Kapitel 3, Vers 5

Deutsche Übersetzung:

Dadurch (durch samyama) entsteht Meisterung und das Licht direkten Wissens.

Sanskrit Text:

tajjayāt prajñālokaḥ ||5||

तज्जयात् प्रज्ञालोकः ॥५॥

tajjayat prajnalokah ||5||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = das, dort, daraus
  • jaya = Meisterschaft, Herrschaft, Beherrschung
  • prajña = höheres Bewusstsein, direktes Wissen, vollkommenes Wissen
  • āloka = alles was wahrgenommen werden kann, Licht, Sichtbare

Kommentar

Wer samyama auf irgendeine Sache ausführt, bekommt das volle Wissen (prajna) und die volle Meisterschaft (jaya) darüber.

Eine ganz praktische Anwendungstechnik: Angenommen, jemand will seine Uhr reparieren. Er könnte dafür samyama auf die Uhr ausführen. Er konzentriert sich ganz auf die Uhr. Er versucht, die Uhr zu erspüren. Und schließlich versucht er, mit der Uhr zu verschmelzen. So geht er in die Essenz der Uhr hinein. Und dann weiß er plötzlich, was an der Uhr kaputt ist. Das ist eine Vorstufe. Und wenn er aus samyama herauskommt, weiß er, was er machen muß, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Oder, wenn er noch tiefer in samyama hineingeht, repariert er die Uhr, ohne etwas zu tun. Allein dadurch, daß er sich auf die Uhr konzentriert, kann er die Uhr beherrschen. Gerade wenn er dabei ist, wieder herauszukommen – solange er drin ist, tut er nichts, er ist nur darin verschmolzen –, im Moment des Übergangs, kann er die Uhr verändern. Das gilt für jedes beliebige Objekt.

Man kommt von selbst in diesen Zustand. Es geschieht einfach. Um wieder herauszukommen, geben sich Yogis normalerweise vorher Suggestionen, um von der überbewußten Ebene her wieder ins Tagesbewußtsein zu kommen.

Nehmen wir einmal das Beispiel eines schmerzhaften Knies. Angenommen, wir haben ein Knieproblem. Da könnten wir Verschiedenes machen: Wir könnten kriya yoga machen, also über tapas, swadhyaya, ishvara pranidhana erst einmal logisch analysieren, was passiert ist, was den Schmerz ausgelöst haben könnte. Wir können Röntgenbilder anfertigen oder eine Magnetresonanztomographie machen lassen, durch Tasten etwas Genaueres herauszufinden versuchen, Fachbücher lesen – also Selbststudium, Befragung. Wir können auch etwas tun, tapas: Sei es, daß wir warme Umschläge machen, die Stelle einsalben, die Hände auflegen, Energie hinschicken, das Om-tryambakam-Heilmantra wiederholen, Kohlwickel darauf geben, krankengymnastische Übungen ausführen, Fahrrad fahren oder es operieren lassen. Und wenn alles nichts nützt und der Arzt feststellt, daß es sich um eine degenerative Krankheit wie Arthritis, Arthrose oder Rheuma handelt, dann kann man nochmals alles mögliche ausprobieren, zum Beispiel Fasten, auf Trennkost oder Rohkost oder ayurvedische Ernährung umsteigen u.s.w. Und wenn das alles nichts nützt, kommt die nächste Stufe, ishvara pranidhana, die Hinwendung zu Gott: Loslassen. Erkennen: Damit muß ich leben, das ist meine Aufgabe, mein dharma, irgendwie wird es auch seine Richtigkeit haben.

Aber jenseits von tapas, etwas tun, swadhyaya, analysieren, ishvara pranidhana, loslassen, gibt es als vierte Möglichkeit samyama, die volle Konzentration auf das Knie. Man versucht, das Knie zu spüren, in es hineinzugehen, mit dem Knie zu verschmelzen. Und wenn es wirklich gelingt, sich ganz in das Knie hineinzuversetzen, wenn man fühlt: „Knie“ – nicht mehr: „Ich beobachte das Knie“, sondern einfach nur „Knie“ –, wenn das Bewußtsein ganz im Knie ist, dann weiß man vielleicht nachher, was dem Knie fehlt und was man tun kann. Es kann auch sein, daß allein die Tatsache, daß man mit vollem Bewußtsein in dem Knie ist und das Knie ganz erfährt, dauerhaft alle Knieprobleme heilt. Wichtig ist, hineinzugehen, ohne zu denken: „Wie furchtbar, wie kann das sein, ich mache jetzt seit zwanzig Jahren Yoga, ernähre mich vegetarisch, mache Sport – und trotzdem habe ich Knieprobleme. Das kann nicht sein. Warum ich?“ oder „Was habe ich schon wieder falsch gemacht? Immer mache ich etwas falsch“. All diese Gedanken müssen weg. Einfach volle Konzentration auf das Knie, ohne zu urteilen, ohne zu analysieren. Aus der vollen Konzentration kann direktes Wissen kommen.

