Kapitel 1, Vers 46

Deutsche Übersetzung:

Alle diese sind jedoch nur samadhih mit Samen.

Sanskrit Text:

tā eva sabījas-samādhiḥ ||46||

ता एव सबीजस्समाधिः ॥४६॥

ta eva sabijas samadhih ||46||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tā = jene
  • eva = nur
  • sabīja = mit „Samen“, d.h. mit Dualität
  • samādhi = Samadhi, überbewußter Zustand

Kommentar

Das ist noch nicht die letztliche Befreiung.

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Kapitel 1, Vers 47

Deutsche Übersetzung:

Durch das Erfahren und Verfeinern von nirvichara samadhi kommt innere Erleuchtung.

Sanskrit Text:

nirvicāra-vaiśāradye-‚dhyātma-prasādaḥ ||47||

निर्विचारवैशारद्येऽध्यात्मप्रसादः ॥४७॥

nirvichara vaisharadye ‚dhyatma prasadah ||47||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • nirvicārā = Samadhi ohne Fragestellung
  • vaiśāradye = Routine in, erfahren, geübt
  • adhyātma = geistig, innen
  • prasāda = Helligkeit, Klarheit

Kommentar

Wenn wir so weit sind, daß wir zu nirvichara kommen, dämmert die Erleuchtung. Es ist noch nicht die vollständige Erleuchtung, aber sie beginnt in diesem Stadium allmählich.

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Kapitel 1, Vers 48

Deutsche Übersetzung:

Das Wissen, das in diesem Zustand erlangt wird, ist wahres Wissen.

Sanskrit Text:

ṛtaṁbharā tatra prajñā ||48||

ऋतंभरा तत्र प्रज्ञा ॥४८॥

ritanbhara tatra prajna ||48||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • ṛtambharā = das Wahre, Rechte bergend
  • tatra = da
  • prajñā = Bewusstsein, wahres Wissen

Kommentar

In nirvichara, wo wir in die subtilste Essenz des Universums hineingehen und damit verschmelzen, nehmen wir tatsächlich direkte Wahrheit, prajna, wahr. Es ist keine relative Wahrheit mehr, sondern direktes Bewußtwerden der Wahrheit. Trotzdem ist es noch nicht das Unendliche.

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Kapitel 1, Vers 49

Deutsche Übersetzung:

Wissen aus Zeugnis und Folgerung ist dem Wissen aus höheren Zuständen des Bewußtseins nicht gleich; denn es ist auf ein bestimmtes Objekt gerichtet.

Sanskrit Text:

śruta-anumāna-prajñā-abhyām-anya-viṣayā viśeṣa-arthatvāt ||49||

श्रुतानुमानप्रज्ञाभ्यामन्यविषया विशेषार्थत्वात् ॥४९॥

shruta anumana prajna abhyam anya vishaya vishesha arthatvat ||49||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śruta = Gehörtes
  • anumāna = Folgerung
  • prajñā = wahres Wissen, direkte Erkenntnis aus höherem Bewußtsein
  • anya = anders
  • viṣayā = Objekt, Inhalt
  • viśeṣa = besonders
  • artha = Objekt, Bild, Wahrheit
  • arthatvāt = Wahrheit zum, Beziehung zum

Kommentar

Wie bereits erwähnt, gibt es drei Ursachen des Wissens, nämlich direkte Wahrnehmung, Zeugnis und logische Schlußfolgerung.

Hier sagt Patanjali, die höchste direkte Wahrnehmung geschieht in nirvichara samadhi. Wenn man nirvichara samadhi erreicht, erlangt man Wissen über alles. Das Wissen dagegen, das wir aus Schlußfolgerung und Zeugnis haben, ist nur auf ein bestimmtes Objekt gerichtet und außerdem mit Irrtum behaftet.

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Kapitel 1, Vers 50

Deutsche Übersetzung:

Die daraus entstandenen Eindrücke (samskaras) ersetzen alle anderen.

Sanskrit Text:

tajjas-saṁskāro-’nya-saṁskāra pratibandhī ||50||

तज्जस्संस्कारोऽन्यसंस्कार प्रतिबन्धी ॥५०॥

tajjas sanskaro ’nya sanskara pratibandhi ||50||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tadja = aus ihm entstanden
  • saṁskāra = Eindruck
  • anya = von anderen
  • saṁskāra = Eindrücke
  • pratibandha = verhindern, ersetzen

Kommentar

Samskaras sind Eindrücke im Unterbewußtsein. Manche Eindrücke im Unterbewußtsein beziehen sich auf bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten. Manche Menschen sind musikalisch, andere haben eine besondere handwerkliche, mathematische oder schriftstellerische Begabung, natürliche Menschenkenntnis oder Führungsfähigkeiten, mit denen sie schon auf die Welt gekommen sind, also angeborene samskaras.

Samskaras sind auch Wünsche und Neigungen. Oft ergänzen sich Fähigkeiten und Neigungen, aber nicht immer. Manche Kinder mögen zum Beispiel von klein auf eine Farbe mehr als andere, manche mögen dieses, andere jenes lieber. Manche Menschen können etwas ganz gut, haben aber keine Lust dazu, sondern wollen gerne etwas anderes machen.

Es gibt auch Menschen mit alten Yoga-samskaras. Sie belegen aus irgendwelchen eigenartigen Gründen einen Yogakurs – weil ein Freund, eine Freundin sie mitschleppt, weil sie zufällig ein Buch darüber sehen, weil sie sich gestreßt fühlen oder Rückenschmerzen haben, weil sie einfach mal etwas Neues ausprobieren möchten oder jemand ihnen erzählt hat, wie toll Yoga ist – und dann gefällt es ihnen so gut, sie wollen einfach mehr machen. Swami Vishnu hat gesagt: Wer in diesem kali yuga (eisernes, materialistisches Zeitalter) ein spirituelles Leben wirklich konsequent leben kann, der muß schon tiefe spirituelle samskaras haben, der muß schon in einigen Leben vorher ab und zu mal Yoga geübt haben! Und wenn die Zeit reif ist, drücken sich diese samskaras von selbst aus.

Nun kann man natürlich fragen: Wenn das so ist, warum passiert es mir dann erst jetzt mit 35 oder 40 Jahren oder noch später, daß ich anfange, Yoga zu üben? – Das kommt daher, daß man aus früheren Leben auch noch andere samskaras hat, Wünsche oder Neigungen, die man nicht ausgelebt und daher bedauert hat. Vielleicht hat man in seinem früheren Leben gedacht: „Jetzt habe ich 20 Jahre oder mehr geübt, aber das und das habe ich verpaßt.“ Wenn man diese Vorstellung hatte, dann wird man eben im gegenwärtigen Leben erst all diese Sachen ausleben und vielleicht erst mit 40, 60, 80 Jahren oder sogar noch später zum Yoga kommen. Aber dann geht es in der Regel recht schnell und konsequent, das Leben wird sich recht zügig umwandeln, eben wegen dieser bereits vorhandenen Eindrücke.

Natürlich sind unsere samskaras nicht nur vom letzten Leben abhängig, sondern sie werden auch in diesem Leben weitergeprägt – durch unsere Erziehung, unsere Eltern, unsere Klassenkameraden, unsere Lehrer und durch das, was wir bewußt im Leben tun.

Wir können unsere samskaras ändern. Ein großer Teil des spirituellen Fortschritts besteht darin, die samskaras Schritt für Schritt zu verändern. Das ist einer der Gründe, warum das spirituelle Wachstum so lange dauert. In unserem Unterbewußtsein ist so viel gespeichert – Ärger, Eifersucht, Angst, Selbstsucht, Gier, Zorn, Neid, Haß. All das müssen wir Schritt für Schritt umwandeln. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern dauert seine Zeit. Yoga gibt uns Techniken an die Hand, wie wir bewußt daran arbeiten können. Wir müssen positive Denkgewohnheiten schaffen, unser Unterbewußtsein Schritt für Schritt transformieren.

Auch alle Wünsche, die wir noch haben, prägen uns und unser Leben. Es heißt, daß jeder Wunsch auf irgendeine Art und Weise erfüllt werden muß. Wenn der Wunsch klein ist, kann er auch manchmal im Traum erfüllt werden. Andere können in der Zeit zwischen zwei Leben auf der Astralebene erfüllt werden. Und wieder andere müssen sich auf der physischen Ebene manifestieren. Es ist also wichtig, aufzupassen, welche Wünsche man kultiviert, welche man in sich stark werden läßt. All das hält uns davon ab, zur Wahrheit zu kommen.

