Atma Bodha – Vers 52

Durch Kontemplation überwinde alle Anhaftungen

Atma Bodha – Vers 52

Deutsche Übersetzung:

Obwohl er in den Begrenzungen (Upadhis) lebt, bleibt er, der Kontemplative, sorglos allem gegenüber oder er zieht umher wie der Wind, vollkommen ungebunden.

Sanskrit Text:

upādhistho’pi taddharmair alipto vyomavan muniḥ ।
sarvavin mūḍhavat tiṣṭhed asakto vāyuvac caret ॥ 52 ॥

उपाधिस्थोऽपि तद्धर्मैरलिप्तो व्योमवन्मुनिः ।
सर्वविन्मूढवत्तिष्ठेदसक्तो वायुवच्चरेत् ॥ ५२॥

upadhistho’pi taddharmair alipto vyomavan munih |
sarvavin mudhavat tishthed asakto vayuvach charet || 52 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung:

  • upādhi-sthaḥ : in den Begrenzungen (Upadhi) lebend (Stha)
  • api : obwohl (Api)
  • tad-dharmaiḥ : von deren (Tad) Eigenschaften (Dharma)
  • aliptaḥ : unbefleckt (Alipta)
  • vyoma-vat : wie (Vat) der Himmel (Vyoman)
  • muniḥ : der Weise (Muni)
  • sarva-vit : allwissend (Sarvavid)
  • mūḍha-vat : wie ein Einfältiger (Mudha)
  • tiṣṭhet : er bleibt, lebt (sthā)
  • asaktaḥ : an nichts gebunden, frei (Asakta)
  • vāyu-vat : wie der Wind (Vayu)
  • caret : er zieht umher, geht (car)     ॥ 52 ॥

