Kapitel 4, Vers 16

Deutsche Übersetzung:

Ein Objekt ist nicht von einem Verstand abhängig. Was würde geschehen, wenn es nicht erkannt würde?

Sanskrit Text:

na caika-citta-tantraṁ cedvastu tad-apramāṇakaṁ tadā kiṁ syāt ||16||

न चैकचित्ततन्त्रं चेद्वस्तु तदप्रमाणकं तदा किं स्यात् ॥१६॥

na chaika chitta tantram chedvastu tad apramanakam tada kim syat ||16||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • na = nicht
  • ca = und
  • eka = ein
  • citta = Verstand, Geist
  • tantram = abhängig von
  • cet = ist
  • vastu = Objekt, Ding
  • tat = das
  • apramāṇakaṁ = nicht erkannt, nicht wahrnehmen
  • tadā = dann, danach
  • kim = was
  • syāt = würde geschehen

Kommentar

Hier widerspricht Patanjali der vedanta-Philosophie, die sagt: Die Objekte existieren nur deswegen, weil es einen Geist gibt, der sich ihrer bewußt ist. In dem Moment, wo keiner mehr an sie denkt, hören die Objekte auf zu existieren. Sie sind nur eine Illusion.

Aber genau genommen ist es kein Widerspruch, sondern eine Frage des Standpunktes.

Von unserem subjektiven Standpunkt aus existieren die Objekte natürlich, egal ob wir an sie denken oder nicht. Manchmal mißverstehen Menschen, mindestens für praktische Zwecke, die vedanta– und advaita-Philosophie. Zum Beispiel glauben Menschen manchmal, sie könnten eine Krankheit einfach wegdenken. Manchmal klappt es auch, weil Gedanken eine starke Kraft sind. Aber allein die Tatsache, nicht an etwas zu denken, macht es nicht ungeschehen – so wenig, wie den Kopf in den Sand zu stecken. Neulich habe ich das bei einem kleinen Jungen beobachtet – irgend etwas hat ihm nicht gefallen, da hat er sich die Decke über den Kopf gezogen. Dann exisitiert das Ding nicht mehr. Vogel-Strauß-Politik. Wir schließen die Augen, dann guckt keiner hin. Nur, die Probleme löst man so nicht immer…

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Kapitel 4, Vers 17

Deutsche Übersetzung:

Je nachdem, ob das Objekt den Verstand färbt, ist es diesem bekannt oder unbekannt.

Sanskrit Text:

tad-uparāga-apekṣitvāt cittasya vastu-jñātājñātaṁ ||17||

तदुपरागापेक्षित्वात् चित्तस्य वस्तुज्ञाताज्ञातं ॥१७॥

tad uparaga apekshitvat chittasya vastu jnatajnatam ||17||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = das, dessen
  • uparāga = färben, nahe sein, erregen
  • tad-uparāga = emotionale Vorprägung
  • apekṣitvāt = unseren Erwartungen, erwarten
  • cittasya = für, durch Chitta, alles Wandelbare des Menschen
  • vastu = Objekt, Situation, Person
  • jñāta = gewusst, gekannt, erkannt
  • ajñātaṁ = nicht gewusst, verkannt

Kommentar

Das ist die subtile Theorie der Wahrnehmung aus der samkhya– und yoga-Philosophie.

Der Geist wird dort mit einem Kristall verglichen, der sich durch das Objekt verfärbt, oder mit einem See, in dem sich die Gegenstände spiegeln. Stellt man einen roten Gegenstand hinter einen Bergkristall, dann sieht der Kristall rot aus. Derselbe Kristall vor einem gelben Hintergrund sieht gelb aus. Der Geist nimmt die Farbe der Objekte um uns herum an, wobei Farbe hier allegorisch zu verstehen ist. Der Geist nimmt auch Klänge, Bewußtseinsinhalte, Reaktionsmuster usw. an. Der Geist nimmt ein Objekt nur dann wahr, wenn dieses Objekt ihn färbt. An sich kennt unser Gehirn erst einmal gar nichts. Das Objekt muß irgendwie unser Gehirn, unseren Geist, färben, damit wir uns daran erinnern bzw. das nächste Mal eine Assoziation herstellen.

