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11-34 Kommentar Sukadev

Krishna sagt ihm jetzt: „Es ist eigentlich alles schon geschehen, sei du nur Instrument. Nachher wird man dich vielleicht loben und sagen: Das ist ein großartiger Held, aber in Wahrheit habe ich – also Gott – schon alles gemacht.“ Wenn jemand ein schönes Kunstwerk gemalt hat, kann man sagen: „Tolle Hand, das hast du gut gemacht.“ Aber die Hand war nur ein Instrument. So sind auch wir nur ein Instrument. Wenn dich jemand lobt: „Toll, wie du das wieder gemacht hast, wie du das hingekriegt hast, das war phänomenal“, dann ist das so ähnlich, wie wenn die Hand gesagt bekommt oder der Zeigefinger: „Du bist ein toller Künstler.“ Nicht wir sind es, die das machen, Gott macht es durch uns. Wir können uns als Instrument fühlen.

Jetzt spricht er also von der mittleren Ebene der Betrachtungsweise. Um noch einmal zu wiederholen… Die 3 Ebenen der Betrachtungsweisen sind:

Auf der individuellen Ebene sind wir Diener und als Diener haben wir auch schon etwas zu entscheiden.

Auf einer höheren Ebene sind wir ein Teil Gottes und Gott macht alles.

Auf der höchsten Ebene geschieht nichts, wir sind allumfassendes Bewusstsein.

An dieser Stelle der Bhagavad Gita spricht Krishna von dieser zweiten Ebene, die uns immer gegenwärtig sein kann. Swami Sivananda schreibt in einem seiner Bücher[1]: „Halte deine Last gering.“ Wir laden uns große Lasten auf unsere Schultern. Wir sagen: „Ich habe das und das zu tun. Ich hoffe, dass ich alles richtig mache. Ich glaube, ich bin nicht gut genug.“ Dann sind wir gestresst. Wenn wir hingegen erkennen: „Ich bin nur ein Instrument und letztlich macht Gott alles“, dann ist die Last geringer. In der reformierten Kirche[2] gibt es einen Anbetungsvers, der in fast jedem Gottesdienst gesungen wird: „Anbetung, Ehre, Dank und Ruhm sei unserem Gott in seinem Heiligtum …  dem Gott, der Lasten auf uns lädt und uns mit unseren Lasten trägt…“ Das drückt genau das Gleiche aus. Es scheint also so, als ob wir Lasten haben, als ob uns Gott Lasten auferlegt. Daran wachsen wir, aber eigentlich tut Gott alles. Deshalb müssen wir auf der physischen Ebene als Diener alles so gut wie möglich tun, als ob wir Verantwortung haben, aber uns von der höheren Ebene aus als Instrument fühlen und sagen: Gott macht alles.

Vom höheren Standpunkt aus geschieht all das, was Gott vor hat, selbst die Nazidiktatur, der Maoismus, in dessen Namen sogar noch mehr Menschen umgebracht worden sind, der Stalinismus, der 30jährige Krieg, wo 40 % der deutschen Bevölkerung gestorben ist, Pest… ; es gibt so viele Katastrophen und das erschreckt Arjuna. Auf dieser höheren Ebene ist auch all das in Gott enthalten.

Nehmen wir einmal an, wir würden nie sterben oder niemand würde sterben. Das wäre auch nicht gut. Alles hat seinen Sinn. Wir wachsen nicht nur durch Schönes. Wir wachsen auch durch Schlimmes. Die ganze Menschheit wächst letztlich auch durch größere Katastrophen. Das ist auf einer höheren Ebene. Auf einer relativen Ebene ist es unsere Verantwortung, ob wir uns für das Gerechte einzusetzen, so wie Arjuna nachher für die gerechte Sache kämpft.

Dieser Wechsel der Standpunkte ist nicht immer einfach. Als Analogie hierzu will ich noch einmal den Welle-Teilchen-Dualismus nennen. Licht verhält sich manchmal wie eine Welle, manchmal wie ein Teilchenstrom, aber es kann nicht sein, dass Licht gleichzeitig Welle und Teilchen ist. Eine Welle kann kein Teilchenstrom sein, ein Teilchenstrom kann keine Welle sein, aber dennoch verhält sich Licht wie beides.