Es gibt drei Ursachen, die unseren spirituellen Fortschritt bremsen: die samskaras, das karma und Mangel an ojas, spiritueller Energie.

Unseren Geist auf eine höhere Ebene zu bringen, zu samadhi (überbewußter Zustand), braucht sehr viel ojas, das wir durch systematische spirituelle Praxis und Sublimierung aller anderen Energien erst ansammeln müssen.

Dabei handelt es sich erst einmal um die Grundenergien prana, apana, samana, udana, vyana als Manifestationen des pranas. Durch systematische Yogapraktiken sublimieren wir diese. Auch Wünsche können wir durch Nichterfüllung sublimieren. Und auch andere Impulse und Emotionen können wir sublimieren, in spirituelle Energie umwandeln, indem wir ihnen nicht nachgeben.

Und dann wirkt natürlich karma. Wir haben verschiedene Lektionen zu lernen. Solange wir noch sehr viel karma haben, wird auch die Selbstverwirklichung auf sich warten lassen. Trotzdem heißt es: Wenn es uns trotz allen karmas doch irgendwie gelingt, zu samadhi zu kommen, dann werden die Eindrücke von samadhi so stark sein, daß sie alle anderen Eindrücke ersetzen. Eine tiefe spirituelle Erfahrung wird dann so stark, daß vieles andere abgeschwächt wird und keine so große Rolle mehr spielt. Wenn man eine große Vision, eine tiefe Meditationserfahrung hat und sich dabei dem Unendlichen, Gott oder dem Meister sehr nahe oder verbunden fühlt, dann wird das mit einem Schlag stärker als alles andere. Natürlich können anschließend die anderen Wünsche und samskaras auch wieder wachsen, wenn wir sie füttern, oder sie können noch kleiner werden, wenn wir uns bewußt mehr spirituell orientieren. Wir müssen also auch nach einer solchen Erfahrung wachsam sein und unsere spirituelle Praxis diszipliniert weiterführen.

Deshalb kann man sagen, der spirituelle Weg ist eine Mischung aus schrittweiser Arbeit und plötzlicher Gnade.

Wir arbeiten ganz langsam, ändern, ersetzen einen negativen Gedanken durch einen positiven, eine negative Eigenschaft durch eine positive, alles Schritt für Schritt. Es gibt Rückfälle, wir fallen in alte Gewohnheiten zurück, müssen uns täglich neu motivieren und überwinden. Und plötzlich gibt es eines Tages eine wunderschöne Meditation oder ein tiefgehendes pranayama, und mit einem Schlag sind all die Schwierigkeiten erst einmal verschwunden.

Das Resultat von höheren Bewußtseinszuständen ist, daß sie die samskaras ersetzen. Und das ist auch ein Kriterium, um zu beurteilen, ob eine Erfahrung wirklich samadhi war oder nicht. War es samadhi, dann ändert dieses Erleben etwas Grundlegendes in uns. Wir sind nicht mehr so wie vorher. Unser Denken, Fühlen, Wollen, Mögen und Wünschen haben sich verwandelt.

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Kapitel 1, Vers 51

Deutsche Übersetzung:

Wird auch dieses zur Ruhe gebracht und so alles zur Ruhe gebracht, tritt man in den samenlosen Zustand des samadhi ein.

Sanskrit Text:

tasyāpi nirodhe sarva-nirodhān-nirbījaḥ samādhiḥ ||51||

तस्यापि निरोधे सर्वनिरोधान्निर्बीजः समाधिः ॥५१॥

tasyapi nirodhe sarva nirodhan nirbijah samadhih ||51||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tasya = von dem
  • api = auch
  • nirodha = Zur-Ruhe-Bringen, Beherrschung
  • sarva = (von) allen
  • nirodha = Zur-Ruhe-Bringen, Beherrschung
  • nirbīja = samenlos, ohne Dualität
  • samādhi = überbewußter Zustand

Kommentar

Werden die Bewußtsteinszustände von nirvichara, sananda und sasmita samadhi überwunden, werden auch sie zu nirodha, dann hört alles auf (sarva-nirodhâ) und wir kommen zu nirbija samadhi, zum samadhi ohne Samen. Das ist das gleiche wie asamprajnata samadhi. Und dann ist man selbstverwirklicht.

Oft wird gefragt, wie das aussieht, wenn sich jemand im Zustand des samadhi befindet.

Arjuna fragt Krishna im 2. Kapitel der Bhagavad Gita: „Wie sieht ein Mensch aus, der die Verwirklichung erreicht hat? Wie geht er, wie ist er, wie steht er, wie spricht er?“ Krishna geht darauf überhaupt nicht ein. Er sagt statt dessen nur: Ein Selbstverwirklichter ist gleichmütig in Erfolg und Mißerfolg. Er empfindet Liebe zu allen Wesen. Er ist in der Gegenwart des Höchsten. Äußere Kennzeichen gibt Krishna gar nicht an.

Aber ich kann etwas aus meiner persönlichen Erfahrung mit Swami Vishnu berichten. Wenn er öffentlich meditiert hat, hat er sich bemüht, nicht in samadhi zu fallen. Er hat dann auch nur kurz meditiert, bis zu einer halben Stunde. Denn in samadhi ist man zu sehr von der Außenwelt weg. Normalerweise hat er zwischen drei und fünf Uhr morgens meditiert, und dann war er allein. Aber wenn man in seiner Nähe war, hat man das gemerkt. Als ich einmal eine Weile in demselben Häuschen wohnte wie er, bin ich immer um drei Uhr aufgewacht und konnte gar nicht anders als meditieren. Oder wenn man sich im selben Zimmer befand wie er, merkte man die starke Schwingung, die von ihm ausging.

Ich kann mich an ein Ereignis während unserer fortgeschrittenen Lehrerausbildung erinnern. Es war an Swami Sivanandas Geburtstag. Aus diesem Anlaß haben wir ein Schauspiel aufgeführt, wo wir ein paar Szenen aus dem Leben von Swami Sivananda gespielt haben. Swami Vishnu hat zuerst zugeschaut, uns immer wieder gelobt, wie gut die Szenen seien, und plötzlich hat er nichts mehr gesagt. Er saß nur einfach da, vollkommen bewegungslos. Nichts hat sich bewegt, nur ein Lächeln lag über seinem Gesichtsausdruck, und so blieb er. Wir wußten erst nicht, wie wir uns jetzt verhalten sollten. Schließlich haben wir das Stück einfach weiter gespielt – er hat sich davon auch nicht weiter stören lassen. Als das Stück zu Ende war, haben wir gemeinsam Om gesagt. Wer schlafen gehen wollte, ist gegangen und ein paar sind noch eine Weile bei Swami Vishnu geblieben. Er blieb mehrere Stunden bewegungslos. Irgendwann zog sich einer nach dem anderen zurück, und dann saß er halt alleine da. So ist samadhi.

Samadhi selbst kann man nicht beschreiben. Es ist sat-chit-ananda, reines Sein, Wissen und Glückseligkeit.

Die niederen samadhi-Stufen sind noch verbunden mit irgendwelchen Wahrnehmungen, konkreten Gefühlen, aber in den höheren Stufen gibt es nichts mehr, was man auch nur andeutungsweise beschreiben könnte.

Die kundalini (ruhende schöpferische Energie im Menschen) entwickelt sich parallel damit. Wenn man in samadhi ist, ist auch das prana sehr hoch, aber man ist sich dessen nicht mehr bewußt. Die Gehirnwellen sind in einem spezifischen Zustand, aber man ist sich keiner Gehirnwellen bewußt. Der Herzschlag setzt fast aus, aber man ist sich keines Herzschlages bewußt. Der Körper wird vollkommen bewegungslos, aber man spürt keinen Körper.

Es gibt also Korrelationen auf der physischen und energetischen Ebene, aber das Bewußtsein ist davon abgehoben. Das Bewußtsein ist eben nicht mehr im individuellen Körper und in der individuellen Energie. Auch individuelle Emotionen, Gefühle, Wahrnehmungen, Sichtweisen sind nicht mehr da, weil das Bewußtsein in dieser Form von vollständigem samadhi, wo wir uns auf das Kosmische als Ganzes konzentrieren, nichts Individuelles mehr erfaßt.