Man kann also die samyama-Technik anwenden bei Krankheiten. Bei eigenen Krankheiten, aber auch bei Krankheiten von anderen Menschen. Gute Ärzte sind solche, die eine Krankheit und den Menschen als Ganzes intuitiv erspüren, „sich in den anderen hineinversetzen“, wie es so schön heißt, und was, wörtlich genommen, samyama ist. In der Medizin wird das selten erwähnt, aber es ist ausreichend bekannt. Ein guter Arzt ist nicht der wissenschaftlichste Arzt, sondern derjenige, der ein Gespür für den Menschen hat. Er stellt Fragen, schaut den Menschen an und erfaßt dann in etwa, was falsch ist, was nicht stimmt. Also, ein guter Arzt spürt, fühlt und macht mehr oder weniger samyama auf den Patienten, wenn auch nur ganz kurz.

Man kann die samyama-Konzentration auch in den Hatha Yoga-Übungen anwenden. Eigentlich kann man sie generell überall einsetzen. Zum Beispiel auch, wenn Menschen mit verschiedenen Beschwerden und Krankheiten in eine Yogastunde kommen. Eine Reaktionsmöglichkeit wäre zum Beispiel, den Menschen zu spüren, zu fühlen. Man kann sich auch innere Fragen stellen und versuchen, das Unterbewußtsein oder das Überbewußtsein daran arbeiten zu lassen. Wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis irgendwelche Schwierigkeiten hat, kann man versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen, in die Krankheit, in das Problem hineinzuspüren. So kann man Wissen über das Problem erlangen und vielleicht auch Wissen über die Heilung oder Lösung. Und angenommen, man wäre in der Lage, in samadhi hineinzukommen, dann könnte man die Krankheit des Menschen sogar heilen. Wobei hier Yogis sagen würden, das könnte auch ein Mißbrauch der Kraft sein, denn ein Yogi wendet die siddhis nicht an, sie sind eine große Versuchung. Deshalb ist das alles ein zweischneidiges Schwert. Für sich selbst ist es sicher in Ordnung – letztlich ist es unsere Aufgabe, unseren Körper gesund zu halten. Wir haben diesen Körper bekommen und müssen uns um ihn kümmern. Uns selbst können wir mit samyama auch heilen, da spricht nichts dagegen.

Ein großer Meister könnte alle heilen, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, wenn er merkt, das ist jetzt nicht seine Aufgabe und in dem Moment auch nicht im karma des betroffenen Menschen. Man muß vorher das Göttliche anrufen und fragen: „Bitte hilf mir, wenn Heilen jetzt das Richtige ist, und halte mich ab, wenn es jetzt nicht das Richtige ist.“ Wir müssen diese Demut haben. Ein ganz großer Meister wird sich nicht mehr um den Körper kümmern und nicht einmal mehr seinen eigenen Körper heilen. Er wird das machen, was notwendig ist, und sagen: „Gottes Wille geschehe.“ Ob der Körper gesund ist oder nicht, spielt aus seiner Sicht nicht so eine große Rolle. Wenn er noch karma hat, das er ausarbeiten, ausleben muß, wird er gesund erhalten, wenn er kein karma mehr hat, eben nicht. Er wird den Körper natürlich auch nicht mißbrauchen, denn dazu gibt es wiederum auch keine Veranlassung, aber er wird auch nicht so besorgt um ihn sein. Denn für einen großen Meister spielt es keine Rolle, ob er noch im Körper ist oder woanders, ob der Körper Schmerzen hat oder nicht – was ist der Unterschied? Er fühlt das ganze Universum. Wieso sollte er jetzt dieser einen Zelle so viel mehr Aufmerksamkeit schenken! Aber das liegt für die meisten von uns, glaube ich, noch in der Zukunft!