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Kapitel 4, Vers 18

Deutsche Übersetzung:

Da die Natur des purushas (Selbst) unveränderlich ist, sind die Gedanken des Geistes dem Selbst immer bekannt.

Sanskrit Text:

sadājñātāḥ citta-vrttayaḥ tat-prabhoḥ puruṣasya-apariṇāmitvāt ||18||

सदाज्ञाताः चित्तव्र्त्तयः तत्प्रभोः पुरुषस्यापरिणामित्वात् ॥१८॥

sadajnatah chitta vrttayah tat prabhoh purushasya aparinamitvat ||18||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • sadā = immer
  • jñātāḥ = bekannt
  • citta = Verstand, Geist
  • vṛttayaḥ = Gedanken, Modifikationen
  • tat-prabhoḥ = von seinem Herrn
  • puruṣasya = des Purusha, des Selbst
  • aparināmitvāt = wegen der Unveränderlichkeit

Kommentar

Purusha, das Selbst, die Seele, ist immer da. Um ihn herum gibt es den Geist, chitta. Purusha nimmt immer und in jedem Moment alle Veränderungen des Geistes wahr. Das chitta bekommt über die äußeren Sinne Wissen von der Welt. Purusha schaut sich die Welt durch das chitta hindurch an und ist sich aller Empfindungen und Gedanken des chitta bewußt. Chitta sieht ab und zu mal etwas nicht. Wenn wir schlafen, sehen wir die Welt nicht. Purusha aber ist niemals müde. Wir sprechen jetzt von chitta als unserem bewußten Geist. Daneben gibt es natürlich noch den unbewußten Geist, aber das steht auf einem anderen Blatt.

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Kapitel 4, Vers 19

Deutsche Übersetzung:

Weil er wahrnehmbar ist, ist der Geist nicht selbst-erleuchtend.

Sanskrit Text:

na tat-svābhāsaṁ dṛśyatvāt ||19||

न तत्स्वाभासं दृश्यत्वात् ॥१९॥

na tat svabhasam drishyatvat ||19||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • na = nicht
  • tat = dessen
  • svā = selbst
  • bhāsa = erleuchtend, leuchtend, erkennend
  • svā-bhāsam = selbst erleuchtend, selbst erkennend
  • dṛśyatvāt = Wahrnehmbarkeit, ein wahrnehmbares Objekt

Kommentar

Der Geist an sich erkennt nichts. Er erkennt deshalb, weil purusha als Bewußtsein in ihm ist.

Er ist dem Mond vergleichbar. Der Mond strahlt nicht selbst, sondern spiegelt nur die Sonne. Und ein Spiegel hat keine Farbe an sich, sondern gibt seine Umgebung wider. Auch ein Bergkristall hat keine Farbe, sondern nimmt von seiner Umgebung die jeweilige Färbung an. Unser Gemüt, unser Geist nimmt nicht selbst etwas wahr und schafft auch nicht selbst etwas, sondern er nimmt die Farbe der Objekte an. Er kann auch aus der Erinnerung heraus die Farbe von früheren Objekten annehmen. Er kann die Farben auch mischen und so Kreativität entwickeln. Aber die Erkenntnis kommt von purusha.

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Kapitel 4, Vers 20

Deutsche Übersetzung:

Der Geist kann nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen.

