1. Kapitel, Vers 1

Deutsche Übersetzung:

Verneigung vor dem verehrungswürdigen Shiva, von dem die Wissenschaft des Hatha-Yoga gelehrt wurde. | Es beleuchtet den überlegenen Zustand des Raja-Yoga, für den, der wie auf einer Treppe dorthin aufsteigen will.

Sanskrit Text:

  • śrī-ādi-nāthāya namo’stu tasmai
    yenopadiṣṭā haṭha-yoga-vidyā |
    vibhrājate pronnata-rāja-yogam
    āroḍhum icchor adhirohiṇīva ॥1॥
  • श्रीआदिनाथाय नमोऽस्तु तस्मै येनोपदिष्टा हठयोगविद्या ।
    विभ्राजते प्रोन्नतराजयोगमारोढुमिच्छोरधिरोहिणीव ॥१॥
  • shri adi nathaya namo’stu tasmai
    yenopadishta hatha yoga vidya |
    vibhrajate pronnata raja yogam
    arodhum ichchhor adhirohiniva ॥1॥

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • śrī : dem verehrungswürdigen (Shri)
  • ādi-nāthāya : uranfänglichen Herrn, Beschützer, Gebieter (Adinatha)
  • namas : Verneigung, Verehrung (Namas)
  • astu : sei (as)
  • tasmai : diesem (Tad)
  • yena : durch den (Yad)
  • upadiṣṭā : gelehrt wurde (Upadishta)
  • haṭha-yoga : (des) Hatha Yoga
  • vidyā : (die) Wissenschaft (Vidya)
  • vibhrājate : die erstrahlt (vi + bhrāj)
  • pronnata : (den) äußerst erhabenen („hohen“, Pronnata)
  • rāja-yogam* : königlichen Yoga (RajaYoga)
  • āroḍhum : zu erklimmen (ā + ruh)
  • icchoḥ : für den, der wünscht (Ichchhu)
  • adhirohiṇī : (eine) Leiter (Adhirohini)
  • iva : wie  (Iva)     ॥1॥

*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda erläutert das Wort rāja-yoga (Königs-Yoga) in diesem Zusammenhang im Sinne des höchsten Bewusstseinszustandes, der im Yogasutra als Asamprajnata (Samadhi) bezeichnet wird, und dessen Kennzeichen (Lakshana) das Zurruhekommen (Nirodha) jeglicher (Sarva) Fluktuationen (des Geistes, Vritti) ist: rāja-yogaś ca sarva-vṛtti-nirodha-lakṣaṇo ’saṃprajñāta-yogaḥ.

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Brahmananda

So gut wie jedes Werk über Yoga und die Tantras trägt die Form einer Darlegung von Shiva, dem großen Yogi, an seine Frau Parvati. Das Wort Hatha ist aus den Silben „ha“ und „tha“ zusammengesetzt, was Sonne und Mond bedeutet, d. h. Prana und Apana. Ihr Yoga oder ihre Vereinigung, d.h. Pranayama, wird Hatha Yoga genannt. In diesem Vers und das ganze Werk hindurch wird festgehalten, dass Hatha Yoga nur ein Mittel zu Raja Yoga ist. Es kann kein Raja Yoga ohne Hatha Yoga geben und umgekehrt.

Vishnu-devananda

1. Ich grüße den ersten Herrn, Shiva, der die Hatha Vidya an Parvati lehrte. Das ist ein Schritt zur Aneignung des alles überragenden Raja Yoga.

Swatmarama beginnt seine Unterweisung auf die traditionelle Art, indem er sich vor den Gurus demütig verneigt. Erst verneigt er sich vor dem Adi Guru, dem obersten Guru: Shiva, und dann vor seinem Schüler Matsyendranath und dessen Schüler Gorakshanath. Durch deren Gnade entfaltet Swatmarama dessen große Wissenschaft. Vidya bedeutet Wissen. Das Wissen von Hatha Yoga wurde erstmals von Shiva an seine Gefährtin Parvati, die universelle Mutter, gelehrt.