Die Meister haben das sogenannte Doppelbewußtsein. Das heißt, sie haben das Bewußtsein für das Unendliche und das Bewußtsein für die Welt gleichzeitig. Sie sind entrückt, und es kann sein, daß sie ständig in einem höheren Bewußtseinszustand bleiben und auf dieser Erde gar nicht mehr so richtig landen. Während andere Meister, zu denen auch Swami Sivananada lange Zeit gehörte, gleichzeitig vollen Zugang zum Überbewußtsein und zur physischen Welt haben.

Da gibt es eine lustige Geschichte. Eines Tages kam eine Frau in den Ashram in Rishikesh und wollte gerne Swami Sivananda sehen. Man hat sie ins Büro geschickt und gesagt, dort würde sie ihn treffen. Im Büro saß jemand an der Schreibmaschine. Als er sie sah, hat er angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Er hat sie gefragt, wie es ihr geht, was sie macht, wie lange sie auf dem spirituellen Weg ist u.s.w. Nach der Unterhaltung kam sie wieder heraus und fragte: „Da war kein Swami Sivananda, wo ist er denn?“ Und die anderen sagten: „Ja, du kommst doch gerade von ihm, du hast dich doch mit ihm unterhalten.“ „Was, das ist der Meister Sivananda? Ich dachte, er sei der Manager.“ Sie hat zwar gemerkt, daß eine besondere Ausstrahlung von ihm ausging, glaubte aber nicht, daß ein Heiliger eine Schreibmaschine bedienen würde…. Sie ist dann noch einmal hineingegangen und hat sich vor ihm verneigt.

Wenn man als spiritueller Aspirant zu schnell zu subtil wird und die Bodenhaftung verliert, ist das nicht so gut. Denn dann entgeht man einigen Problemen, die man eigentlich bewältigen und aufarbeiten müßte. Deshalb ist auch karma yoga, der selbstlose Dienst, das Handeln und Arbeiten ohne Erwartung, so wichtig. Und es ist wichtig, an den samskaras zu arbeiten. Wenn man sich dauerhaft in einem Schwebezustand befindet, bevor man an den samskaras gearbeitet hat, dann heiligt man nur sein Ego, statt es zu transzendieren und rettet seine Unvollkommenheiten in einen subtilen Schwärmzustand.

Im engeren Kreis seiner Schüler hat Swami Vishnu uns manchmal gesagt, wir sollen nicht die Illusion haben, daß der spirituelle Weg im fortgeschrittenen Stadium leichter wird. Wenn man auf den ersten Stufen steht und fällt, dann ist es nicht so schlimm. Wenn man auf einer Leiter die untersten Sprossen erklommen hat und dann herunterfällt, macht es nichts. Aber wenn man auf einer langen Leiter ganz oben ist, ausrutscht und stürzt, dann ist es gefährlich. Je höher wir kommen, desto größer sind die Versuchungen, und desto größer sind die Aufgaben. Natürlich ist auch die Wonne, die man in der Meditation und im Leben erfährt, um so größer. Aber es wird nicht leichter.

Eigentlich könnte man hier aufhören. Das erste Kapitel enthält auf gewisse Weise schon alles.

Um das erste Kapitel zusammenzufassen:

Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist. Dann ruht man in seinem wahren Wesen. Ansonsten identifiziert man sich mit den vrittis (Gedankenwellen).

Es gibt fünf Arten von vrittis. Einige sind schmerzhaft, andere nicht. Die Gedanken werden durch abhyasa, Übung, und vairagya, Nichtanhaften, zur Ruhe gebracht. Werden die vrittis beherrscht, kommt man zu samadhi. Es gibt verschiedene Stufen von samadhi.

Manche Menschen erreichen die Befreiung recht zügig, weil sie in einem früheren Leben schon sehr weit waren. Andere hingegen bemühen sich in diesem Leben durch verschiedene Praktiken, die sie mit Energie, Vertrauen, Erinnerung und klarem Bewußtsein ausführen.

Die Verwirklichung kommt schnell, wenn der Wunsch danach stark ist. Die Verehrung Gottes, ishvara pranidhana, führt sehr schnell zur Verwirklichung. Ishvara ist das spezifische Zentrum von Bewußtsein, welches frei ist von karma, von Wünschen und von Leid. Ishvara ist der Lehrer aller Lehrer. Er enthüllt sich in dem Wort „Om“. „Om“ gibt eine erleuchtete Innenschau und beseitigt alle Hindernisse.

Darauf folgt eine Aufzählung aller Hindernisse und anschließend eine Beschreibung von Techniken, die diese Hindernisse beseitigen.

Dann spricht Patanjali nochmals über die einzelnen samadhi-Formen und zum Schluß sind wir bei nirbijah samadhi. Irgendwann kommen wir alle zu nirbijah samadhi, aber es ist nicht gesagt, daß wir es in diesem Leben erreichen.

Für sehr fortgeschrittene Aspiranten reicht das erste Kapitel aus, denn es enthält im Kern alles. Es ist sehr anspruchsvoll. Die Hälfte handelt von samadhi, die andere Hälfte davon, wie die Hindernisse dorthin zu beseitigen sind.

Andere Aspiranten, zu denen die meisten gehören, müssen auch noch die restlichen Kapitel behandeln. Dort wird es nämlich sehr viel leichter. Das zweite Kapitel ist einfacher, konkreter und daher für den normalen Durchschnittsaspiranten praktischer. Nicht umsonst sind die Inhalte des zweiten Kapitels unter Yoga-Übenden am bekanntesten.

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Kapitel 2, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Disziplin, Selbststudium und Hingabe an Gott bilden den kriya yoga.

Sanskrit Text:

tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ ||1||

तपः स्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि क्रियायोगः ॥१॥

tapah svadhyay eshvarapranidhanani kriya yogah ||1||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tapa = Askese, Disziplin, Hitze, Selbstdisziplin
  • svādhyāya = Selbststudium, sich selbst achtend
  • īśvarapraṇidhāna = Hingabe an einen persönlichen Gott, Selbstaufgabe, ohne Verhaftung an das Resultat
  • kriyā = Handlung, Yoga der Tat, Kriya-Yoga
  • yoga = Yoga

Kommentar

Der Ausdruck kriya heißt Handlung, ähnlich wie karma. Beide stammen vom selben Wortstamm kri. Kriya Yoga ist der Yoga der Handlung, d. h., es geht um Techniken und Methoden, die jeder ausführen kann; etwas, was man aktiv tun kann, ohne fortgeschritten zu sein.

Das Wort kriya yoga bezeichnet in verschiedenen Yogasystemen jeweils etwas anderes:

Im Hatha Yoga sind die kriyas die Reinigungsübungen wie neti (Nasenspülung) oder shank prakshalama (Magen-/Darmreinigung), etc.

Im Kundalini Yoga sowie bei Paramahamsa Yoganananda werden kombinierte Energietechniken als kriyas bezeichnet.

Kriya ist zunächst einmal etwas Handfestes, zu dem keine Konzentrationsfähigkeit und kein höheres Bewußtsein notwendig sind. Denn es ist schwer, kosmische Liebe zu empfinden oder die Gegenwart Gottes zu spüren. Es ist leichter, Anweisungen für bestimmte Techniken zu folgen, wie zum Beispiel: „Zieh‘ die Beckenbodenmuskeln zusammen, erzeuge den sanft hörbaren ujjayi-Klang, wiederhole geistig ‚lam, lam, lam‘ und visualisiere dabei eine Glasröhre in der Wirbelsäule, in der Licht vom unteren Ende der Wirbelsäule nach oben strömt.“ Das kann man irgendwie machen.

Im alten klassischen Bhakti Yoga sind die kriyas bestimmte Rituale, die ein indischer Hausvater, ein grihasti, ausführt, also z.B. pujas (Verehrungsritual), Ahnenverehrung, Almosen, Feuer entzünden u.s.w. Es gibt bestimmte Handlungen (kriyas), die für einen Haushalter vorgeschrieben sind; sie werden bei manchen Brahmanen auch heute noch praktiziert.