Sanskrit Text:

eka samaye c-obhaya-an-avadhāraṇam ||20||

एक समये चोभयानवधारणम् ॥२०॥

eka samaye ch obhaya an avadharanam ||20||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • eka = ein
  • samaye = Situation, Augenblick
  • eka-samaye = gleichzeitig
  • ca = und
  • ubhaya = beide
  • an = nicht
  • avadhāraṇaṁ = ergreifen, erfassen, begreifen, ausfüllen

Kommentar

Der bewußte Geist nimmt eine Sache nach der anderen wahr. Das geschieht zwar so schnell hintereinander, daß man den Eindruck hat, man mache bzw. denke mehrere Dinge gleichzeitig. Zum Beispiel, wenn man in der Meditation sitzt, sein mantra wiederholt und in Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft plant. Das scheint alles gleichzeitig abzulaufen, tut es aber nicht. Es ist mal das eine, mal das andere in sehr schneller Abfolge. Der Geist springt.

Eine andere Interpretation des gleichen Verses:

Das Bewußtsein kann nicht beides (sich selbst und die Welt) zugleich wahrnehmen.

Entweder wir sehen die Welt oder das Bewußtsein. Beides zur gleichen Zeit geht nicht.

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Kapitel 4, Vers 21

Deutsche Übersetzung:

Würde ein Geist einen anderen Geist wahrnehmen, dann gäbe es die Absurdheit von Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie Verwirrung der Erinnerung.

Sanskrit Text:

cittāntara dṛśye buddhi-buddheḥ atiprasaṅgaḥ smṛti-saṁkaraś-ca ||21||

चित्तान्तर दृश्ये बुद्धिबुद्धेः अतिप्रसङ्गः स्मृतिसंकरश्च ॥२१॥

chittantara drishye buddhi buddheh atiprasangah smriti sankarash cha ||21||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • citta = Geist, Verstand, Denksubstanz
  • antara = andere
  • dṛśye = gesehen durch
  • buddhi = Wahrnehmung, Intellekt, Erkenntnis
  • buddheḥ = Wahrnehmen
  • buddhi-buddheḥ = Wahrnehmen von Wahrnehmung
  • atiprasaṅgaḥ = unstimmige Verbindung, Überflüssigkeit, ad absurdum führen
  • smṛti = Erinnerung
  • saṁkaraḥ = Verwirrung, Vermischung
  • ca = und

Kommentar

Wenn der Geist gleichzeitig den Geist eines anderen wahrnehmen würde, dann gäbe es eine Wahrnehmung der Wahrnehmung und daher eine Verwirrung der Erinnerungen.

Deshalb ist es auch nicht empfehlenswert, zu sehr zu versuchen, den Geist der anderen immer wieder zu verstehen und zu lesen. Patanjali hat uns zwar vorher die samyama-Technik angegeben, wie wir durch Konzentration auf das Herz eines anderen die Inhalte seines Geistes wahrnehmen können. Aber zu oft sollten wir das nicht machen.

Wir haben Swami Vishnu einmal gefragt, ob er unsere Gedanken lesen könne. Denn er hat sich manchmal ganz offensichtlich so verhalten, als ob er Gedanken lese. Bei mir war es zum Beispiel oft so: Ich habe mir monatelang alle Fragen, die ich nicht selbst beantworten konnte und für die ich auch vom Zentrumsleiter oder der Leiterin keine zufriedenstellende Antwort bekam, aufgeschrieben. Und wenn ich dann nach einer Weile wieder einmal zu Swami Vishnu kam, waren es meist ein paar Seiten voll Fragen. Dann habe ich immer ein paar Tage abgewartet, und in der Zeit hat er meistens den größten Teil meiner Fragen schon beantwortet. Entweder im Rahmen von Vorträgen direkt oder indirekt, oder indem er mich zu sich hingezogen und mir irgend etwas erzählt hat, was dann genau die Antwort auf etwas war, was ich hatte fragen wollen.