Und noch eine kleine Geschichte: Ein Rabbi wurde einmal gebeten, einen Streit zwischen zwei Menschen zu schlichten. Der eine erzählte eine Version der Geschichte und der Rabbi sagte: „Du hast Recht.“ Dann erzählte der andere seine Version der Geschichte und der Rabbi sagte: „Du hast auch recht.“ Dann kam der Schammes, der Gemeindediener und sagte: „Aber Rabbi, sie können nicht beide recht haben.“ Darauf sagte der Rabbi: „Du hast auch recht.“

Das sind also mehrere Ebenen der Betrachtung. Wenn alles, was in solchen Katastrophen passiert ist, z.B. was die Nazis angerichtet haben, nicht im Göttlichen gewesen wäre, hätten wir einen Dualismus. Es gäbe den Teufel und es gäbe Gott. Die beiden lägen im Kampf miteinander. Wenn man die Welt anschaut, scheint der Teufel machtvoller zu sein als Gott. Es gibt in allen Religionen Gruppierungen, die sagen, dass es das Gute und das Böse gibt, das abgrundtief Gute und das abgrundtief Schlechte. Wenn man diese Weltanschauung hat, muss natürlich das Gute gegen das Böse kämpfen und es am Besten ausmerzen… aus dieser Sichtweise entspringt Gewalt, Krieg und Verfolgung. Es ist schon so viel Schlechtes dadurch entstanden, dass Wohlmeinende das Böse ausmerzen wollten. Krishna ist gegen diesen Dualismus und so sagt er: „Die Schlechten sind letztlich auch nur Instrumente Gottes.“

Verstehe das bitte nicht falsch. Natürlich sollte man als spiritueller Aspirant mit einer hohen Ethik handeln: Satyam (Wahrhaftigkeit), Ahimsa (Nichtverletzen), Maitri (Mitgefühl, Liebe) sind hohe Werte, ebenso Gerechtigkeit, Einsatz für Ökologie, Sozialarbeit und Weltfrieden. Und manchmal muss man auch andere davon abhalten, Schlechtes zu tun. Wenn man aber erkennt, dass hinter allem Gott steckt, kann man das ohne Hass tun.

Du musst immer beide Ebenen im Hinterkopf behalten. Wir sind auch auf dieser Welt, um zu wachsen und dafür haben wir bestimmte Aufgaben. Es geht darum, sich für das Gute einzusetzen. Deshalb ermahnt Krishna Arjuna auch immer wieder, nicht träge zu werden. Wenn Gott alles ist, heißt das nicht, dass wir träge sein sollen.

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, wie wir beide Standpunkte miteinander in Verbindung bekommen können: Zum einen macht Gott alles, zum anderen sollen wir auch nicht die Hände in den Schoß legen, sondern uns engagieren. In der Yoga Vasishtha findet man ein vieldimensionales Universum dargestellt, in dem es eine Menge Möglichkeiten gibt. Dort gibt es Geschichten wie: Jemand trifft sich selbst in einem Paralleluniversum, wo er sich anders entschieden hat, einer trifft sich selbst in seinem eigenen Traum und stellt fest, dass er die Person in seinem Traum ist und dass er verschiedene Träume von sich selbst träumt, die alle parallel laufen – also in einem Universum, in dem vieles möglich ist und wo die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, auch verwirklicht sind. So könnte man sagen: Gott ist vieldimensional, es gibt verschiedene Möglichkeiten und alle sind in Gott jetzt schon enthalten. Wir als Individuen können uns aber entscheiden, in welchem dieser Paralleluniversen wir sein wollen und welches dieser verschiedenen Paralleluniversen sich jetzt in der eigenen Erfahrung manifestiert. Das schaffen wir durch unsere Entscheidungen. Damit können wir nichts tun, was nicht schon angelegt ist, aber wir haben die Möglichkeit, den Gang durch Zeit und Raum persönlich zu beeinflussen. Z.B. können wir ein Labyrinth nicht verändern, wir können nur unseren Gang durch das Labyrinth bestimmen. Unsere Entscheidungen an bestimmten Punkten können dazu führen, dass wir schneller oder langsamer aus dem Labyrinth herauskommen, dass wir uns verirren oder nicht. Wir bestimmen unsere Entscheidungen wie auch unsere Erfahrungen.

Das ist ein Versuch, diese beiden Dinge in Vereinbarung zu bringen. Damit ist die Kosmische Gestalt nicht nur das, was in diesem Universum möglich ist, sondern auch alles, was hätte möglich sein können. Diesen Gedanken findet man in der Bhagavad Gita selbst nicht. Das ist etwas, das in der Yoga Vasishtha und in manchen anderen indischen Schriften zu finden ist. In der Yoga Vasishtha gibt es auch mehrere Brahmas, mehrere Schöpfer, die mehrere parallele Universen schöpfen. Brahma muss nur einen Moment an eine andere Gesetzmäßigkeit denken und schon ist das Universum ganz anders. Letztlich werden wir die Rätsel dieser Schöpfung nicht vollständig lösen können.

