Kapitel 2, Vers 39

Deutsche Übersetzung:

Ist aparigraha (Unbestechlichkeit) fest begründet, versteht man den Sinn des Lebens.

Sanskrit Text:

aparigraha-sthairye janma-kathaṁtā saṁbodhaḥ ||39||

अपरिग्रहस्थैर्ये जन्मकथंता संबोधः ॥३९॥

aparigraha sthairye janma kathanta sanbodhah ||39||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • aparigraha = Unbestechlichkeit, nicht Annehmen von Geschenken, Anspruchslosigkeit
  • sthairya = Stabilität
  • janma = Geburt, Geburtenfolge, Inkarnation, Erden-Leben
  • kathaṁ = das Wie und Warum, Ziel
  • saṁbodha = Verständnis, Wissen

Kommentar

Aparigraha wird interpretiert als Nichtannehmen von Geschenken, Unbestechlichkeit, Aufgabe von Gewinnsucht, Nichthorten von Dingen. Geschenke, die aus Liebe gegeben werden, können wir natürlich annehmen, nur dann nicht, wenn wir damit manipuliert werden sollen. Geschenke aus Liebe öffnen das Herz. Liebe muß sich ja auch ausdrücken. Es reicht nicht allein aus, Liebe im Herzen zu haben. Man muß diese Liebe auch zeigen. Wenn man verreist war und wieder nach Hause kommt, bringt man seinem Kind oder seiner Familie und Freunden vielleicht kleine Geschenke mit, und sie freuen sich darüber. Oder man erhält ein selbstgebasteltes Geschenk von seinem Kind. Solche Geschenke helfen, das Herz zu öffnen.

Man sollte bei einem Geschenk nicht das Gefühl haben, zu etwas verpflichtet zu sein. Gleichzeitig sollte man aber auch die Gefühle anderer nicht verletzen, indem man ein gutgemeintes Geschenk ablehnt. Man muß abwägen. Wenn man das Gefühl hat, man soll mit einem Geschenk gekauft werden, es steht eine Absicht dahinter, dann soll man es ablehnen. Viele Menschen werden bestochen durch Geschenke. Man soll sich nicht kaufen lassen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Bestechlichkeit ist der Untergang jeder Wirtschaft und jedes politischen Systems. Auch als spirituelle Aspiranten dürfen wir uns nicht bestechen lassen, sonst verlieren wir unsere Freiheit. Wenn man nach dem Prinzip handelt, eine Hand wäscht die andere, dann kann man nicht mehr danach handeln, was richtig und falsch ist, und der Geist wird verwirrt. Im weiteren Sinne verliert man die Unterscheidungskraft zwischen dem, was richtig und falsch ist und damit für den Sinn des Lebens.

Neben keine Geschenke annehmen bedeutet aparigraha als zweites Abwesenheit von Gewinnsucht, also nicht so viel haben zu wollen, und als drittes Nichthorten.

Für verschiedene Menschen und verschiedene Umstände heißt „Nichthorten“ jeweils etwas anderes. Eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit kann durchaus hilfreich sein. Man braucht sich keine Sorgen zu machen, dadurch wird der Geist ruhig und man kann anderen helfen. Deshalb rate ich Aspiranten ab, all ihre Ersparnisse zu spenden. Eine gewisse Sicherheit beruhigt und ist gut. Gleichzeitig sollte man aber auch nicht zu viel haben. Wenn man viel hat oder bekommt, zum Beispiel durch eine Erbschaft, sollte man einen Teil davon auch anderen geben, statt immer mehr anzuhäufen oder zu überlegen, wie kriege ich noch mehr Gewinn heraus.

Jesus hat diesbezüglich eine etwas radikalere Lehre verkündet: „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel“ oder „Man soll nicht für das Morgen sorgen, der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Und seinen Schülern hat er gesagt: „Wer mir nachfolgen will, der folge mir jetzt nach.“ Aber das galt auch wieder nur für seine zwölf engsten Schüler, eben die, die ein Leben der Entsagung führen wollten.

Das Prinzip der Besitzlosigkeit gibt es zwar auch im Yoga für swamis, also Mönche/Nonnen, die das Gelübde der Entsagung ablegen. Für die Mehrheit der Menschen ist eine gewisse finanzielle Absicherung aber durchaus hilfreich.

Wenn man sich an aprigraha hält, weiß man, was seine Aufgabe im Leben ist.

Wenn man sich bestechen, kaufen läßt, kann man nicht das tun, was man für richtig hält, und irgendwann weiß man es auch nicht mehr.

Wenn man nur immer mehr haben will, dann weiß man auch nicht mehr, was seine Pflicht, seine Aufgabe, ist.

Wenn man immer mehr hortet, muß man sich um seinen Besitz kümmern, ihn pflegen, verwalten, dafür sorgen, daß er sich vermehrt, einem nicht entgeht. Auch das verhindert, daß man erkennt, was seine Pflicht ist. Wenn man immerzu mehr Geld haben will, dann tut man andere Sachen nicht, die man eigentlich tun sollte.

Umgekehrt, wenn wir alle diese drei Aspekte von aparigraha beachten, erlangen wir das Verständnis für den Sinn der Geburt, dafür, was unsere Aufgabe ist.

Patanjali sagt, wenn man sich nicht an die yamas hält, wird man auch nicht glücklich. Man wird dann glücklich, wenn man seine Aufgabe findet und tut. Wer dagegen hauptsächlich nach Gewinn und Geld strebt, ist meist oberflächlich und relativ unglücklich.

Die yamas beziehen sich auf den Umgang mit anderen. Im Umgang mit anderen wollen wir ahimsa üben, sie nicht verletzen und ihnen Liebe schenken. Dann wollen wir sie nicht anlügen, satya, Wahrhaftigkeit. Wir wollen ihnen gegenüber asteya üben, das heißt, ihnen nichts wegnehmen, sondern im Gegenteil teilen, was wir haben. Wir wollen sie nicht ausnutzen, im Partner nicht nur das Sexualobjekt oder nicht in jedem Menschen einen potentiellen Sexualpartner sehen, sondern im anderen das Göttliche sehen. Das ist brahmacharya. Wir wollen uns nicht von anderen bestechen lassen und kein Geld horten, aparigraha. – Hohe Ideale, aber durchaus praktikabel.

Nun folgen als zweiter Schritt die niyamas, die für unser Privatleben gedacht sind, eine bestimmte Lebenseinstellung. Wir üben shaucha, Reinheit und santosha, Zufriedenheit. Wir üben tapas, das hier im engeren Sinne als Askeseübung zu verstehen ist. Im Rahmen des kriya yoga kann man tapas weiter definieren, aber im Zusammenhang mit den niyamas bedeutet es Askese. Wir üben swadhyaya, Selbststudium im Sinne von Studium der Schriften und Studium von sich selbst, Innenschau. Und wir üben ishvara pranidhana, Hingabe an Gott, Gottesverehrung.

Nun schauen wir, was Patanjali zu den einzelnen niyamas sagt und welche Konsequenzen ihre Einhaltung hat.

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