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11-27 Kommentar Sukadev

Hier wird die Vision Arjunas konkreter. Arjuna sieht, was in der Zukunft geschieht. Eines ist sicher, in der Zukunft sind wir alle tot und in der Zukunft sind wir irgendwann auch wiedergeboren. Im 2. Kapitel sagt Krishna: Die Seele ist unsterblich. Wir legen alte Körper ab und neue wieder an, so wie wir alte Kleider ablegen und neue wieder anlegen. Der Wirtschaftswissenschaftler Keynes hat einmal gesagt: „Langfristig sind wir alle tot.“ Das hat er gesagt, als ihm eine zu kurzfristige Betrachtungweise vorgeworfen wurde.

Theoretisch zu wissen, dass wir allein ein paar Jahrzehnten tot sein werden, ist eine Sache. Das praktisch zu erfahren, hautnah als Vision zu sehen, ist eine andere. Wir wissen alle, dass wir irgendwann tot sind. Dennoch ist man, wenn man eine lebensbedrohende Krankheit hat, erst einmal erschüttert. Wir haben alle eine lebensbedrohende Krankheit. Wie heißt sie? Leben. Leben ist nicht nur eine lebensbedrohende Krankheit, sondern eine ganz sicher mit dem Tod endende Krankheit.[1]

Das konkret zu sehen ist eine ganz andere Sache, als es intellektuell zu verstehen. Arjuna sieht jetzt in die Zukunft. Er sieht, dass so viele sterben werden. Auf der einen Ebene haben wir einen freien Willen. Auf der anderen Ebene haben wir keinen freien Willen. So lange wir uns mit dem physischen Körper identifizieren, mit unserem Geist und Intellekt, können wir uns in gewissem Maße frei entscheiden. Es hat dich keiner gezwungen, dieses Buch über die Bhagavad Gita zu kaufen. Und keiner zwingt dich dazu, jetzt weiter zu lesen. Das ist, auf einer Ebene betrachtet,  deine freie Entscheidung. Vielleicht hat dich etwas angezogen, als du dieses Buch sahst. Vielleicht fühlst du gerade jetzt, dass du weiter lesen musst. Dennoch, du könntest das Buch auch jetzt zuschlagen und nie mehr aufmachen. Wäre zwar schade, aber es liegt an dir.

Auf der einen Ebene haben wir also die Möglichkeit, uns zu entscheiden. Bei manchen Dingen sind wir aber vielleicht einfach getrieben, weil das Karma oder göttliche Inspiration uns dorthin zieht. Auf einer höheren Ebene machen wir gar nichts, Gott macht alles. Selbst unseren freien Willen nutzt er dazu, dass wir das tun, was zu tun ist. Unser eigener Wille ist Teil des Willens Gottes.

Es gibt eine Geschichte aus der Ramayana, die das verdeutlicht. Eines Tages hat Rama Hanuman gehört, aber nicht erkannt, wer er war. Deshalb hat er gefragt: „Hallo, wer ist da? Wer bist du?“ Hanuman hat geantwortet: „Auf der physischen Ebene bin ich Dein Diener, auf der geistigen Ebene bin ich ein Teil von Dir, auf der höchsten Ebene bin ich Du.“ Auf der physischen Ebene müssen wir, wenn wir der Diener sind und Verantwortung übertragen bekommen haben, selbst immer wieder Entscheidungen treffen. Diener haben in ihrem Bereich gewisse Entscheidungsfreiheiten, selbst wenn sie einen Tyrannen als Meister haben. Aber selbst die Tyrannen haben nicht genug Zeit, jedes kleine Detail vorzuschreiben. Und gute Vorgesetzte lassen ihren Mitarbeitern eine gewisse Freiheit. Daher sagt Hanuman zu Rama: „Auf dieser physischen Ebene bin ich dein Diener, ich will alles für dich tun und dazu muss ich mich manchmal auch entscheiden.“

Hanuman fährt fort: „Auf der mittleren Ebene bin ich ein Teil von dir und damit machst du letztlich alles.“ Angenommen, ich hebe jetzt diesen Stift hoch und lasse ihn fallen. Dann kann ich nachher meine Hand beschimpfen: „Böse Hand, wie konntest du das fallen lassen?“ Wer ist verantwortlich, dass der Stift herunter fällt? Nicht die Hand, sondern ich. Auf dieser mittleren Ebene sind wir ein Teil Gottes und Gott veranlasst uns, das zu tun, was wir tun. Da haben wir keine Freiheit.