Ich kann mich beispielsweise an ein Ereignis in Wien erinnern, in dem ersten Yogazentrum, das ich leitete. Ich war ein paar Monate dort und irgendwie lief es inzwischen sehr gut. Ein paar der langjährigen Mitarbeiter befürchteten, mein Ego werde zu dick, und warnten mich, aufzupassen. Nun wußte ich selbst nicht so genau: Ist es jetzt Ego oder ist es Hingabe und Pflichterfüllung bzw. Dienst am guru und an Gott. Und während ich nun darüber nachgedacht und ständig versucht habe, an Gott zu denken und ihm alles zu widmen, kam plötzlich ein Brief von Swami Vishnu, in dem stand, meine Motivation sei richtig, Swami Sivananda wirke durch mich hindurch. Damals habe ich wirklich ständig darüber nachgedacht – ich frage mich das natürlich auch heute noch, aber jetzt denke ich nicht so viel nach. Es geschieht einfach, es ist zu meiner zweiten Natur geworden. Und dann kam dieser Brief von Swami Vishnu, ohne daß ich ihm die Frage überhaupt gestellt hatte! Und es hatte auch sonst niemand mit ihm darüber gesprochen, denn damals gab es keine E-mail oder ähnliches.

Aber auf die Frage, ob er Gedanken lesen könne, hat Swami Vishnu geantwortet: „Ich habe schon genug Probleme mit meinem eigenen Geist. Stellt euch vor, ich könnte jetzt die Gedanken von euch allen hier lesen. Ich würde innerhalb von fünf Minuten verrückt werden!“

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Kapitel 4, Vers 22

Deutsche Übersetzung:

Wird das Bewußtsein in den Zustand des Nicht-Wanderns gebracht, kommt die Selbsterkenntnis.

Sanskrit Text:

citer-aprati-saṁkramāyāḥ tad-ākāra-āpattau svabuddhi saṁ-vedanam ||22||

चितेरप्रतिसंक्रमायाः तदाकारापत्तौ स्वबुद्धि संवेदनम् ॥२२॥

chiter aprati sankramayah tad akara apattau svabuddhi sam vedanam ||22||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • citeḥ = des Bewusstseins, der Erkennende, Draṣṭu, das wahre Selbst
  • aprati = nicht
  • saṁkramāyāḥ = umherziehen, unstet leben, von einem, der von Ort zu Ort wandert
  • tad = dieses, das Chitta
  • buddheḥ = Wahrnehmen
  • ākāra = Form, Wesen, Natur
  • āpattau = erreichen
  • sva = eigene
  • buddhi = Erkenntnis, Intellekt
  • svabuddhi = Selbsterkenntnis
  • saṁ = genau, vollkommen
  • vedanam = Wissen, Wahrnehmung

Kommentar

Das ist im Grunde genommen das gleiche wie „Chittas vritti nirodhah“ aus dem ersten Kapitel. Ist der Geist in der Stille, kommt das Wissen des Selbst.

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Kapitel 4, Vers 23

Deutsche Übersetzung:

Ist der Geist gefärbt durch den Sehenden (das Selbst) und das Gesehene, wird er allumfassend.

Sanskrit Text:

draṣṭṛ-dṛśy-opa-raktaṁ cittaṁ sarva-artham ||23||

द्रष्टृदृश्योपरक्तं चित्तं सर्वार्थम् ॥२३॥

drashtri drishy opa raktam chittam sarva artham ||23||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • draṣṭṛ = der Sehende, Erkennende, Wahrnehmende
  • dṛśya = das Gesehene, Erkannte, Wahrgenommene
  • ūpa = von nahe
  • raktam = färben, angleichen
  • citta = Geist, Verstand
  • sarva = alles, gesamt
  • artham = Sinn

Kommentar

Das kann man wieder auf zwei Arten interpretieren.

