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01-47 Kommentar Sukadev

Wenn ihr euch jetzt mal das ganze Bild vergegenwärtigt:

Da gibt es zwei sich gegenüberstehende Armeen, die schon zum Angriff die Muschelhörner geblasen haben. Arjuna verlässt einfach die eigene Armee und begibt sich in die Mitte beider Armeen. Dort unterhält er sich mit Krishna und wirft danach einfach seine Waffen nieder.

Und dann dauert es noch 17 Kapitel, also mehrere Stunden, bevor die Schlacht überhaupt beginnt! Warum warten beide Armeen eigentlich so lange?

Nun, die Pandavas wissen, dass sie ohne Arjuna keine Chance haben. Ihre Armee besteht nur aus halb so vielen Kriegern wie die Armee der Kauravas. Arjuna ist ihr stärkster Krieger und er wird von Krishna unterstützt. Die Kauravas teilen dieses Wissen, hoffen aber, dass Arjuna zu feige ist, dass er es mit der Angst zu tun bekommt und flieht. Dann würden sie leicht einen Sieg über die Pandavas erlangen. Wenn sie allerdings jetzt angreifen würden, dann könnte es sein, dass Arjuna gezwungenermaßen zu seiner Waffe greift und es eine große Schlacht mit vielen Toten auf Seiten der Kauravas geben wird.

Aus diesem Grund warten beide Armeen ab.

Oft wird die Frage gestellt, warum Krishna Arjuna die Weisheit der Bhagavad Gita auf dem Schlachtfeld erzählt. Er hätte es auch vorher bei einer Tasse Getreidekaffee im warmen Zimmer oder in einem Ashram tun können. Die meisten Dinge, die in der Bhagavad Gita erzählt werden, haben mit dem Schlachtfeld nichts zu tun, sondern sind Grundlagen des spirituellen Lebens, die auf jede Lebenssituation anwendbar sind. Und jeder Mensch, egal in welcher Lebenssituation er ist, wird in der Bhagavad Gita Anleitungen finden, wie er sein Leben spirituell ausrichten kann. Wie er von Egoismus und Getrenntheit wegkommen und zu einem Gefühl der Einheit kommen kann.

Der Grund, warum Krishna das Arjuna auf dem Schlachtfeld erzählt hat, ist, dass wir keine Ausrede haben sollen für Tamas. Ich bekomme oft in Seminaren zu hören: „Was du dort erzählst ist ganz schön für diejenigen, die im Ashram leben, ein gemütliches, schönes, angenehmes konfliktfreies Leben haben, in dem das alles sehr einfach ist.“

Es sei dahingestellt, ob das Leben im Ashram immer ein angenehmes und konfliktfreies Leben ist. Aber die Bhagavad Gita ist eben nicht an Ashrambewohner adressiert geschrieben worden. Krishna verkündet das in einem Moment, vielleicht in einem der extremsten menschlichen Momente überhaupt, nämlich im Kriegszustand.

Als Kinder haben viele von uns wahrscheinlich unseren Eltern oder Großeltern immer wieder gesagt: „Hör auf über den Krieg zu erzählen, wir wollen es nicht mehr hören.“ Und manche Eltern wollten oft auch gar nichts erzählen. Sie standen unter einem posttraumatischen Syndrom, was bedeutet, dass sie zeit ihres Lebens von einer traumatischen Erfahrung berührt sind. Viele unsere Eltern und Großeltern hatten solche traumatischen Erkrankungen.

Arjuna befindet sich also in der extremsten menschlichen Situation, in der er überhaupt sein kann. Und wenn das, was Krishna Arjuna erzählt, in dieser Situation anwendbar ist, dann haben wir keine Ausrede mehr zu sagen: „Krishna kann das Arjuna ruhig erzählen. Dem geht es ja gut. Er lebt geschützt in einem Ashram, wo es keine menschlichen Probleme gibt.“ Nein, Arjuna befindet sich in einem schlimmen ethischen Konflikt. Er hat die Verantwortung für das Leben von Tausenden oder Hunderttausenden von Menschen. In dieser Situation hört er die Lehren Krishnas.