Der Sinn des Hatha Yoga ist, euch zu lehren, wie man diese zwei Energien: „ha“ und „tha“ (Prana und Apana) kontrolliert. Ohne diese Kenntnis ist es sehr schwierig, jene Kontrolle über den Geist zu erlangen, die Raja Yoga genannt wird. Raja Yoga hat mit dem Geist zu tun, Hatha Yoga arbeitet mit Prana und Apana. Viele Schüler begehen den Fehler, Hatha Yoga hauptsächlich für Asanas zu halten, während in Wirklichkeit Asanas nur eine der acht Stufen des Hatha Yoga sind. darüber hinaus gibt es gar keinen wirklichen Unterschied zwischen Hatha Yoga und Raja Yoga. Es gibt keine Möglichkeit, sich Raja Yoga ohne die Praktik des Hatha Yoga anzueignen und umgekehrt. Hatha Yoga ist der praktische Weg, den Geist durch die Kontrolle von Prana zu kontrollieren.

Schaut auf das Spiel der Blätter an einem Baum. Wenn ihr dieses Spiel beobachtet, könnt ihr auf die Geschwindigkeit des Windes schließen, auch wenn ihr den Wind selber nicht sehen könnt. Ebenso können wir Prana oder Apana nicht sehen oder die Bewegung des Geistes sowie seiner Gedanken. Im Sinne von Raja Yoga ist der Geist wie ein See, und das Denken sind Wellen („Vrittis“ auf Sanskrit). Raja Yoga dient dazu, diese Wellen des Denkens zu kontrollieren und gegebenenfalls anzuhalten. Auf Sanskrit sagen wir: „Yoga chitta vritti nirodha“.

Gemäß Patanjali, dem Verfasser der (Raja) Yoga Sutras, gibt es fünf Arten von Vrittis, von denen einige Positiv sind und einige nicht. Von diesen fünf ist nur eine ausschließlich positiv und das ist, wenn der Sehende sich mit dem Selbst (Atman) identifiziert. Das ist nur möglich, wenn die Wellen des Denkens verlangsamt werden. Dann erkennt der Sehende im ruhigen See seines Geistes sein eigenes Selbst (Atman). Aber solange der Wind existiert, werden wir den Baum in Bewegung sehen, die Blätter im Spiel – manchmal ruhig, manchmal heftig, aber immer in Bewegung.

Hatha Yoga fragt: „Wie hält man diese Wellen an?“ und „Wie sieht der Sehende das Selbst?“

Wie die Wellen auf dem See vom Wind geschaffen werden, so werden die Wellen des Geistes von Prana und Apana hervorgerufen. Manchmal bewegt sich diese Energie sehr schnell, manchmal langsam, und je nach Art der Prana-Apana-Bewegung werden die Wellen der Gedanken sehr ausgeprägt oder sehr langsam sein. Wir sagen dazu rajasiges oder tamasiges Denken.

Tamasige Wellen sind lethargisch und schläfrig, weil dann die Untätigkeit vorrangig ist. Es ist kein stiller, friedlicher Geisteszustand, auch kein aktiver Geisteszustand; es ist ein untätiger Zustand, in dem der Geist nicht imstande ist, irgendetwas zu tun. Er vegetiert nur – wie ein Stein oder ein Eisblock.

Tamasige Wellen sind sehr trüb und grob gefroren wie Eis, so dass ihr euer Spiegelbild nicht sehen könnt, obwohl die Oberfläche still zu sein scheint. Es ist unmöglich zu sehen, was am Grunde des Sees ist.

Rajasige Wellen sind wie ein stürmischer Himmel. Er ist entflammt. Wellen erheben sich auf dem See und lösen sich fortwährend wieder auf der wirbelnden Oberfläche des Geistes auf.

Aber im Sattva-Zustand kommen die Wellen zum Stillstand; da gibt es keine Bewegung von Prana und Apana, weil die Energie zum zentralen Kanal, der Sushumna, gelenkt worden ist. Wenn sich diese Wellen zeigen, bewegt sich Prana/Apana gewöhnlich durch den Ida– und Pingala-Kanal auf der rechten und linken Seite des Körpers. Das kann man demonstrieren, indem eure Gehirnströme überprüft werden.