Einmal ist das eine Darstellung der Wahrnehmungstheorie aus yogischer Sicht. Der Geist kann grundsätzlich alles wissen und verstehen, weil er einerseits das Selbst, purusha, hat, welcher alles wahrnimmt, und andererseits ist da die ganze prakriti, die ganze Schöpfung. Das chitta (der Geist, das Gemüt) kann grundsätzlich von allem gefärbt werden, je nachdem, in welche Richtung es sich wendet. Und da hinter ihm Bewußtsein ist, eben purusha, kann das chitta grundsätzlich alles wahrnehmen und erkennen.

Die zweite Interpretation ist: Wenn wir in der Lage sind, unser chitta sehr ruhig zu halten und unsere Vorurteile und all das herauszuhalten, dann färbt das chitta sich tatsächlich ganz genau wie das Objekt. Dann wissen wir über die Objekte sehr viel besser Bescheid als jemand, der ständig nur mit Vorurteilen und eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern an alles herangeht. Ein reiner Kristall oder ein ganz stiller, sauberer See widerspiegeln die Welt klar und deutlich.

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Kapitel 4, Vers 24

Deutsche Übersetzung:

Der durch die unzähligen Wünsche so mannigfache Geist wirkt für einen anderen (nämlich das Selbst); denn sie (der Geist und das Selbst) sind in Verbindung.

Sanskrit Text:

tad-asaṅkhyeya vāsanābhiḥ citram-api parārtham saṁhatya-kāritvāt ||24||

तदसङ्ख्येय वासनाभिः चित्रमपि परार्थम् संहत्यकारित्वात् ॥२४॥

tad asankhyeya vasanabhih chitram api parartham sanhatya karitvat ||24||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tad = das
  • a = nicht
  • saṁkhyeya = zählbar
  • vāsanābhiḥ = durch Vasanas, Wünsche, Triebe
  • citram = mannigfaltig, wunderbar, bunt
  • api = obgleich, auch, trotzdem
  • para = andere
  • artham = Sinn
  • saṁhatya = Verbindung, Zusammenhang
  • kāritāt = wegen

Kommentar

Obgleich der Geist oft verrückt spielt oder zu spielen scheint, ist er eigentlich Diener des Selbst. Er vergißt das zwar manchmal, aber gewissermaßen ist das seine Aufgabe. Wir haben den Geist, um die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und müssen, um uns letztlich auch wieder von allem zu befreien.

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Kapitel 4, Vers 25

Deutsche Übersetzung:

Wer diesen Unterschied (zwischen Selbst und Geist) erkennt, hört auf, den Geist als atma zu sehen.

Sanskrit Text:

viśeṣa-darśinaḥ ātmabhāva-bhāvanā-nivṛttiḥ ||25||

विशेषदर्शिनः आत्मभावभावनानिवृत्तिः ॥२५॥

vishesha darshinah atmabhava bhavana nivrittih ||25||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • viśeṣa = Einzigartigkeit, Unterschied, Besonders
  • darśinaḥ = für / von dem, der sieht
  • ātma = das wahre Selbst
  • bhāva = Ziel
  • ātma-bhāva = Selbstverwirklichung, Selbsterkenntnis
  • bhāvanā = Zielstrebigkeit, fixe Idee, Wunsch
  • nivṛttiḥ = völliges, komplettes Aufhören des Gedanken, der Trübung, Vorurteil, Gedankenwelle

Kommentar

Viele Menschen denken: Ich bin der Geist, ich bin die Emotionen, ich bin die Gefühle. Die Vorstellung, daß wir etwas anderes sein könnten als die Gefühle und die Wahrnehmungen auf physischer Ebene, ist Menschen völlig fremd. Und selbst für spirituelle Aspiranten, die wiederholen: „Aham brahma asmi“ ist das „Ich bin Brahman“ nicht mehr sehr aktuell, sobald irgendwelche Emotionen kommen, vor allem bei negativen oder belastenden Emotionen. Aber wenn wir anfangen, diesen Unterschied zwischen Geist und Selbst zu sehen und auch zu spüren, dann mögen zwar immer noch Emotionen da sein, aber wir sind nicht mehr so stark davon beeindruckt und beeinflußt. Wir wissen: Das Selbst ist nicht identisch damit.

