Kapitel 1, Vers 13

Deutsche Übersetzung:

Abhyasa (Übung) ist ständige Bemühung um diese (Ruhe des Geistes).

Sanskrit Text:

tatra sthitau yatno-‚bhyāsaḥ ||13||

तत्र स्थितौ यत्नोऽभ्यासः ॥१३॥

tatra sthitau yatno ‚bhyasah ||13||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tatra = dort, hier, um das
  • sthitau = ständig, standhaft
  • yatna = Anstrengung, Bemühung, Übung
  • abhyāsa = Enthusiasmus, Beharrlichkeit

 

Kommentar

Alle Anstrengungen, die man macht, um die Gedanken zu beherrschen, sind abhyasa. Es gibt nicht nur eine oder zwei bestimmte Übungen und auch nicht nur die hier in den Yoga Sutras aufgeführten, sondern alles, was dazu dient, den Geist zu beherrschen, ist abhyasa. Das heißt, die ständige Bemühung – wir haben keine Pause! Die Übung beginnt mit dem Aufwachen am Morgen und hört am Abend mit dem Einschlafen auf. Irgendwann übt man sogar im Schlaf weiter…

„Ständige Bemühung“ heißt jetzt nicht, daß wir uns dauernd verkrampft anstrengen, sondern wir versuchen, diese Vorstellung Gottes, die Grundhaltung von selbstlosem Dienst und einer positiven Lebenseinstellung, den ganzen Tag über aufrechtzuerhalten, ob wir nun Geschirr spülen, meditieren, asanas machen, spazierengehen, mit unserem Kind zusammen sind, im Büro arbeiten, ein paar freundliche Worte mit dem Postboten wechseln u.s.w. Wir bemühen uns immer wieder, dieses Bewußtsein des Göttlichen aufrechtzuerhalten oder hervorzurufen und unseren Geist positiv, gleichmütig, zu stimmen.

Abhyasa heißt nicht, den Geist den ganzen Tag beherrschen zu müssen. Es ist die Bemühung darum. Viele Menschen sind zu erfolgsorientiert und haben einen zu großen Perfektionsdrang. Das Bemühen ist wichtig, nicht das, was dabei herauskommt. Wir bemühen uns; dann gelingt es manchmal und es gelingt manchmal auch nicht. Kann man wirklich vollkommen sein? Man kann nur vollkommen sein, wenn man seine Ansprüche sehr niedrig ansetzt und nur wenig tut. Dann ist man darin vollkommen. Wenn man seine Ansprüche hoch setzen und viel machen will, kann man nie vollkommen sein. Unser Ziel ist die Selbstverwirklichung. Es gibt kein großartigeres Streben. Bis dahin gibt es unglaublich viel zu tun. Es ist manchmal besser, eher viel zu tun, hoch zu streben, und das weniger perfekt. Das macht auch demütig.

Darin hat Swami Vishnu seine Schüler geschult. Er hat uns manchmal mehr Aufgaben gegeben, als wir eigentlich bewältigen konnten. Es war dann nicht möglich, alles zu erledigen. Es ging einfach nicht. Wir haben uns bemüht, und oft ist es auch irgendwie hingekommen, manchmal aber auch nicht. Ich kann mich erinnern, einmal hat er den Auftrag gegeben, in drei Tagen einen Tempel zu bauen. Der Tempel stand dann auch, aber er war weit davon entfernt, perfekt zu sein! Es war kein riesiger kunstfertiger Bau mit Schnitzereien und so, sondern eine einfache Holzhütte, in die eine Krishna-Statue nach einem ausgefeilten alten Ritual hineingestellt wurde.

Diese Überlegung hilft auch für das sadhana (spirituelle Praxis). Außer den wenigen vollkommenen Meisterinnen und Meister ist man darin nicht vollkommen. Trotzdem sollte man seine Ideale deswegen nicht senken. Manche Menschen denken: „Ach, ich schaffe die Selbstverwirklichung sowieso nicht. Mir reicht es aus, wenn ich am Tag ein bißchen meditiere, mantras singe und einigermaßen gesund lebe, mich gut fühle und einigermaßen im Frieden mit meinen Mitmenschen lebe. Die vollkommene Selbstbeherrschung und die Einheit mit dem Unendlichen – das liegt für mich sowieso nicht im Bereich des Möglichen.“ Wenn man sich so programmiert, verliert man das Ziel aus den Augen. Wir können noch nicht vollkommen sein, aber wir können uns darum bemühen. Die ständige Bemühung, unseren Geist zum Göttlichen zu bringen, ist abhyasa.

Patanjali sagt in diesem Vers, wir sollen uns bemühen, „die Einschränkung der Gedankenwellen fest zu begründen“. Das muß man sich vor Augen führen. Es heißt also nicht einmal, wir sollen uns ständig bemühen, den Geist zu beherrschen, sondern wir sollen uns ständig bemühen, uns zu bemühen. Er macht es uns in gewisser Hinsicht einfach: ständige Bemühung, zur Verwirklichung zu kommen, aber ohne Verhaftung. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sich nicht ständig vorwerfen: Das hat nicht geklappt und jenes nicht, und was ich da gemacht habe, war auch nicht so gut.

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