Man muss einem Kind immer wieder Wahlmöglichkeiten geben, so dass es selbst wachsen kann. Aber angenommen, ein Kind entscheidet sich für etwas Falsches, dann werden die Eltern eingreifen. Angenommen, ein Kind entscheidet sich in Gegenwart der Eltern dafür, über die Balkonbrüstung zu klettern, dann würden es die Eltern davon abhalten. Während dem Seminar, aus dessen Vorträgen dieses Buch hervorgegangen ist, gab es einen kleinen Jungen namens Mariam. Dieser ist während meines Vortrags auf die Bühne gegangen. Sein Vater Sitaram hat ihn hochklettern lassen, aber dabei genau im Auge behalten. Angenommen, Mariam hätte sich entschlossen, plötzlich von der Bühne herunter zu hopsen oder auf den Altar hochzuklettern, hätte Sitaram ihn sicher gestoppt. Ansonsten durfte Mariam die Bühne hoch oder runter gehen. Er hatte bis zu einem bestimmten Punkt freie Wahl. Dadurch, dass er die Wahl hatte, konnte er daran wachsen. Eltern wollen ihren Kindern natürlich nicht bewusst schlechte Erfahrungen geben, damit sie daran wachsen. Manchmal geben Eltern ihren Kindern Herausforderungen, von denen sie wissen, dass sie es höchstwahrscheinlich nicht packen können. So lernen Kinder, über sich hinauszuwachsen oder auch einfach mit Frust umzugehen.

Gott gibt uns schöne und weniger schöne Erfahrungen. Er bringt uns auch in verschiedene Situationen, wo wir Wahlen zu treffen haben, so dass wir daran wachsen. Aber wir können gewiss sein, wenn wir uns ganz falsch entscheiden, wird Gott uns davon abhalten. Selbst wenn wir mal etwas Schlechtes tun, Gott wird auch das Schlechte ins Gute umwandeln.

So wie Mephisto im Faust sagt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Diese Erfahrung, die Arjuna hier hat, kann auch uns helfen, dass wir zum einen verantwortlich handeln, zum anderen uns aber nicht damit identifizieren, dass wir zum einen bewusst Entscheidungen treffen, zum anderen aber auch entspannen können. Auf eine gewisse Weise ist alles, was Krishna sagt, auch eine Anleitung zum engagierten und gleichzeitig entspannten Leben. Das beantwortet eine Reihe von wichtigen Fragen: „Wie können wir engagiert sein und nicht ausbrennen? Wie können wir inmitten eines unvollkommenen Universums voller Dualitäten handeln und dabei glücklich sein? Wie können wir in Erfolg und Misserfolg gleichmütig sein, aber dennoch mit innerem Feuer, voller Enthusiasmus handeln?“ Studien zeigen, dass Menschen, die sehr engagiert sind, eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Burnout zu leiden, als Menschen, die nur halbherzig sind. Wenn man nur engagiert ist, aber nicht loslassen kann, steigt die Wahrscheinlichkeit des Ausbrennens. Die Bhagavad Gita ist auch eine Anleitung, wie wir engagiert handeln können, ohne einen Burnout zu bekommen. Wie können wir also nicht nur halb engagiert handeln, sondern wirklich mit vollem Enthusiasmus, ohne uns zu viel Last auf die Schultern zu laden? Wie können wir uns bemühen, anderen zu helfen, aber nicht vor der Größe menschlichen Leides und vor unserer eigenen Ohnmacht zu kapitulieren? Wie können wir, wenn wir uns engagieren, damit umgehen, dass andere das, was wir machen, schlecht finden? Wie können wir damit umgehen, wenn wir offensichtliche Fehlentscheidungen getroffen haben und unsere Entscheidungen andere negativ beeinflusst haben? Wie können wir damit umgehen und nicht einfach die Flinte ins Korn werfen, unseren Enthusiasmus nicht ins Korn werfen? Genau dazu will uns Krishna verhelfen.

 


[2] Ich lebe, während ich das schreibe, in Lippe. Die Lippische Landeskirche ist evangelisch-reformiert und ab und zu gehe ich hier in den evangelisch-reformierten Gottesdienst.