Manchmal ist die rechte Gehirnhälfte aktiver; manchmal ist die linke aktiver. Wellen der linken Hälfte sind meist analytisch, mathematisch, wissenschaftlich, rational usw. Im Allgemeinen werden diese Wellen vom westlichen Geist am meisten verwendet. Deshalb habt ihr (im Westen) schöne Städte und Autos und komplexe Technologien hervorgebracht. Dies geschieht, weil eure linke Gehirnhälfte meistens die rechte unterdrückt. Sogar eure Religionen lassen die linke, analytische Seite bevorzugt zur Wirkung kommen. Wenn christliche Mönche in Klausur gehen, harren sie eher in Kontemplation als in der Meditation aus, und im Judentum ist der gebräuchliche Zugang zur Religion analytisch.

Wellen, die vom rechten Gehirn kommen, sind philosophisch, hingebungsvoll, mitfühlend und von friedlicher Natur, auch wenn wir sie meist für Müßiggang oder Gefühlsbetontes verwenden. Entweder ihr liebt oder ihr hasst jemanden, und so stellt ihr die Wellen auf ein sehr grobes und tamasiges Niveau ein.

Der Sinn von Yoga ist, beide Gehirnhälften davor zu bewahren, die andere zu beherrschen und den sattvigen Zustand hervorzubringen. Deshalb meditieren wir an einem Platz, wo es sehr wenig Aktivität gibt – wie die sanfte natürliche Bewegung der Bäume im Wind und gelegentlich die Rufe einiger Vögel. In unseren Ashrams pflanzen wir Blumen. Das alles dient der Beruhigung des Geistes.

Die wesentliche Yogapraktik ist, die linke Seite des Gehirns durch die Verwendung der rechten Hälfte zu kontrollieren. Wenn die linke Gehirnhälfte aktiv ist, ist Pingala in Funktion und der Atem bewegt sich durch das rechte Nasenloch. Wenn die rechte Gehirnhälfte aktiv ist, ist das linke Nasenloch geöffnet und Ida in Funktion. Das wechselt normalerweise alle eineinhalb bis zwei Stunden. Aber wenn die Energie sich weder durch das rechte, noch durch das linke Nadi bewegt, muss sie durch Sushumna gehen, und dann ist die Energie im Gleichgewicht.

Darüber hinaus wird die Wahrnehmung von Zeit und Raum durch diese Bewegung von Prana zwischen dem rechten und linken Kanal verursacht. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Samadhi und Tiefschlaf. Im Tiefschlaf seid ihr euch der Zeit oder des Raumes nicht bewusst, weil die Vrittis unterdrückt sind. Sie sind nicht aufgehoben, wie im Samadhi. Ihr könnt sagen, dass die Vrittis im Tiefschlaf auf Eis gelegt sind – kaltgestellt. Sie kommen zurück, wenn die Sonne scheint, um das Eis zu schmelzen.

Aber in Samadhi gibt es überhaupt keine Vrittis. Gewöhnlich erfahren wir diese Ruhe nur während des Tiefschlafs, ein Zustand der Trägheit, im Samadhi jedoch sind die geistigen Modifikationen eingestellt. Dann gibt es Gleichgewicht zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte. Dafür üben wir die Wechselatmung, da wir nicht direkt auf das Gehirn einwirken können.

Sukadev

1. Ich grüße den ersten Herrn Shiva, der die Hatha Vidya an Parvati lehrte. Das ist ein Schritt zur Aneignung des alles überragenden Raja Yoga.

Viele indische Schriften beginnen damit, dass erst Gott gegrüßt wird, der Guru gegrüßt wird, die notwendigen Eigenschaften des Schülers aufgezählt werden, und Wozu diese Schrift gut ist. Im ersten hat er gleich zwei davon aufgezählt. Zuerst grüßt er Gott. Und dann sagt er, wozu das, was er lehrt, da ist. Für Raja-Yoga, zur Kontrolle des Geistes, zur Erreichung der Selbstverwirklichung. Hatha Yoga ist, solange es ihn gibt, immer schon zu unterschiedlichen Zwecken gewesen.

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