Im Hatha Yoga und bei manchen Psychotherapien, wo man versucht, einfach nur zu erspüren, wendet man die samyama-Technik an. Bei den Therapien wird es oft dann aber auch in Worte gefaßt. Wenn man es überhaupt nicht in Worte faßt, sondern einfach nur mit dem Bewußtsein voll hineingeht, dann kommt man zur Essenz der Sache.

Aber natürlich ist nicht jedes intuitive Gespür gleich samyama. Wir hatten ja von den drei Formen der direkten Wahrnehmung gesprochen: Es gibt die Sinneswahrnehmung, die instinktive Wahrnehmung und die überbewußte Wahrnehmung, die eben aus samyama kommt.

Samyama ist eine entspannte Konzentrationsform, Konzentration auf eine Sache an sich, die im Idealfall bis zu samadhi führt. Der typische Yoga-Aspirant wird normalerweise nicht geradewegs in samadhi eingehen, wenn er sich um samyama bemüht. Deshalb werden auch die Wirkungen nicht gleich so weitreichend sein wie von Patanjali beschrieben, aber es werden sich doch gewisse Wirkungen einstellen, die in diese Richtung gehen. Deshalb kann man auch als normaler Aspirant diese Konzentrationstechniken benutzen. Wir können sie nutzen, wir können sie gebrauchen – nur müssen wir aufpassen, daß wir sie nicht mißbrauchen. Es sind nämlich sehr, sehr machtvolle Techniken.

Man sollte sich allerdings nicht einzig und allein auf diese Technik spezialisieren. Ich hatte einmal in einem Seminar eine Teilnehmerin, die sagte, sie halte nichts von Affirmationen, Visualisierung und Geisteskontrolle. Das einzig Notwendige sei es, den Geist auf etwas zu konzentrieren, ohne zu beurteilen. Wenn sie nicht so viele psychische Probleme gehabt hätte, hätte ich sie bei dem Glauben gelassen. So habe ich versucht, ihr klarzumachen, daß das allein nicht alle anderen Techniken ersetzen kann, mit denen man an sich selbst arbeiten sollte. Es gibt eine gewisse Gefahr dabei. Wenn man in bestimmte unangenehme psychische Zustände wie Depression, Trauer und ähnliches mit dem ganzen Bewußtsein hineingeht, kann es zwar sein, daß es hilft, aber es kann genauso gut sein, daß es stattdessen noch tiefer in diese Zustände führt.

In vielen Situationen muß man erst einmal prüfen, ob man nicht die anderen Techniken anwenden kann, die Patanjali in den vorherigen Kapiteln erwähnt hat. Wir können zum Beispiel unseren Geist ablenken, an etwas anderes denken, an einen Aspekt der Wahrheit. Erinnere dich an das erste Kapitel: „Wenn Hindernisse im Geist kommen, sollte man sich auf einen Aspekt der Wahrheit konzentrieren“ (I 32). Oder im zweiten Kapitel die Anwendung von tapas, swadhyaya, ishvara pranidhana: Versuchen, etwas zu begreifen, zu studieren, zu verändern oder loszulassen, Hingabe an Gott, Gottesverehrung. Manchmal hilft es auch, die richtige Lebenseinstellung zu haben. Und manchmal ist es erforderlich und hilfreich, die ersten Stufen wie yama, niyama, pranayama, asana, pratyahara bewußt zu kultivieren. Pranayama bereitet den Geist für dharana vor. Das sind die Voraussetzungen, um den Geist richtig reif zu machen für die höheren Stufen der Konzentration und Transzendierung des Normalbewußtseins. Wenn wir hier im dritten Kapitel fortgeschrittene Techniken wie die samyama-Konzentration kennenlernen, müssen wir uns bewußt sein, daß sie auf den vorhergehenden als Fundament aufbauen und daß sie die anderen Techniken nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Verwirklichte Yogis brauchen natürlich gar nichts. Sie bringen nur einfach den Geist zur Ruhe: Yogash chitta vritti nirodhah. Und um das zu erreichen, machen sie die samprajnata-Meditation in den Stufen, wie wir es kennengelernt haben: savitarka, nirvitarka, savichara, nirvichara, sasmita, asamprajnata samadhi. (I 17)

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