Und im Raja Yoga sind die drei kriyas tapas (Askese, Disziplin, Hitze), swadhyaya (Selbststudium) und ishvara pranidhana (Hingabe an Gott, Verehrung Gottes).

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Kapitel 2, Vers 2

Deutsche Übersetzung:

Er vermindert die kleshas (Leiden) und führt zu samadhi.

Sanskrit Text:

samādhi-bhāvana-arthaḥ kleśa tanū-karaṇa-arthaś-ca ||2||

समाधिभावनार्थः क्लेश तनूकरणार्थश्च ॥२॥

samadhi bhavana arthah klesha tanu karana arthash cha ||2||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • samādhi = Samadhi, Bewusstseinzustand der Erleuchtung, Ziel des Yoga
  • bhāvana = Ausrichtung auf
  • arthaḥ = Ziel
  • kleśa = Die Bürden; etwas, das den spirituellen Weg erschwert
  • tanū = vermindern, ausdünnen
  • karaṇa = herbeiführen, erreichen
  • arhta = Ziel

Kommentar

Kriya Yoga schafft bhâvana artha, das rechte, innige Gefühl, das samadhi herbeiführt. Indem wir kriya yoga praktizieren, entsteht die emotionelle Grundhaltung, bhâva, welche uns in die Lage versetzt, samadhi zu erreichen. Kriya Yoga vermindert die kleshas. Die kleshas sind die Ursachen des Leides.

Was sind nun die kleshas? Das wird im folgenden erklärt.

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Kapitel 2, Vers 3

Deutsche Übersetzung:

Unwissenheit, Identifikation, Anziehung und Abneigung sowie Furcht vor dem Tod sind die kleshas (Schmerz verursachenden Leiden).

Sanskrit Text:

avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ kleśāḥ ||3||

अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः ॥३॥

avidya asmita raga dvesha abhiniveshah kleshah ||3||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • avidyā = Unwissenheit, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit
  • asmitā = Selbstbezogenheit, Identifikation mit dem Körper bzw. dem Wandelbaren des Menschen
  • rāga = Gier, Anziehung, Wunsch; Glaube, dass etwas Äußeres uns glücklich machen kann
  • dveṣa = Ekel, Abneigung; Glaube, dass etwas Äußeres uns ins Unglück stürzen kann
  • abhiniveśa = tief in uns sitzende Angst, Todesangst, Lebenswille
  • kleśa = Die Bürden auf dem spirituellen Weg

Kommentar

Die fünf kleshas heißen

avidya – Nichtwissen, Unwissenheit
asmita – Egoismus, Ichhaftigkeit, Identifikation
raga – Mögen, Wunsch, Gier
dvesha – Nichtmögen, Abneigung
abhinivesha – „Anhaften“, im engeren Sinn Furcht vor dem Tod, im weiteren übertragenen Sinn Angst in jeglicher Form

Wir betrachten die kleshas zunächst näher. Dann wird es leicht verständlich, warum kriya yoga hilft, Leiden zu vermeiden.

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Kapitel 2, Vers 4

Deutsche Übersetzung:

Avidya (Unwissenheit) ist die Ursache (Quelle) von allen darauf folgenden (kleshas), ob sie nun schlafend, schwach, überwunden oder voll wirksam sind.

Sanskrit Text:

avidyā kṣetram-uttareṣām prasupta-tanu-vicchinn-odārāṇām ||4||

अविद्या क्षेत्रमुत्तरेषाम् प्रसुप्ततनुविच्छिन्नोदाराणाम् ॥४॥

avidya kshetram uttaresham prasupta tanu vichchhinn odaranam ||4||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • avidyā = Unwissenheit, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit
  • kṣetra = Acker, Feld, Quelle
  • uttara = die Folgenden, die Weiteren
  • prasupta = schlafend, latent, schlummernd
  • tanu = schwach, ausgedünnt, keimen, jung
  • vicchinnā = ausgewachsen, stark
  • udāra = mächtig, übermächtig, riesig
  • āṇām = von all diesen

Kommentar

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Kapitel 2, Vers 5

Deutsche Übersetzung:

Durch avidya (Unwissenheit) hält man das Vergängliche, Unreine, Leidvolle, das Nicht-Selbst fälschlicherweise für das Ewige, Reine, Freudvolle, das Selbst.

Sanskrit Text:

anityā-aśuci-duḥkha-anātmasu nitya-śuci-sukha-ātmakhyātir-avidyā ||5||

अनित्याशुचिदुःखानात्मसु नित्यशुचिसुखात्मख्यातिरविद्या ॥५॥

anitya ashuchi duhkha anatmasu nitya shuchi sukha atmakhyatir avidya ||5||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • anitya = Vergängliches, Unbeständiges
  • aśuci = Unreines, nicht Sauberes
  • duḥkha = Schmerz, Leid, Elend
  • an = nicht
  • ātma = das wahre Selbst
  • anātma = das nicht wahre Selbst, also das wandelbare Chitta
  • nitya = Beständiges, Ewiges
  • śuci = Reines, Sauberes
  • sukha = Glück, Glück bringend
  • ātma = das wahre Selbst, Drashtu
  • khyāti = Erkennen, Wissen, Bewusstsein
  • avidyā = Unwissen, Verwechslung, Mangel an Erkenntnisfähigkeit

Kommentar

Der Körper ist voller Unreinheiten, schmerzvoll und nicht das Selbst. Aber wir denken: Ich bin der Körper. Und die wenigsten rechnen damit, daß sie sterben werden. Sie halten den Körper für rein, für gut, für ewig. In einer Umfrage wurden Menschen gefragt, ob sie lieber zu Hause oder im Krankenhaus sterben wollen. Die meisten sagten: „Wenn ich schon sterben muß, dann lieber zu Hause.“– als ob das die Frage wäre. Man stirbt ganz sicher irgendwann (körperlich)!

Wenn wir einmal pro Woche shank prakshalama (Magen-/Darmreinigung) machen, oft fasten, nur biologisch-organisches Gemüse in optimalen Abstimmungen essen, jeden Tag neti, dhauti, basti u.s.w. machen würden, würden wir zwar den Körper recht rein halten, aber irgendwann stirbt er trotzdem. Der Körper bemüht sich von Natur aus, rein zu bleiben. Durch verschiedene Reinigungspraktiken versuchen wir, ihn dabei zu unterstützen. Die meisten Menschen machen aber eher das Gegenteil. Sie muten ihrem Körper alle möglichen schlimmen Sachen zu, und das führt eben zu Unreinheiten. Denn die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir alle möglichen Konservierungs-, Geschmacks-, Aroma- und Farbstoffe zu uns nehmen; die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir die Luft vergiften und sie dann einatmen; die Natur hat nicht vorgesehen, daß wir unseren Körper zum Grab von Tierleichenteilen machen. Das alles führt zu allen möglichen Unreinheiten.

Und wie mit unserem Körper, identifizieren wir uns auch mit unserer Persönlichkeit, mit unseren Talenten, Fähigkeiten, Neigungen: „So bin ich halt“.

Man hält das Schmerzvolle für das Gute, Freudvolle. Alles Sinnliche ist letztlich nicht wirklich freudvoll, aber man denkt, dies oder jenes zu erreichen, müßte freudvoll sein.

Das sind Beispiele für avidya, Unwissenheit, fälschliche Ansicht.

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Kapitel 2, Vers 6

Deutsche Übersetzung:

Asmita (Egoismus) ist die Identifikation des Sehenden mit dem Instrument des Sehens.

Sanskrit Text:

dṛg-darśana-śaktyor-ekātmata-iva-asmitā ||6||

दृग्दर्शनशक्त्योरेकात्मतैवास्मिता ॥६॥

drig darshana shaktyor ekatmata iva asmita ||6||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • dṛk = der Sehende, der Wahrnehmende, das eigentliche Selbst, Drashtu
  • darśana-śakti = Kraft des Sehens, Instrument der Wahrnehmung, das wandelbare Selbst, Chitta
  • eka = Eins
  • ekātmatā = Einheit, Identität, Identifikation
  • eva = als ob
  • asmitā = Identifikation mit dem Wandelbaren, Egoismus

Kommentar

Die tatsächliche Identifikation mit dem Körper, den Gedanken, Gefühlen, Fähigkeiten ist der nächste Schritt. Am Anfang steht avidya, die fälschliche Ansicht, und als nächstes sind wir asmita, wir kommen zu einer Identifikation unseres Ichs: „So bin ich, das bin ich“.