Eine andere Übersetzungsmöglichkeit wäre:

Wer diese einzigartige Schau besitzt, kommt zur Selbsterkenntnis und zur Ruhe des Geistes.

Aus der Wahrnehmung desjenigen, das hinter allen vielfältigen Gedanken stets ruhig bleibt, kommt die Selbstverwirklichung. Die Gedanken im Geist kommen von selbst zur Ruhe.

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Kapitel 4, Vers 26

Deutsche Übersetzung:

So neigt der Geist zur Unterscheidungskraft und strebt nach Befreiung.

Sanskrit Text:

tadā viveka-nimnaṁ kaivalya-prāg-bhāraṁ cittam ||26||

तदा विवेकनिम्नं कैवल्यप्राग्भारं चित्तम् ॥२६॥

tada viveka nimnam kaivalya prag bharam chittam ||26||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tadā = dann
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • nimnam = geneigt zu, hin zu, vertieft
  • kaivalya = Befreiung
  • prāk = Richtung, Neigung
  • bhāra = Gewicht
  • citta = Geist, Verstand

Kommentar

Erste Voraussetzung ist, daß wir überhaupt erst einmal erkennen, daß wir gebunden sind. Und während wir um die Gebundenheit wissen, muß uns klarwerden, daß wir eigentlich frei sein könnten. Wenn wir wissen, daß das Selbst etwas anderes ist als der Geist, dann wissen wir: Wir sind momentan gebunden. Wenn wir diese Unterscheidungskraft erworben haben, wollen wir natürlich nicht länger gebunden bleiben. Von diesem Moment an können wir nach Befreiung streben.

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Kapitel 4, Vers 27

Deutsche Übersetzung:

Andere Gedanken, die als Unterbrechung (der Unterscheidungskraft) aufsteigen, kommen von den früheren Neigungen.

Sanskrit Text:

tac-chidreṣu pratyaya-antarāṇi saṁskārebhyaḥ ||27||

तच्छिद्रेषु प्रत्ययान्तराणि संस्कारेभ्यः ॥२७॥

tach chhidreshu pratyaya antarani sanskarebhyah ||27||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tat = diese
  • cidrreṣu = Unterbrechung, Bruch, grundlegende Veränderung
  • pratyaya = Bewusstseinsinhalt, Gedanke, Eindrücke
  • antaraṇi = andere, verschiedene
  • saṁskārebhyaḥ = aus Saṁskāra, Vorprägungen, Neigungen

Kommentar

Deshalb geht es auf dem spirituellen Weg nicht so schnell. Wir können einen Augenblick lang eine wunderschöne Einsicht haben und wirklich erkannt haben: Ja, ich bin das unerschütterliche, unvergängliche Selbst, ich bin nicht der Geist. Und kurz danach identifizieren wir uns wieder mit unseren Gedanken und unserem Selbstbild und all dem. Das merkt man besonders an der eigenen Reaktion, wenn einen jemand kritisiert oder etwas schiefgeht oder man meint, man müßte etwas anderes tun als das, was jetzt gerade von einem verlangt wird. Dann merkt man, daß man sich wieder identifiziert

Diese Identifikation kommt von den vergangenen samskaras aus früheren Leben. Samskara für samskara muß ersetzt werden, wie im Beispiel von dem Baumwolltuch, das wir in ein goldenes Tuch umwandeln können, indem wir Faden für Faden auswechseln. Deshalb dauert es so lange, bis man die Selbstverwirklichung erreicht.

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Kapitel 4, Vers 28

Deutsche Übersetzung:

Diese werden genauso beseitigt wie es vorher im Zusammenhang mit den kleshas beschrieben wurde.