An dieser Stelle muss man sich mal vergegenwärtigen, warum Arjuna überhaupt Bedenken hat zu kämpfen. Wenn das Leute gewesen wären, die er nicht gekannt hätte, dann wäre es kein Problem für ihn gewesen zu kämpfen. Er hat ja schon in vielen Schlachten gekämpft. Er hat des Öfteren die Bösen vernichtet, die Tyrannen, die Gesetzesbrecher. Doch nun erkennt Arjuna, dass diesmal die Bösen und die Guten seine eigene Familie sind. Dies ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis überhaupt. Jeder Mensch gehört zu unserer Familie.

Wissenschaftler der modernen Biologie behaupten, dass wir alle von einem Menschen, gerne als „Luzie“ bezeichnet, abstammen. Wir haben alle die DNA von Luzie in unserem Körper. Wir könnten auch durchaus sagen, dass wir die DNA von Adam oder Eva in uns hätten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir alle einen gemeinsamen Urahnen haben.

Ferner führen manche Wissenschaftler aus, dass nur ein paar hundert Menschen die Eiszeit überlebt haben. Mit denen seien wir ebenfalls verwandt.

Irgendjemand hat mal ein Gedankenexperiment gemacht und gesagt:

„Über sechs Menschen kennen wir jeden Menschen auf diesem Planeten. Jeder kennt jemand anderen, der wieder jemand anders kennt, der jemand anderes kennt, der nochmals jemand anderes kennt. Über sechs Stufen müsste man jeden Menschen auf dieser Welt kennen.“

Dies hat er auch zu beweisen versucht. Natürlich, im streng mathematischen Sinne, ist es nicht beweisbar. Trotzdem sind wir alle irgendwie über sechs Ecken miteinander befreundet. Vom yogischen Standpunkt aus haben wir alle das gleiche Selbst und wir haben alle die gleichen Gefühle und Emotionen. Letztlich sind wir alle Teile einer Familie.

Arjuna erkennt nun, dass die anderen seine Familie sind. Jetzt hat er Bedenken sie umzubringen. Obwohl die anderen ihn hassen, hat er das sehr große menschliche Gefühl von Liebe. Selbst Duryodhana und seinen anderen Cousins gegenüber empfindet er Liebe. Und gerade weil Arjuna diese Liebe spüren kann und seinen Gegner vergibt, sagt er, dass sie nur aus Verblendung heraus handeln und eigentlich gar nicht so schlimm sind. Er liebt sie weiterhin. Einzig und allein aus diesem Grund ist Krishna auch bereit, Arjuna die Bhagavad Gita zu erzählen. Arjuna besitzt Vairagya (Verhaftungslosigkeit, Abwesenheit von Gier). Er will kein Königreich. Er will keinen Ruhm, er will keine Freude. Eigentlich geht es ihm nur darum, das Rechte zu tun. Aber er hätte kaum Bedenken zu kämpfen, wenn es Leute wären, die er nicht kennt.

Beide Armeen stammen jedoch aus einer Jati, aus einer Sippe. Sie haben sich getrennt, was normalerweise gar nicht geht und Unrecht ist. Arjuna weiß, dass der Gegner doppelt so stark ist wie seine Armee. Allerdings verfügt Arjuna auch über ein gutes Selbstvertrauen. Er geht davon aus, dass er viel ausrichten kann und es zu vielen Toten auf beiden Seiten kommen wird.

Wenig Tote würde es dann geben, wenn eine Armee erheblich größer als die andere wäre. Wenn die beiden Armeen in etwa gleich stark sind, gibt es erheblich mehr Gemetzel. Und dabei wäre nicht klar, wie viele davon überleben würden. Würden ausreichend Überlebende übrig bleiben, um die religiösen Riten weiterzuführen?

Krishna wird sich an dieser Stelle nicht auf Arjunas Argumentation aus der Purva Mimamsa Philosophie heraus einlassen. Im Gegenteil sogar. Krishna teilt ihm in den nächsten Kapiteln mit, dass Arjuna sich nicht um das kümmern soll, was die Purva Mimamsa Philosophie sagt, und, dass diese Philosophie nicht auf ethische Fragen anwendbar ist.

Krishna geht zwar an einigen Stellen kurz auf die Philosophie ein, will aber von einer höheren Ethik ausgehen. Er möchte Arjuna nicht darin unterstützen die Familienethik, die „In-den-Himmel-kommen- Ethik“ oder die „Andere-in-den-Himmel-heben-Ethik“ zu praktizieren. Ihm geht es letztlich um die Befreiung des Menschen.