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Kapitel 2, Vers 7

Deutsche Übersetzung:

Raga (Mögen) ist das, was am Vergnügen haftet.

Sanskrit Text:

sukha-anuśayī rāgaḥ ||7||

सुखानुशयी रागः ॥७॥

sukha anushayi ragah ||7||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sukha = Glück, Vergnügen, Freude
  • anuśayī = darauf beruhen, vertrauen auf, resultierend, annehmen
  • rāga = Gier, Verlangen, Anziehung, Zuneigung, Mögen, das „Haben-wollen“

Kommentar

Wenn wir uns mit etwas identifizieren, halten wir etwas Bestimmtes für wünschenswert. Diese bestimmte Sache bringt uns unserer Meinung nach Vergnügen. Und was Vergnügen bringt, das wollen wir haben.

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Kapitel 2, Vers 8

Deutsche Übersetzung:

Abneigung ist das, was am Schmerz haftet.

Sanskrit Text:

duḥkha-anuśayī dveṣaḥ ||8||

दुःखानुशयी द्वेषः ॥८॥

duhkha anushayi dveshah ||8||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • duḥkha = Schmerz, Leiden, Unglück
  • anuśayī = darauf beruhen, vertrauen auf, resultierend, annehmen
  • dveṣa = Ekel, Vorurteil, Abneigung, Nichtmögen

Kapitel 2, Vers 9

Deutsche Übersetzung:

Furcht vor dem Tod ist der fortgesetzte Wunsch zu leben, von dem sogar der Weise beherrscht wird.

Sanskrit Text:

svarasvāhi viduṣo-‚pi samārūḍho-‚bhiniveśaḥ ||9||

स्वरस्वाहि विदुषोऽपि समारूढोऽभिनिवेशः ॥९॥

svarasvahi vidusho ‚pi samarudho ‚bhiniveshah ||9||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sva = eigene
  • rasa = Natur, Essenz, Kern
  • vāhī = Träger
  • viduṣa = der Gelehrte, Weise
  • api = sogar
  • samā = sehr, völlig
  • rūdha = reitend, beherrschend
  • abhiniveśa = tief in uns sitzende Angst, Todesangst, Lebenswille

Kommentar

Einen Selbsterhaltungstrieb hat sogar noch der Weise.

Jetzt könnte man sagen – und so argumentiert die westliche Psychologie –: Selbsterhaltungstrieb ist ein menschlicher Instinkt, das ist Teil des menschlichen Lebens, und das ist gut so. Aber die Yogis sagen: „Das ist eine Ursache des Leidens und man kann durchaus etwas dagegen tun.“

Patanjali gibt uns also eine Kette von Leid-Ursachen:

  • Unwissenheit ist Ursache des Leidens
  • Identifikation ist Ursache des Leidens.
  • Etwas besonders gern zu haben, ist Ursache des Leidens.
  • Etwas abzulehnen, ist Ursache des Leidens.
  • Und letztlich ist die Furcht vor dem Tod, also der Selbsterhaltungstrieb, auch Ursache des Leidens.

Wir können das jetzt sehr abstrakt oder sehr konkret sehen.

Nehmen wir die Sache mit dem Körper als Beispiel.

Avidya, Nichtwissen: Wir vergessen, wer wir wirklich sind. Wir vergessen, daß wir das unsterbliche Selbst sind, und identifizieren uns mit diesem Körper (asmita). Konsequenz davon ist raga, wir mögen etwas, und dvesha, wir mögen etwas nicht. Der Körper hat bestimmte Wünsche, Vorlieben u.s.w. Nun mögen wir dies und jenes, und bestimmte andere Dinge mögen wir nicht. Dann mögen wir natürlich auch, daß der Körper schön aussieht, daß das Haar füllig ist, glänzt, glatt oder gelockt oder wie auch immer ist. Wir mögen es nicht, wenn wir wieder ein paar zusätzliche graue Haare haben. Wir mögen es darüberhinaus, daß uns jemand sagt: „Siehst du aber gut aus!“ Wir mögen es nicht, wenn man uns sagt: „Du siehst aber mitgenommen aus heute!“ oder sonst etwas Ähnliches. Nun passiert es aber mehr oder weniger häufig, daß das, was wir mögen, nicht eintritt, und das, was wir nicht mögen, passiert. Das führt dann zu Leiden. Und schließlich abhinivesha: Wir identifizieren uns mit diesem Körper und haben Angst davor, ihn zu verlieren. Eines ist aber sicher: Wir verlieren den Körper irgendwann. Und manchmal hat man Krankheiten, schwere Krankheiten. Das bringt Menschen total durcheinander. Ihre ganze Lebensphilosophie muß sich ändern.

Manche Menschen identifizieren sich weniger mit ihrem Körper, sondern mehr mit einem bestimmten Teil ihrer Persönlichkeit. Künstler zum Beispiel definieren sich oft über ihr Künstlertum, wie etwa ein Musiker, Dichter oder Maler: „Ich bin Musiker.“ Ein Musiker hat eine ganz bestimmte Persönlichkeit und Identifikation. Er hat bestimmte Vorlieben. Er macht zum Beispiel gern Musik. Und er spielt bestimmte Arten von Musik besonders gern. Er ist gern mit anderen Musikern zusammen. Er freut sich, wenn er für seine Musik gelobt wird. Wenn man einen Musiker, der sich sehr mit seiner Musik identifiziert, dafür lobt, was für eine schöne Krawatte er trägt, dann interessiert ihn das nicht übermäßig. Wenn er aber von einem von ihm selbst geachteten anderen Musiker gelobt wird, wie gut er gespielt hat, dann wächst er. Findet jemand sein Spiel nicht gut, dann mag er das überhaupt nicht. Er hat auch Angst davor, kritisiert zu werden, nicht anerkannt zu werden, seine Musikalität zu verlieren.

Man kann sich mit jedem Beruf identifizieren. Ein Handwerker zum Beispiel möchte alles immer ordentlich und richtig machen.

Intellektuelle Menschen identifizieren sich sehr mit ihrem Intellekt. Und dann mögen sie zum Beispiel intellektuelle Diskussionen mit anderen Menschen, die klug sind. Sie mögen es nicht, mit scheinbar dummen Menschen etwas zu tun zu haben. Sie haben große Angst davor, daß die Schärfe ihres Intellekts nachläßt. Ihre größte Angst wäre, Alzheimer oder eine ähnliche Krankheit zu bekommen. Alles andere wäre für sie vielleicht nicht so schlimm, aber wenn sie irgendwann einmal merken, sie haben etwas vergessen, sie verstehen etwas nicht so schnell, das wirft sie total aus der Bahn

Manche Menschen identifizieren sich mit ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau, Ehemann, Sohn etc. Viele identifizieren sich sehr stark mit einem anderen Menschen, beziehungsweise mit ihrem Bild von diesem Menschen. Manche identifizieren sich mit ihrem Haus, ihrer Firma, ihrem Auto, ihrer Briefmarkensammlung u.s.w.

Neben diesen allgemeinen gibt es auch negative Identifikationen. Manche Menschen halten sich für unfähig, meinen, daß sie kaum etwas können, und identifizieren sich damit. Sie mögen es, eher einfache Sachen zu tun. Und sie haben Angst vor vielen Aufgaben und vor Kritik. Sie identifizieren sich mit einer Rolle als Unglücksrabe, als Sündenbock etc.

Identifikation gibt es auch mit der spirituellen Übung: Angenommen, jemand identifiziert sich besonders mit seiner/ihrer Asanapraxis. Dann will er/sie natürlich auch ein Lob haben. Er/sie will z.B. auch den Skorpion (eine Yogastellung) können, und wehe, er gelingt nicht. Oder wenn er gelingt, dann schaut der Yogalehrer gerade nicht hin und das erwartete Lob bleibt aus. Angenommen, jemand bekommt vom Arzt gesagt: „Drei Monate lang dürfen Sie keine Rückbeugen machen“, bricht manchmal für diesen Menschen die Welt zusammen. Dabei wäre es so einfach, sich zu sagen: „Gut, dann mache ich halt mal drei Monate lang andere Übungen.“ Ich kenne Menschen, die jahrelang Yoga üben und plötzlich aus irgendwelchen Gründen bestimmte Übungen nicht mehr machen können. Das wirft manchen total aus der Bahn. Besser wäre es, dann eben andere Übungen zu machen. Und manchen wirft es auch aus der Bahn, wenn er mal weniger Zeit hat zum Üben oder es mal nicht so gut gelingt.