Und auf der höchsten Ebene geschieht nichts. Es ist alles nur Aham Brahmasmi (Ich bin Brahman.). Zeit ist eine Illusion. Eigentlich ist nichts passiert, nur Bewusstsein ist geblieben. Die höchste unendliche Wirklichkeit hat vorübergehend Zeit und Raum gebrochen und scheinbar ein kleines Schauspiel aufgeführt. Aber in Wahrheit war stets nur Brahman. Sarvam Khalvidam Brahman – Alles war, ist und wird stets nur Brahman sein.

Diese 3 Ebenen gilt es, als spiritueller Aspirant miteinander in Einklang zu bringen, sich ihrer bewusst zu werden und das auch ins Praktische umzusetzen. Auf der einen Ebene: Aham Brahmasmi – Ich bin Brahman. Nichts passiert. Das gibt einem den Gleichmut. Auf der nächsten Ebene: Ich bin Teil Gottes, Gott macht alles und wenn ich Unsinn fabriziere, ist letztendlich Gott dafür verantwortlich. Das sagt Krishna ihm kurz danach. Wenn ich etwas Großartiges tue, dann mag ich Ruhm von anderen bekommen, aber ich weiß, Gott hat alles gemacht. Trotzdem muss man sich danach auch wieder entscheiden – auf der relativsten Ebene haben wir wieder einen freien Willen und entscheiden uns.

Ist euch das ganz klar? Intellektuell ja? Ich muss zugeben, dass es mir, obgleich ich es erzähle, trotzdem nicht ganz klar ist. Wie kann man auf der einen Ebene einen freien Willen haben und auf der anderen Ebene macht Gott alles? Philosophisch ist das nicht korrekt. Selbst dann, wenn man frei entscheidet, geschieht letztlich doch nur, was Gott will. Es geschieht nur Gott. Das ist unlogisch. Aber die Wirklichkeit ist nicht immer logisch.

Es verhält sich mit dem freien Willen wie mit dem Wellen-/Teilchen-Dualismus des Lichtes: Licht verhält sich manchmal wie ein Teilchenstrom, manchmal wie eine Welle. Aber das ist ein logischer Widerspruch: Etwas kann nicht gleichzeitig Teilchenstrom und Welle sein. Dennoch verhält sich das Licht mal wie ein Teilchenstrom, mal wie eine Welle. In der Physik gibt es einige dieser Beispiele, die zeigen, dass sogar die physische Natur keiner intellektuellen Logik folgt.

Auf der einen Ebene haben wir einen freien Willen, auf der anderen Ebene haben wir keinen freien Willen. Gott macht alles. Auf der 3. Ebene ist es möglich, dass beides stimmt und nicht stimmt, denn es geschieht nichts.

Darum hat Krishna in einem vorigen Kapitel vom „göttlichen Geheimnis“ gesprochen – ganz zu verstehen ist es nicht. Es wäre auch langweilig, wenn die Welt intellektuellem Verständnis vollständig zugängig wäre.

Diese beiden Dinge, den freien Willen, den wir nach Aussage mancher Schriften haben und den nicht freien Willen, gilt es zusammen zu bringen. Krishna sagt Arjuna in diesem Kapitel: „Ich mache alles – egal, was du entscheiden willst, letztlich geschieht alles nach meinem Willen.“ Am Ende dieses Kapitels sagt er das sehr klar (gedulde dich noch ein paar Seiten…). Nachdem Krishna Arjuna im 11. Kapitel klar gemacht hat, dass alles nur nach dem Willen Gottes geschieht, gibt er Arjuna ab dem 13. Kapitel Kriterien, nach denen er sich entscheiden kann: Er spricht über Sattwa, Rajas und Tamas, über Devas und Asuras. Dann spricht er über Prakriti Svabhava und über Dharma. Das sind die Kriterien, nach denen Arjuna (und damit jeder Aspirant) zu Entscheidungen kommen kann.

Nachdem Krishna Arjuna all diese Entscheidungskriterien noch einmal gegeben hat, sagt er am Ende des 18. Kapitels: „Danach entscheide dich nach bestem Wissen und Gewissen, dann opfere alles Mir; dann machst du nichts Falsches.“

Nachher müssen wir doch loslassen. Denn oft wissen wir nicht sicher, ob das, was wir tun, wirklich richtig ist. Wir müssen uns entscheiden. Auch Arjuna muss sich am Ende der Bhagavad Gita entscheiden. Und Krishna gibt ihm ganz zum Schluss keine klare Anweisung wie „Tue das“. Er sagt: „Nachdem du all das abgewogen hast, tue, was du willst.“ Er sagt nicht einfach: „Tue, was du willst.“ Sondern er sagt: „Nachdem du alles abgewogen hast, tue, was du willst. Und dann bringe es mir dar.“ So laden wir uns keine Schuld auf. Die Handlung, die wir machen, wird in Harmonie mit dem Universum sein.

 


[1] Bitte nicht falsch verstehen…