einen zu treffen, verhilft uns zu der Gewißheit: Ja, es gibt sie tatsächlich, die Selbstverwirklichung. Auch die Überzeugung, mit der alle Meister sagen, daß es jeder erreichen kann, hilft uns. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten – aber wir können es erreichen!

Wir müssen uns zuerst gründlich Gedanken machen über den Weg, den wir gehen. Wir müssen überlegen, ob das der richtige Weg und der richtige Lehrer ist oder wir spüren es einfach. Und wenn wir merken, im letzten Jahr oder in den letzten zwei Jahren habe ich diese und jene Fortschritte gemacht, dann wird es sicher auch weitergehen. Sehr nützlich dabei ist ein Tagebuch, in dem man seine Erfahrungen und Schwierigkeiten aufschreibt. Wenn man dann nämlich ein paar Jahre später sein Tagebuch liest und sieht, was für Schwierigkeiten man damals hatte, dann lächelt man und weiß: Ich bin doch erheblich gewachsen. Ohne Tagebuch vergißt man gern, mit welchen Problemen man sich vorher herumgeschlagen hat.

Und ab und zu muß man seinem Geist sagen, er soll aufhören mit seinen Zweifeln. Wenn man einmal einen Entschluß gefaßt hat, dann sollte man ihn auch ausführen. Hin und wieder kann man die Angelegenheit vielleicht nochmals gründlich überdenken, aber nicht ständig zweifeln. Es gibt Menschen, die sich ständig in Selbstzweifeln suhlen. Man muß einfach auch mal einen Entschluß fassen und sich notfalls sagen: „Von jetzt an übe ich ein halbes Jahr mal so; danach schaue ich: War es der richtige Weg? Habe ich Fortschritte gemacht?“ Und dann soll man dieses halbe Jahr auch durchhalten, ohne seinen Entschluß dazwischen ständig in Frage zu stellen. Wenn ein halbes Jahr zu lange ist, nimmt man sich halt nur einen Monat vor oder eine Woche, aber es ist wichtig, daß man einen Entschluß faßt und sich von Etappe zu Etappe durchwühlt.

Auch wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, kann man sich einen Zeitrahmen setzen und sich vornehmen: „Ich gebe mir bis dahin Zeit, dann treffe ich eine Entscheidung und halte mich auch daran.“ Notfalls muß man dann den Entschluß fassen, auch wenn man nicht ganz sicher ist. Dann kann man sich sagen: „Das erscheint mir als das richtige. Wenn sich nicht bis dann und dann etwas Erhebliches ändert, sehe ich das als Hinweis Gottes an und bleibe bei dieser Entscheidung.“

Gleichgültigkeit ist das nächste Hindernis. Diese „Es ist ja alles egal“-Mentalität und Wurstigkeit darf sich nicht einschleichen. Gleichmut ist etwas anders als Gleichgültigkeit. Gleichgültig ist tamasig (träge, dunkel), gleichmütig ist sattvig (rein, klar).

Faulheit ist ein großes Hindernis. Ohne regelmäßige Übung kommt man nirgendwo hin.

Verlangen nach Vergnügen taucht manchmal einfach so auf. Als spiritueller Aspirant überlegt man manchmal: Gibt es nicht doch zu vieles, worauf ich verzichtet habe?

Ich selbst meditiere seit meinem 16. Lebensjahr. Ich bin noch nie in meinem Leben betrunken gewesen, habe noch nie ausgelassen auf einer Feier mitgemacht, – außer bei spirituellen Festen, und die waren harmonisch und schön. Manchmal sagen Leute zu mir: „Wie kannst du überhaupt wissen, was du da verpaßt hast?“ Gut, mir geht es jetzt nicht so, daß ich Angst habe, etwas zu verpassen oder verpaßt zu haben. Schon damals hat mir das nichts bedeutet. Ich habe die Menschen beobachtet, die das alles gemacht haben, und kam in relativ jungen Jahren zu dem Schluß, daß sie nicht wirklich glücklich sind. Ich kann mich erinnern, wie mich meine Cousine einmal in eine Disko mitgeschleppt hat. Kurz vorher hatte ich den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse gelesen, wo etwas über Tanzen vorkam, und so dachte ich, Ekstase über Tanzen zu erreichen, das müßte ja auch ganz schön sein. Dann habe ich das also ausprobiert … – nun gut, von einem Diskobesuch allein klappt das wahrscheinlich auch noch nicht! Aber ich habe auch die anderen beobachtet, und es kam mir zu hohl vor. Wenn Ekstase durch Drogen induziert ist, wenn man Drogen oder Alkohol dazu braucht, ist es keine wertvolle Erfahrung und führt überdies anschließend nur zu einem Kater. Man hat zwar bis vor kurzem angenommen, Ecstasy sei harmlos, aber es scheint so zu sein, daß man davon schwere Schädigungen im Gehirn davontragen und langfristig chronisch depressiv werden kann.