Auch mit anderen Aspekten des spirituellen Lebens, die eigentlich gut sind, können wir durch Anhaften zum Leid kommen. Man hat konkrete Vorstellungen über den spirituellen Weg. Nur, wir müssen uns auch hierbei vor Identifikationen hüten. Vieles auf dem spirituellen Weg kommt anders als wir erwarten.

Immer wenn man unglücklich ist, dann ist die Ursache die Identifikation mit irgend etwas. Irgendwo hat man seine wahre Natur als umfassendes Bewußtsein, als unvergängliches Sein, Wissen und Glückseligkeit vergessen. Das ist avidya. Man hat sich mit etwas identifiziert, was man nicht wirklich ist (asmita). Irgendwie hat man daraus ein Mögen (raga) und Nichtmögen (dvesha) gemacht und Angst entwickelt, etwas zu verlieren oder nicht zu können u.s.w. (abhinivesha). Und dann ist etwas eingetreten, was dem widersprochen hat, was wir mögen.

Es gibt Identifikationen verschiedener Grade. Zunächst haben wir einen Körper, einen Geist, eine Psyche, außerdem Fähigkeiten und Neigungen, mit denen wir uns identifizieren. Das ist eine Identifikation ersten Grades. Nun identifizieren wir uns aber nicht mit dem Körper, dem Geist und unseren Fähigkeiten, wie sie wirklich sind, sondern wir haben ein Bild davon, wie unser Körper, unser Geist, unsere Fähigkeiten und Neigungen, kurz unsere Persönlichkeit, sind. Das ist eine Identifikation zweiten Grades. Eine ganze Reihe von Menschen halten sich für zu dick, die, medizinisch gesehen, Normalgewicht haben. Sogar viele, die medizinisch untergewichtig sind, halten sich für übergewichtig. Man identifiziert sich mit seinem Selbstbild. Als drittes gibt es das Bild, das andere von uns haben. Und das vierte ist das Bild, von dem wir wollen, daß andere es von uns haben. Je mehr diese vier Bilder divergieren und je stärker sie verankert sind, desto mehr Spannungen gibt es.

Zu satya, Wahrhaftigkeit, gehört in diesem Sinne durchaus, authentisch zu sein und herauszufinden: Was sind meine Stärken und Schwächen, was ist meine Persönlichkeit? Und wir sollten uns so akzeptieren, dazu stehen und nicht versuchen, anders zu sein oder zu scheinen als wir eigentlich sind. Auf diese Weise nähert sich auch das Bild, das die anderen von uns haben, unserem Selbstbild. Das allein hilft, innere Konflikte abzubauen. Das ist schon ein etwas positiveres asmita.

Im Laufe der Zeit läuft die Yogapraxis typischerweise darauf hinaus, daß man ein authentischerer Mensch wird, daß man keine Angst davor hat, natürlich zu sein, zu seinen Schwächen zu stehen. Dabei hilft es natürlich auch, daran zu arbeiten, avidya zu reduzieren und zu erkennen: Ich bin weder der Körper noch der Geist, eigentlich bin ich das unsterbliche Selbst. Dieser Körper und dieser Geist sind mein Instrument. Und dieses Instrument können die anderen ruhig so sehen, wie es ist. Und ich selbst kann es ruhig auch kennenlernen. Und ich kann es auch entwickeln, es ist ja nicht fest vorgegeben. Meine Fähigkeiten, meine Möglichkeiten sind nicht festgeschrieben, ich kann vorhandene Stärken ausbauen und neue entwickeln. Das ist auch bei den asanas (Yoga-Übungen) so. Wenn man das Gefühl hat, steif und unbeweglich zu sein, heißt das noch längst nicht, daß man das auch ewig bleiben muß. Man kann an den asanas arbeiten und irgendwann wird man flexibler.

Um die kleshas zu mindern, übt man die drei Teile des kriya yoga: tapas, swadhyaya und ishvara pranidhana. Swadhyaya bedeutet Selbststudium. Selbststudium hat zwei verschiedene Aspekte. Der eine ist das Studium der Schriften, der andere ist Innenschau, Studium des eigenen Geistes: swa = Selbst, adhyaya = Studium, swadhyaya = Selbststudium. Es bezieht sich auf die beiden Seiten. Letztlich helfen einem die Schriften, sich selbst zu verstehen. Swadhyaya ist eine Weise, wie wir Leiden vermeiden können. Das heißt noch nicht, daß wir es damit ganz auflösen, aber wir können es zumindest vermindern (tanukarana). Dieses Schema der kleshas kann man sehr oft anwenden.

Wenn man feststellt, daß man sich irgendwie im Leiden befindet, kann man schauen: Wo habe ich mich fälschlicherweise identifiziert? Wo habe ich irgendwelche falschen Erwartungen gehabt? Wo ist etwas eingetreten, von dem ich gedacht habe, daß es nicht eintreten darf? Wo hatte ich Ängste? Dieses Analysieren und Zurückführen kann oft Leiden vermeiden, denn wenn wir etwas verstehen, können wir daran arbeiten und versuchen, es in Zukunft besser zu machen oder zu vermeiden. Das ist swadhyaya, Selbststudium, Selbsterforschung, der erste Aspekt von kriya yoga.

Vieles wird allein schon vermindert, indem wir erkennen, wo die kleshas gewirkt haben. Manchmal muß man dann über sich selbst lachen, und damit ist die Sache vorbei. Manchmal erkennt man zwar die Ursachen, aber das hilft und nützt einem trotzdem nicht so viel. Aber es verhindert die Besessenheit, wie ich es nennen möchte. Manche Menschen sind besessen von ihrem Leid, der Vorstellung, daß sie dies und jenes brauchen, um irgend etwas zu erreichen, oder von der Vorstellung einer Kränkung, weil jemand sie nicht so behandelt hat, wie sie es ihrer Meinung nach verdient bzw. erwartet haben. Diese Besessenheit kann vermindert werden, wenn man die Ursachen erkennt.

Dann kommt tapas, Askese. Tapas im weiteren Sinne bedeutet, bewußt Dinge zu tun, die man nicht mag. Das hilft, frei zu werden vor allem von raga-dvesha, Mögen und Nichtmögen. Man kann sich überlegen, welche Dinge mache ich nicht gerne, und sie dann analysieren. Manches ist ja durchaus begründet, zum Beispiel, weil es gefährlich, ungesund oder nicht sattvig ist. Und das tut man dann natürlich auch weiterhin nicht. Aber angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Bügeln, dann sollte man bügeln, und lernen, freudig zu bügeln. Oder angenommen, man hat eine Abneigung gegen das Kochen. Dann sollte man kochen. Hat man eine Abneigung dagegen, Toiletten zu putzen, dann sollte man gerade das machen. Angenommen, man hat eine Abneigung dagegen, am Computer zu sitzen. Dann sollte man sich mal eine Weile damit beschäftigen. Es muß nicht für den Rest des Lebens sein, aber es sollte eigentlich nichts geben, wogegen man eine Abneigung hat, es sei denn aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen. Denn manchmal oder meistens steckt hinter der Abneigung Angst. Wenn man es ein paar Mal gemacht hat, verschwinden Angst und Abneigung. Und es gibt einem ein Riesengefühl von Freiheit, wenn man sich überwunden hat und feststellt: Ich kann es irgendwie doch, und es spielt eigentlich keine große Rolle!

Oft bringt das Schicksal uns in Situationen, wo wir Dinge tun müssen, die wir nicht mögen. Die innere Einstellung ist dann das Wichtigste. Wenn wir erkennen: „Das geschieht, damit ich mich weiterentwickle, eine willkommene Gelegenheit für tapas. Meine Aufgabe ist es, in jeder Situation glücklich zu sein, und ich kann tatsächlich in jeder Situation glücklich sein“, dann hat es eine sehr große Wirkung, die man noch verstärken kann, indem man sich bewußt dafür bereit erklärt und bewußt Situationen sucht, die man nicht mag. Es muß die innere Bereitschaft da sein, daran zu wachsen. Ansonsten kann es sich auch ins Gegenteil verkehren und zu Depression oder Ärger führen.