Kommentar von Sukadev Bretz

Lesen

Obwohl der Jivanmukta in den Begrenzungen (Upadhis) lebt, bleibt er, der Kontemplative, sorglos allem gegenüber oder er zieht umher wie der Wind, vollkommen ungebunden.
Wir sind im 52. Vers. Und hier spricht Shankaracharya darüber: Wie ist ein Jivanmukta? Wie ist ein lebendig Befreiter? Mit anderen Worten: Wie wirst du sein, wenn du das Ziel des Lebens erreicht hast? Wie wirst du sein, wenn du Gott verwirklicht hast? Wenn du deine wahre Natur erfahren hast? Wenn du Brahman ständig erfährst? Das ist ja oft die Frage: Was passiert überhaupt, wenn ich das Ziel des Yoga erreiche?
Und es ist durchaus gut, sich damit immer wieder zu beschäftigen. Nicht nur sich damit zu beschäftigen, was alles im Leben schief gehen kann, sondern mit dem, was langfristig deine Perspektive ist. Denn die großen Yogaschriften sagen ja: Langfristig wird jeder Gott verwirklichen. Du wirst dich solange inkarnieren, bis du diese höchste Verwirklichung hast. Jetzt kannst du überlegen: Ist es das wert, danach zu streben, zur Gottverwirklichung zu kommen? Und was müsste ich tun, um dorthin zu kommen? Gut, und wenn wir hören, was Shankaracharya natürlich aus seiner eigenen Erfahrung heraus sagt, und dass er auch weiß, wie seine Schüler, die das Höchste erreicht hatten, dies erfahren haben, dann wirst du sagen: Ja, es rentiert sich, wirklich danach zu streben, ernsthaft zu streben, mich zu bemühen, alles zu tun, um dieses Höchste tatsächlich zu erfahren.
Shankara sagt hier: Der Jivanmukta, der lebendig Befreite, der mag weiter in seinen Begrenzungen leben, Jivanmukta heißt: der lebendig Befreite noch im Körper. Der Jivanmukta (mukta: befreit, jivan: Leben), der lebendig Befreite, der hat weiter seinen Körper. Der ist in dem Körper. Der hat weiter eine Psyche. Der ist in der Psyche. Das sind die Upadhis, die begrenzenden Attribute. Diese sind weiter da, aber der Weise ist nicht daran gebunden. Das ist so ähnlich – angenommen, du bist in einem Raumanzug auf dem Planeten Merkur oder Mars, und irgendwo gab es einen Gedächtnisschwund, und du weißt gar nicht, dass du einen Raumanzug anhast und du denkst, du wärst der Raumanzug. Dann bist du natürlich damit identifiziert. Und wenn irgendwas mit dem Raumanzug ist, dann hast du große Angst. Natürlich rentiert es sich auch, Angst zu haben auf einem Planeten, wenn dein Raumanzug beschädigt ist, dann muss man natürlich schnell reparieren. Aber es ist ein Unterschied, ob man sagt, mein Raumanzug hat ein Problem, ich muss ihn reparieren oder „Oh, ich bin verletzt. Was wird mit mir passieren?“
Auf die gleiche Weise weiß ein Jivanmukta: Körper ist Raumanzug. Mit diesem Raumanzug des Körpers kannst du in dieser Welt Erfahrungen machen. Du machst in dieser Welt Erfahrungen, erledigst deine Aufgaben, erfüllst eine oder mehrere Missionen und lernst alles Mögliche. So wie in einem Schauspiel. Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber das ist gut. Durch Wiederholung wird etwas wieder klar. Ich wiederhole mich gegenüber dem, was ich die letzten Male gesagt habe: Wir sind Schauspieler, der Körper ist wie das Kostüm, das wir haben, und unsere Psyche ist wie die Rolle, die wir annehmen. Wir sind nicht die Rolle in einem Schauspiel und wir sind nicht das Kostüm in einem Schauspiel. So ähnlich in dieser Welt: Wir sind nicht unsere Persönlichkeit, das ist unsere Rolle. Und wir sind auch nicht der Körper. Das ist unser Kostüm, unser Raumanzug. Der Jivanmukta, der weiß das. Er lebt in den Begrenzungen, in den Upadhis. Er hat das Fahrzeug des Körpers, das Kostüm des Körpers, den Raumanzug des Körpers. Er hat als Rolle die Psyche dabei. Er, der Kontemplative (kontemplativ heißt: er meditiert), der ist Muni (Muni: der Weise); es wird auch gesagt, er ist in Mauna, das heißt, er kann in die Stille gehen, wenn er will, er kann aber auch in die Welt hineingehen. Wir sind dann ein Muni. Ein Jivanmukta ist ein Muni. Er kann jederzeit in die Stille zurückkehren. So wie ein Schauspieler jederzeit: Die Probe ist vorbei, dann ist er wieder ein normales Wesen. Beginnt wieder neu die Probe, tritt er wieder ein in die Rolle. Oder auch die Vorstellung beginnt – man tritt hinein. Die Vorstellung ist vorbei – man geht heraus. So ähnlich auch der Muni: Wenn Dinge zu tun sind, geht man in die Rolle hinein. Und je nach Rolle hat man eine Psyche, die mehr feurig ist, mehr enthusiastisch usw. Ein Muni kann auch verschiedene Rollen annehmen.
Ich habe ja das große Glück gehabt, von einem Meister gelehrt zu werden, Swami Vishnu-devananda. Er konnte so unterschiedlich sein. Am meisten in Erinnerung ist sein Enthusiasmus, seine Herzlichkeit, auch manchmal so ein bisschen leicht cholerisches Temperament. Er konnte aber auch absolut ruhig sein, absolut still sein, absolut kontemplativ. Er konnte auch ganz meditativ zurückgezogen sein. Er konnte aber auch jovial auf andere Menschen zugehen, konnte mit jedem Mensch irgendwie sofort ein Gespräch beginnen, war sofort mit jedem herzlich. Er konnte so viele verschiedene Rollen annehmen. Er hat sich mit keiner identifiziert. So ähnlich der Muni. Er kann jederzeit zurückkehren in die Stille, jederzeit verschiedene Rollen annehmen, in jeder Rolle auch unterschiedliche Persönlichkeiten annehmen.