Aber manche Menschen auf dem spirituellen Weg haben doch manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Eine Seminarteilnehmerin hat mir neulich erzählt, sie mache jetzt zwar auch täglich asanas, pranayama und Meditation, aber einmal in der Woche gehe sie schon mit ihrem Freund in ein sehr gutes Restaurant, und der Rotwein gehöre dort einfach dazu. Sie hat das Gefühl, mit dem Glas Rotwein würde ihr ein großes Stück Lebensqualität entgehen. Gut, ich habe ihr jetzt auch nicht geraten, darauf zu verzichten, sondern gemeint, einmal in der Woche ein Glas Rotwein wird nicht so tragisch sein, wenn es ihr so wichtig ist. Aber wenn man eine Weile auf dem Weg ist, dann stellt man fest: Es ist es nicht wert, mit einem Glas Rotwein einen Teil der Wirkung der pranayama-Praxis (Atemübungen) zu vernichten. Und letztlich ist es kein so großes Vergnügen.

Täuschung ist das nächste Hindernis. Man kann sich oft täuschen, indem man Dinge falsch versteht oder falsch sieht oder indem man den niederen Geist für die innere Stimme der Intuition hält. Swami Vishnu hat gern gesagt: „Never trust your mind“ – „Traue nie deinem Geist“. Aber wem kann man sonst trauen?

Wenn man einen guru hat, kann man ihn fragen. Aber die Antwort ist meistens nicht eindeutig.

Ich habe Swami Vishnu oft gefragt. Bei technischen Fragen wie: „Wer kann kapalabhati auch wechselseitig ausführen?“ oder „Sollte man bei kapalabhati (Schnellatmung; eine Atemübung im Yoga) den Brustkorb erhoben oder drunten halten?“ „Sollte man vor dem Atemanhalten nach bhastrika (fortgeschrittene Atemübung im Yoga) rechts einatmen oder links?“ – denn das steht unterschiedlich in den Büchern –, hat er mir klare Antworten gegeben.

Aber als ich ihn gefragt habe, ob ich mein Studium aufgeben oder ob ich weitermachen soll, da kam keine klare Antwort. Oder als ich ihn mal etwas anderes gefragt habe, hat er mir auch nicht gesagt, was ich machen soll. Er sagte nur: „Entwickle Hingabe.“ In solchen Fällen gibt ein Meister nur Kriterien an, an denen man sich orientieren und nach denen man selbst entscheiden kann. Ein guru macht seine Schüler nicht abhängig. Er nimmt ihnen die Entscheidungen nicht ab. So wie Krishna am Ende der Bhagavad Gita zu Arjuna sagt: „Und jetzt mache, was du willst“. Am Anfang sagt er, er solle kämpfen, weil Arjuna das so heftig abgelehnt hat. Aber später, nachdem er ihm die Yogawege erklärt hat, überläßt er ihm die Entscheidung – und so ist auch ein guru. Der guru hilft einem, aus der Täuschung herauszukommen und die Antwort selbst zu finden.

Die Unfähigkeit zur Konzentration kann eine Schwierigkeit sein. Vielen Menschen fällt es am Anfang schwer zu meditieren. Manchmal kommt auch nach einer Weile eine Unreinheit im Geist hoch. Und obgleich man vielleicht ein Jahr oder länger sehr schöne Meditationen hatte, kann man plötzlich nicht mehr meditieren. Dann denkt man: Jetzt mache ich so viel Yoga und kann nicht mehr meditieren! Vorher habe ich weniger gemacht und es ging viel besser! Die Ursache ist eben eine stärkere Unreinheit, die sich löst, so daß man eine Weile von der Meditation wie abgeschnitten ist. Das muß man aushalten und trotzdem die Unterscheidungskraft behalten. Die wahrscheinlich wirkungsvollste Weise, die Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen, ist intensives pranayama. Das muß man aber von einem kompetenten Lehrer richtig lernen.

Und schließlich ist Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen ein Hindernis. Äußere Dinge lenken uns ab und machen den Geist unruhig. Wir sollten uns nicht ablenken lassen.

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