Das Schicksal hilft uns, öfter Dinge zu tun, die wir nicht mögen. Wenn wir einen spirituellen Lehrer haben, wird dieser dafür sorgen, daß wir Dinge zu tun haben, die wir nicht mögen. Und wir können sie selbst suchen. Daneben sollten wir es uns auch zur Aufgabe machen, die Dinge zu mögen, die wir zu tun haben. Der Dichter Tagore sagt: „In der Jugend dachte ich, das Leben sei zum Vergnügen da. Als Erwachsener dachte ich, das Leben sei für die Pflicht da. Jetzt weiß ich, Pflicht ist Vergnügen.“ Also lernen, das zu mögen, was zu tun ist.

Tapas im engeren Sinn ist Askese, zum Beispiel fasten, auf Süßigkeiten oder auf Salz verzichten, auf dem Boden schlafen. Im Yoga machen wir natürlich nur solche Askese-Übungen, die der Gesundheit förderlich sind. Auch Askese-Übungen in diesem engeren Sinne helfen, den Geist stärker zu machen.

Der dritte Aspekt von Kriya Yoga ist ishvara pranidhana, Hingabe an Gott, Vertrauen zu Gott.

Wenn wir denken, ich kann nur glücklich sein, wenn diese und jene Situation eintritt, werden wir oft unglücklich sein, denn oft geschieht es anders, als wir wollen – glücklicherweise. Wenn wir aber das Gefühl haben, alles tritt ein, so wie Gott es gerne hat und wie es für uns richtig ist, sind eigentlich die meisten kleshas mit einem Schlag verschwunden. Das können wir uns immer vor Augen führen: Was geschieht, ist irgendwie von Gott gelenkt. Gott gibt mir die Aufgaben, die notwendig sind. Gott gibt mir das, was ich brauche. Er weiß besser als ich, was ich brauche. Wir können zu Gott beten und sagen: „Bitte, gib mir das, was ich brauche. Gib mir die Lektionen, die ich zu lernen habe.“

Gott hilft uns zu wachsen. Gott gibt uns alles, was wir brauchen. Gott liebt uns. Alles ist da. Und als weiteren Schritt können wir alles, was wir tun, Gott opfern. So verschwinden Ego, raga, dvesha, abhinivesha alle zusammen. Auf diese Weise hilft dieser Aspekt des kriya yoga auch wiederum, die kleshas zu verdrängen.

Ich will jetzt den kriya yoga noch weitergehender interpetieren, nämlich als drei produktive Weisen, mit allen Arten von Problemen umzugehen. Wenn wir irgendeine Schwierigkeit, irgendein Problem haben, gibt es drei Dinge, die wir tun können:

Zum einen können wir versuchen, das Problem zu verstehen, die Ursache herauszufinden, also swadhyaya anzuwenden. Zweitens können wir versuchen, etwas zu ändern, tapas. Und drittens können wir loslassen und versuchen, die Situation anzunehmen wie sie ist, also ishvara pranidhana.

Das läuft letztlich auf den Mystikerspruch hinaus:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Gerade die Unterscheidung ist nicht so einfach. Ich habe einmal Swami Chidananda, einen engen Schüler von Swami Sivananda, gefragt, woran man erkennen kann, ob man die Situation ändern kann oder ob man sie annehmen muß. Er hat geantwortet, man müsse zuerst einmal versuchen, sie zu ändern. Wenn mehrere Änderungsversuche nichts bewirken, dann ist es ein Zeichen, sie anzunehmen, Hingabe zu üben, loszulassen und zu sagen: „ Gott, dein Wille geschehe!“

Nehmen wir einmal an, wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns unglücklich fühlen. Dann können wir zuerst überlegen: Wie stellt sich die Situation dar, warum ärgert sie mich, warum bin ich jetzt unglücklich? Das ist swadhyaya. Wenn wir zum Beispiel plötzlich mit einem Menschen in unserer Umgebung nicht mehr zurechtkommen, können wir versuchen, herauszufinden, ob die Ursache in uns selbst liegt oder bei dem anderen. Manchmal stellt man fest, der andere steht aus irgendeinem Grund gerade sehr unter Druck und ist deshalb sehr reizbar. Wenn wir das verstehen, reicht es aus, mit der Situation souveräner umzugehen. Wir verstehen und erkennen, daß wir uns eigentlich grundlos ärgern oder grundlos unglücklich sind. Wir können darüber lachen und die Situation so auflösen.

Es kann aber auch sein, daß wir etwas ändern müssen. Dann sollten wir handeln, also tapas anwenden. Zum Beispiel mit dem Menschen sprechen, notfalls einen Dritten zu Rate ziehen, aktiver werden, Lebensumstände ändern, was auch immer. Und da braucht man auch keine Hemmungen zu haben. Manche Menschen, die zu schüchtern sind, etwas zu unternehmen, machen dann nichts und versuchen, die Situation zu akzeptieren als Entschuldigung für ihre Untätigkeit. Aber sie akzeptieren die Situation nicht wirklich von innen her, sondern sie sind einfach nur zu ängstlich oder zu bequem, etwas zu tun.

Und wenn man nichts ändern kann, dann kommt ishvara pranidhana: Es ist der Wille Gottes. Loslassen. „Dein Wille geschehe.“

Man kann diese drei Verhaltensweisen in allen Situationen anwenden, in denen etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen. Wir können dann erst mal im Rahmen von swadhyaya schauen: Wie könnte diese Situation mit den kleshas zusammenhängen? Als zweites können wir uns fragen: Was kann ich jetzt tun (tapas)? Und je nachdem kann man vielleicht feststellen: Die Situation ist eigentlich gar nicht so schlimm. Ich habe sie nur durch meine Gedanken aufgebauscht und mich verrückt gemacht, falsche Erwartungen gehabt und wenn ich das verstehe, kann ich die Situation annehmen, wie sie ist (ishvara pranidhana).

Manchmal erkennt man: Eigentlich habe ich falsche Erwartungen, aber die Situation befriedigt mich trotzdem nicht. Dann kann ich schauen, was ich ändern kann. Manchmal muß man dann wieder swadhyaya anwenden, um sich zu fragen: Wie könnte ich in der Situation wieder glücklich sein? Und dann kommt oft die Antwort. Eigentlich sind ja die Antworten meistens schon in uns. Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen. Meine magischen drei Fragen sind immer:

  • Was ist meine Aufgabe bzw. meine Pflicht in der Situation?
  • Was kann ich daraus lernen?
  • Was muß ich tun, um in der Situation wieder glücklich zu sein?

Kriya Yoga beschreibt also drei positive, konstruktive Weisen, mit einer schwierigen Situation umzugehen.

Menschen haben fünf negative Weisen, mit denen sie einer schwierigen Situation begegnen:

Das erste ist, sie einfach zu leugnen, nach außen und nach innen so zu tun, als ob nichts sei. Man leidet zwar darunter, verdrängt es aber, tut so, als hätte man kein Problem

Die zweite, noch unproduktivere Art ist es, sich nur über etwas zu ärgern und wütend zu sein, aber nichts zu tun.

Die dritte ist Depression, Resignation, Niedergeschlagenheit, das Gefühl, nichts tun zu können, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein.

Die zwei weiteren, nicht sehr produktiven Verhaltensweisen, nämlich unreflektiertes Fliehen und Kämpfen kommen direkt aus dem Flucht- und Kampfmechanismus.. Manche Menschen werden sofort aggressiv, wenn ihnen etwas nicht paßt. Sie fangen an herumzubrüllen, Streit zu suchen, reizbar zu werden, andere zu bekämpfen. Andere entfliehen sofort, statt sich der Situation zu stellen.

Kriya Yoga ist also der Dreischritt: bewußt machen – tätig werden – loslassen. Und dies versetzt uns in die Lage, Leiden zu vermeiden, und damit ein erfülltes, freudevolles Leben zu führen.