Sanskrit Text:

hānam-eṣāṁ kleśavad-uktam ||28||

हानमेषां क्लेशवदुक्तम् ॥२८॥

hanam esham kleshavad uktam ||28||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • hāna = Aufgeben, Beseitigung, Aufhören, Trennen
  • eṣām = von diesen, davon
  • kleśa = Bürden auf dem spirituellen Weg
  • kleśavat = wie die Kleshas
  • uktam = wurde beschrieben

Kommentar

Wir hatten von den Ursachen der kleshas, der Leiden gesprochen (II, 2-11), nämlich avidya, asmita, raga, dvesha, abhinivesha, also Unwissenheit, Ego, Mögen, Nichtmögen und Angst. Auch die samskaras rühren letztlich vom Handeln aus den kleshas her. Das hinterläßt Eindrücke im Unterbewußtsein, die dazu führen, daß die Unterscheidungskraft nicht dauerhaft ist.

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Kapitel 4, Vers 29

Deutsche Übersetzung:

Gibt man selbst den Wunsch nach dem höchsten Bewußtseinszustand auf und übt Unterscheidungskraft, erreicht man dharma-megha-samadhi.

Sanskrit Text:

prasaṁkhyāne-‚py-akusīdasya sarvathā vivekakhyāteḥ dharma-meghas-samādhiḥ ||29||

प्रसंख्यानेऽप्यकुसीदस्य सर्वथा विवेकख्यातेः धर्ममेघस्समाधिः ॥२९॥

prasankhyane ‚py akusidasya sarvatha vivekakhyateh dharma meghas samadhih ||29||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • prasaṁkhyāne = tiefe Erkenntnis
  • api = sogar
  • akusīdasya = kein Interesse, Wunschlosigkeit
  • sarvathā = auf jede Weise, zu allen Zeiten, fortwährend, immer
  • viveka = Unterscheidungskraft
  • khyāti = folgend aus
  • dharma = Tugend, Kosmische Ordnung, Pflicht im Leben, Aufgabe im Leben
  • meghaḥ = Wolke, Regenwolke
  • dharma-meghaḥ = Herabströmen des Dharmas
  • samādhiḥ = überbewusster Zustand, Samadhi

Kommentar

Wenn man schließlich sogar den Wunsch nach Befreiung aufgegeben hat, erreicht man nicht nur normalen samadhi, sondern megha-Samadhi, ja sogar dharma-megha-Samadhi. Dharma-megha heißt wörtlich „Wolke der Tugend“. In diesem Zustand weiß man, was das Richtige ist, was das eigene dharma, die eigene Aufgabe, die eigene Pflicht, ist.

Das Hauptmittel zur Befreiung ist der Wunsch nach Befreiung. Aber er ist gleichzeitig auch das letzte Hindernis. Ganz zum Schluß, wenn wir sehr weit entwickelt sind, müssen wir auch den Wunsch nach Befreiung aufgeben. Dann sind wir befreit. Das mag paradox klingen.

Wenn du zum Beispiel aufs Dach steigen willst, was benutzt du? – Eine Leiter. Das Mittel, um aufs Dach zu steigen, ist eine Leiter. Und was mußt du als letztes tun, um wirklich auf das Dach zu kommen? – Die Leiter verlassen. Das letzte Hindernis vor der Berührung des Daches ist die letzte Stufe der Leiter und vielleicht auch die Sicherheit der Leiter.

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Kapitel 4, Vers 30

Deutsche Übersetzung:

Dann hören Leiden und karma auf.

Sanskrit Text:

tataḥ kleśa-karma-nivṛttiḥ ||30||

प्ततः क्लेशकर्मनिवृत्तिः ॥३०॥

tatah klesha karma nivrittih ||30||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • tataḥ = daher
  • kleśa = Bürden auf dem spirituellen Weg
  • karma = Handlung und ihre Folgen
  • nivṛttiḥ = vollkommenes Aufhören einer Gedankenwelle, Vorurteil