Sorglos allem gegenüber, sagt er hier. Also, wenn man weiß, ich bin das unsterbliche Selbst, dann ist man sorglos. Wir brauchen uns keine Sorgen darum zu machen, dass wir vielleicht in der Rolle irgendwelche Probleme haben. Angenommen, ein Schauspieler spielt Mutter Courage (Drama von Berthold Brecht), und die Mutter Courage verliert ihre Kinder – es ist ja eine sehr dramatische und tragische Geschichte: sie muss jetzt nicht – der Schauspieler oder die Schauspielerin, die die Mutter Courage spielen – muss jetzt keine Sorgen haben. Zwar in dem Spiel wird sie die Sorgen haben, aber sie weiß dann auch: Ich bin das unsterbliche Selbst. So ähnlich, wenn man jetzt in diesem Körper ist, in dieser Psyche, man wird auch innerhalb dieses Körpers Trauer, Ärger, Angst usw. erfahren können, ausdrücken können. Aber man kann jederzeit die Rolle verlassen und sich wieder erfahren als das unsterbliche Selbst.
Swami Sivananda nannte das ja das Doppelbewusstsein des Jivanmukta. Der Jivanmukta kann die Welt so erleben wie wir. Er weiß aber auch: Ich bin das unsterbliche Selbst. Der Jivanmukta hat die gleichen Gefühle wie andere. Er kann aber auch die Ebene der Gefühle verlassen. Daher ist er in der Tiefe sorglos allem gegenüber, und er zieht umher wie der Wind, vollkommen ungebunden. D. h. der Jivanmukta tut, was zu tun ist. Er erfährt, was zu erfahren ist. Er ist aber ungebunden, er ist nicht verhaftet. So ähnlich – angenommen, du würdest jetzt Mutter Courage spielen in einem Schauspiel: Du musst dann nicht irgendwo verhaftet sein: „Oh, vor dem letzten Akt war es doch viel schöner als jetzt.“ Nein, das Schauspiel geht weiter. Und das was jetzt anliegt, muss gespielt werden. Und das nächste wird auch kommen.
Natürlich, im Unterschied zu einem Schauspieler wissen wir nicht, was als nächstes kommt. Man könnte sagen, wir sind in dieser Welt im Impro-Theater, d.h. Improvisation, wir wissen nicht, was als nächstes kommt. Vielleicht mit dem Unterschied – es ist kein reines Improvisationstheater, sondern es gibt irgendwo einen Schauspieler, einen Direktor des Schauspiels, einen Regisseur, und der plant, was als nächstes kommt, sagt es uns aber nicht. So sind wir Improviseure, wir müssen improvisieren in einem Schauspiel, das schon irgendwo in seinen großen Akten vorgeprägt ist, wir können es aber durch unsere Improvisation weiter prägen, und der Regisseur kann uns auf verschiedene Weisen wieder irgendwie sagen, wie es weitergehen soll. Wir können überlegen: „Was will der Regisseur von uns?“, können dann aber auch aus unserem eigenen freien Willen heraus einiges tun. Wir wissen aber, es ist ein Schauspiel. Deshalb brauchen wir nicht gebunden zu sein. Wir brauchen keine Ängste zu haben. Wir brauchen nicht sagen: „So muss es sein.“
In diesem Sinne: Der Jivanmukta ist ewig frei. Der Jivanmukta weiß: Ich bin das unsterbliche Selbst. Der Jivanmukta weiß: In diesem Schauspiel dieser Welt habe ich eine bestimmte Rolle, dafür habe ich eine Psyche. Ich habe ein bestimmtes Kostüm, dafür habe ich den Körper. Ich habe bestimmtes Dharma, ich habe bestimmte Aufgaben. Ich habe bestimmte karmische Erfahrungen zu machen und habe etwas zu bewirken. Ich tue das, was ich tue, so gut wie ich kann. Ich überlege: Was ist meine Rolle? Ich erfülle sie nach bestem Wissen und Gewissen. Ich weiß, da ist ein höherer Regisseur und der wird mir schon sagen, was zu tun ist. Daher – ich kann das Ganze ganz gelassen machen. Und immer wieder kann ich als Muni, als Weiser, zurückgehen in Mauna, in die Stille. Ich kann immer wieder zwischen einzelnen Akten kurz mir das Unendliche bewusst machen. Und manchmal in dem Schauspiel spielen ja die anderen gerade etwas mehr. Man kann einen Moment lächelnd zur Kenntnis nehmen: Wir sind alle letztlich das gleiche Bewusstsein hinter allen Schauspielern. Man könnte fast noch sagen, es ist wie ein Puppenspiel, wo ein Puppenspieler alle möglichen Puppen dort dirigiert.
Und in diesem Sinne – dieser Körper ist auch wie eine Puppe. Und diese Psyche ist auch wie die Rolle dieser Puppe. Und es ist der gleiche Puppenspieler, der von oben mit irgendwelchen Fäden wie bei der Augsburger Puppenkiste – falls sich jemand noch daran erinnert – wie dieser Puppenspieler die ganzen verschiedenen Puppen irgendwie bedient. In diesem Sinne tun wir, was zu tun ist. Wir sind uns bewusst, wir sind das gleiche Bewusstsein im kosmischen Schauspiel. Wir können unsere Rolle spielen, auch mit Emotionen, auch mit Erfahrungen. Wir können jederzeit aus der Rolle wieder austreten. Und jederzeit uns erfahren als Satchidananda: Sein, Wissen, Glückseligkeit. Noch einmal den Vers auf Deutsch:
Der Weise, der Kontemplative, der jederzeit in die Ruhe gehen kann, lebt in den Upadhis, in den begrenzenden Attributen. Er ist sorglos allem gegenüber. Und er zieht umher wie der Wind, vollkommen ungebunden.
Vielleicht noch eines: Das Großartige am Atma Bodha sind ja die vielen Analogien. Hier wieder die Analogie des Windes. Der Wind bläst immer weiter. Mal wird der Wind gute Gerüche aufnehmen, mal weniger gute, mal gar keinen Geruch. Mal wird es Menschen geben, die über den Wind schimpfen, manche freuen sich darüber. Mal transportiert der Wind Wolken, mal auch nicht, mal Staub. Der Wind transportiert alles, ist aber davon nicht berührt. In diesem Sinne: Der Weise ist wie der Wind – unberührt von allem, aber trägt alles und bewirkt alles.

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