Die richtige Entscheidung zu treffen, richtig zu handeln, an der richtigen Stelle loslassen, ist eine Gratwanderung, die man mit viel Gebet begleiten muß. Ich sagte vorher, daß man auch an den spirituellen Praktiken nicht hängen sollte. Trotzdem ist es wichtig, täglich spirituelle Praktiken wie Meditation, asanas und pranayama zu machen. Nur so bekommt man Zugang zur Intuition, erhält, wie es Patanjali im ersten Kapitel sagt, „erleuchtete Innenschau“. Nur so kann man tatsächlich alle Handlungen des täglichen Lebens spiritualisieren. Ohne eigene spirituelle Praxis macht man auch aus den eigenen Pflichten kein Karma Yoga. Dann ist es nur Schaffen. Und vom Schaffen allein erreicht man nicht die Selbstverwirklichung. Es ist nicht das Ziel des Lebens, einfach nur zu schaffen, sondern das Ziel des Lebens ist die Selbstverwirklichung.

Eine enge Schülerin von Swami Vishnu hat uns einmal erzählt, wie Swami Vishnu ihr das einmal sehr drastisch klar machte. Sie hatte gerade ein neues Yoga-Zentrum für Swami Vishnu-devananda eröffnet und dabei richtig geschuftet. Eines Tages kam Swami Vishnu zu Besuch und hat zu ihr gesagt: „Du arbeitest wie ein Esel. Und weißt du, Esel mögen von morgens bis abends arbeiten, aber sie erreichen nicht die Verwirklichung.“

Arbeit und Pflichterfüllung sind gut und wichtig – aber sie sind nicht das Ziel des Lebens. Das Ziel ist die Selbstverwirklichung! Es ist die innere Einstellung, die zählt und die wichtig ist. Und um diese Einstellung zu erzeugen, brauchen wir asanas, pranayama und Meditation (oder andere spirituelle Praktiken). Nur wenn wir das regelmäßig machen, haben wir die Kraft, unsere Einstellung so zu ändern, daß wir etwas lernen und uns im täglichen Leben auch für andere einsetzen können. Und Meditation ist sowieso unabdingbar. Swami Sivananda schrieb in seinem Buch „Göttliche Erkenntnis“: „Ein tugendhaftes Leben allein ist nicht ausreichend für die Selbstverwirklichung. Tugendhaftes Leben bereitet den Geist nur darauf vor.“ Man muß innere Stärke aufbauen durch die Praktiken. Es nützt niemandem etwas, wenn man ausgelaugt ist.

Wenn einmal die Notwendigkeit besteht, vorübergehend für kurze Zeit auf die eigene Praxis zu verzichten aus Gründen des selbstlosen Dienstes, muß man sehr darauf achten, dies nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Es besteht die Gefahr, daß man die Praxis nicht wieder aufnimmt und den Dreh nicht mehr kriegt. Deshalb sollte man sich im allgemeinen strikt an seine Praxis halten. Hier darf man, im Gegensatz zu dem von mir oben Gesagten, ruhig eine gewisse Starrheit an den Tag legen. Man braucht die Praxis letztlich für andere, denn wenn man sich erschöpft und seine Batterien nicht mehr auflädt, dient man niemandem damit.

Als spiritueller Aspirant kann man alles Gott opfern und sagen: „Alles, was ich mache, ist letztlich dazu da, daß ich anderen helfen kann. Ich muß darauf achten, daß der Körper funktioniert, dazu muß ich gesund sein. Und ich muß asanas und pranayama machen, damit ich das prana habe, anderen richtig zu helfen. Ich muß meditieren, damit ich auch die Einsicht, die Feinfühligkeit und das Gefühl der Gegenwart Gottes habe. Außerdem muß ich ab und zu mal spazierengehen, damit der Geist offen ist und der Körper gesund bleibt. Es kann auch dazu gehören, daß ich mal ins Kino gehen muß, um den Geist auf andere Weise zu entspannen, so daß ich dann wieder in der Lage bin, anderen besser zu dienen.“ Mit dieser Einstellung kann man alles Gott und dem Dienst an anderen opfern.

Wenn wir das alles tun, kommen wir nicht mehr ins Leiden. Wir lernen auch, von der Unwissenheit (avidya) wegzukommen. Wir hören auf, aus dem Ego zu handeln (asmita). Wir handeln nicht mehr nur aus Mögen und Nichtmögen, raga und dvesha. Und wir brauchen auch keine Angst mehr zu haben (abhinivesha). Wir haben das Vertrauen, daß letztlich alles zum besten ist. Das ist in ishvara pranidhana eingeschlossen.

Bei einem tieferen swadhyaya erkennt man letztlich, wer man wirklich ist, nämlich das unsterbliche Selbst. Daraus entwickelt man Vertrauen, Dinge tun zu können. Und Dinge zu tun, die einem am Anfang keinen Spaß machen, also tapas zu üben, bedeutet bei weitem nicht, zu leiden. Im Gegenteil, unsere moderne vergnügungssüchtige Gesellschaft ist eigentlich ein Rezept zum Leiden. Es gilt ethnopsychologisch als gesichert, daß es in keinem anderen Kulturkreis so viele deprimierte Menschen gibt wie in unserer westlichen Gesellschaft. In manchen ursprünglichen Lebensgemeinschaften ist Depression völlig unbekannt.

Das erinnert mich daran, wie ich Shri Karthikeyan einmal gebeten habe, ein Seminar über Gedankenkraft und positives Denken zu halten. Er hat gesagt, über Gedankenkraft, ja, das kann er sich vorstellen, aber „positives Denken“, da würde er sich immer fragen, was eigentlich „negatives Denken“ sein solle. Er käme jetzt seit fünfzehn Jahren in den Westen und würde sich immer wieder mit Leuten darüber unterhalten, was sie eigentlich unter negativem Denken verstünden. Gut, es gibt negative Situationen, dann muß man die Ursache herausfinden. Manchmal haben Menschen unerfüllte Wünsche, dann muß man das entweder akzeptieren oder etwas ändern, aber er würde viele Menschen treffen, die grundlose Depressionen hätten. Das gäbe es in Indien nicht.

Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das wohl auch. Wenn man die Inder anschaut, scheinen sie auch unter schwierigen Bedingungen immer fröhlich zu sein. Sie mögen in einer kleinen Hütte wohnen, die nur aus einem Zimmer besteht, wo tagsüber vorn eine Werkstatt oder ein Laden ist und hinten zehn Kinder – wenn man frühmorgens mit dem Bus vorbeifährt, sieht man, wie die Tür aufgeht, eine Art Fenster klappt auf, Waren werden ins Fenster gestellt, und nacheinander kommen ein Kind heraus, zwei Kinder, drei Kinder, vier, fünf, sechs, sieben, acht, dann die Mutter, der Vater, Großmutter, Urgroßmutter … unvorstellbar, wie die alle da drin wohnen können –, aber sie kommen lachend heraus, um sechs Uhr morgens! Wenn man dagegen morgens um sieben in Frankfurt mit der U-Bahn fährt, dann kommen die Leute aus ihren 30-100 Quadratmeter-Wohnungen, und sie sehen nicht fröhlich und glücklich aus. Wenn bei uns zwei Menschen in einer Einzimmerwohnung mit 25 Quadratmetern leben, gilt das schon als asozial. Und im Verhältnis zu Indien ist das Luxus. Dort steckt eine andere Lebensphilosophie dahinter.

Die Philosophie, daß die Welt nur zum Genießen da ist, macht den Menschen nicht glücklich, ebensowenig wie die blinde Pflichtphilosophie.

Aber das Bewußtsein, daß das Leben dazu da ist, zur Selbstverwirklichung zu kommen, macht uns auch im Westen zu glücklichen Menschen.

Auch wenn Dinge schiefgehen, sind sie in Ordnung. An etwas Anstrengendem wachsen wir. Wie Swami Vishnu einmal gesagt hat: Ein Yogi kann sich immer freuen. Wenn die Dinge so ausgehen, wie man es gerne hätte, freut man sich sowieso und ist Gott dankbar. Wenn sie anders ausgehen, freut man sich über die Lektion, die man lernen kann, und die Gelegenheit, tapas zu üben und geistige Stärke zu entwickeln. Das ist wirklich ein Rezept zum Glück. Es ist nicht leicht, den Geist davon zu überzeugen. Aber diese Einstellung immer aufrechtzuerhalten und von neuem zu schaffen, ist eine Übung, die möglich und sehr befriedigend ist.

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